Die achte Reform
In Frankreich wird seit Wochen gestreikt, auch über den Jahreswechsel hielten die Proteste an. Doch Präsident Macron will seine Rentenreform wie geplant durchziehen. Für etliche Berufsgruppen würde dies herbe Einschnitte bedeuten, das Risiko der Altersarmut würde steigen.
von Martine Bulard
Das neue Dogma für die Renten heißt 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diese Zahl wird mittlerweile so häufig beschworen wie bis vor kurzem die 3 Prozent des zulässigen Haushaltsdefizits, die im Maastricht-Vertrag festgeschrieben sind. Nachdem die Schuldengrenze der EU dreißig Jahre lang als Argument gegen sozialen und ökonomischen Fortschritt gedient hatte, wurde sie von Emmanuel Macron selbst infrage gestellt.
Gegenüber dem britischen Economist (7. November 2019) sprach er in seltener Klarheit von einer „überholten Debatte“. Dafür proklamieren Macron, seine Regierung und ihre Fürsprecher jetzt überall diese 14 Prozent für die Rentenreform. Die Gesamtsumme der umlagefinanzierten Renten dürfe das aktuelle Niveau, nämlich diese heiligen 14 Prozent, nicht übersteigen. Aber warum 14 und nicht 15 oder 16 Prozent? Niemand weiß es.
Für Ministerpräsident Édouard Philippe verläuft da eine rote Linie, die man nicht übertreten dürfe, zumal die Deutschen deutlich weniger bekommen. Es stimmt, Deutschland wendet nur 10,1 Prozent des BIPs für Rentenzahlungen auf. Allerdings lebt hier fast jeder fünfte Rentner (18,7 Prozent) unter der Armutsgrenze. In Frankreich sind es 7,3 Prozent. Noch.
Die Obergrenze ist umso zweifelhafter, als die Zahl der Rentnerinnen und Rentner bis 2035 um 2,5 Millionen auf über 18,6 Millionen steigen wird. Deshalb müsste ihnen logischerweise auch ein größerer Teil vom nationalen Wohlstand zustehen. Stattdessen sollen die Renten gekürzt werden, indem man an zwei Stellschrauben dreht: Das Renteneintrittsalter soll erhöht werden und der Betrag, den jeder im Verhältnis zu seinem vorherigen Einkommen erhält, gesenkt werden (Rentenquote).
Das Rentenaufsichtsgremium (COR) macht keinen Hehl daraus: „Das Rentenniveau wird insgesamt sinken. 2018 lag es bei 51,4 Prozent, 2025 wird es bei ungefähr 49,8 Prozent des Durchschnittsgehalts liegen und bis 2030 – je nach Szenario – auf 47,1 bis 48 Prozent sinken.“1 Vor dem ersten Angriff auf die Rechte der Rentnerinnen vor knapp dreißig Jahren lag es im langjährigen Mittel bei mehr als 70 Prozent.
Schon 1991 verwies der damalige sozialistische Ministerpräsident Michel Rocard in seinem „Weißbuch der Renten“ auf die nachdrücklichen Empfehlungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), „die Ausgaben für die Sozialversicherung zu reduzieren“.2 1993 schlug Rocards konservativer Nachfolger Édouard Balladur in dieselbe Kerbe.
Seither gab es einen Rückschritt nach dem anderen: Das offiziellen Renteneintrittsalter wurde von 60 auf 62 Jahre erhöht; die Beitragszeit für eine abschlagsfreie Rente wurde ausgedehnt (von 161 auf womöglich 172 Quartale 2035); die Renten in der Privatwirtschaft werden auf der Grundlage der 25 einkommensstärksten Berufsjahre statt wie bisher der besten 10 Jahre berechnet; der Punktwert, der das Niveau der Zusatzrenten bestimmt, steigt langsamer als bisher; und die Rechte der Angestellten der französischen Staatsbahn SNCF oder der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP) – die „Sondersysteme – werden zunehmend eingeschränkt.
Die Reform des Mitte Dezember zurückgetretenen Rentenbeauftragten Jean-Paul Delevoye ist bereits die achte. Sie setzt die eingeschlagene Richtung fort, will aber die Politik der kleinen Schritte beenden und das System komplett umkrempeln. Trotz der zahlreichen Einschnitte ist das französische Rentensystem bis heute eins der leistungsstärksten und finanziell sichersten, weil es von der Marktentwicklung entkoppelt blieb. Die erfolgreichen Proteste, die vor allem von den Begünstigten der Sondersysteme ausgingen, haben den möglichen Schaden für alle begrenzt. Das ist übrigens auch der Grund, warum die Regierung jetzt gerade mit diesen Sondersystemen aufräumen möchte, obwohl nur 3 Prozent der Beschäftigten unter sie fallen.
Mit der Einführung eines einheitlichen Punktesystems will man die Aufrührer zum Schweigen bringen. Die Rentenhöhe – und ihre mögliche Senkung – würde dann nach einer simplen Formel berechnet: die Zahl der im Arbeitsleben erworbenen Punkte multipliziert mit dem Punktwert zum Zeitpunkt des Renteneintritts. Die Verwalter des Systems (die Sozialpartner unter Kontrolle des Parlaments) könnten entweder den Preis eines Punktes erhöhen (für ein gleichbleibendes Einkommen würde man weniger Punkte bekommen) oder den Wert jedes erworbenen Punktes senken (mit derselben Anzahl von Punkten würde man bei Renteneintritt weniger Geld bekommen). Das Punktekonto wäre individuell. Jeder könnte für sich entscheiden, ob er mit einer geringeren Rente aufhören oder länger arbeiten will oder ob er in eine Zusatzversicherung einzahlt – wenn er es sich denn leisten kann.
Damit würden sich endlich auch neue Perspektiven für die Pensionsfonds eröffnen (siehe Beitrag von Sylvain Leder auf Seite 1). Frankreich liegt in diesem Bereich weit zurück, in Großbritannien zum Beispiel fließt doppelt so viel Geld in private Anlagen. Macron nannte für seine Reformvorhaben das schwedische Modell als Vorbild, in dem Rentenalter und -höhe flexibel sind und das sich auf ein Punktesystem stützt. „Alle Risiken wurden auf die Versicherten übertragen. Das war der Grundgedanke“,3 kommentierte ein schwedischer Rentenexperte den Systemwechsel seines Landes Ende der 1990er Jahre.
Regierungschef Philippe sprach euphemistisch vom „Alter des Gleichgewichts“, nämlich 64 Jahre, das eine abschlagsfreie Rente sichert. Hört man ein Jahre früher auf zu arbeiten, würde die Rente um 5 Prozent gekürzt, bei zwei Jahren entsprechend um 10 Prozent. Das eigentliche Ziel des Punktesystems hatte Macron an einem Tag großer Offenheit selbst verraten: Die Rentenentwicklung trage so automatisch auch der Regression Rechnung.
Darüber empörte sich sogar der Generalsekretär der gemäßigten Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger. Er empfiehlt, die Maßnahmen zurückzuziehen und „einen neuen Lenkungsmechanismus einzurichten, der für ein kurz-, mittel- und langfristiges Gleichgewicht sorgt“.4 Die Renten würden trotzdem gekürzt, aber weniger schnell und brutal.
Bei einem solchen Angebot fragt man sich, warum Philippe hartnäckig an seinen 64 Jahren festhält. Das lässt sich nur mit dem politischen Interesse erklären, Pluspunkte bei der Rechten zu sammeln. Oder aber der Druck der EU-Kommission ist doch um einiges stärker als der der CFDT. Jedes Jahr nimmt sie den französischen Staatshaushalt unter die Lupe – und sie ist nicht zufrieden. Frankreich hat seine Ausgaben nicht ausreichend reduziert. Deshalb verlangt die Kommission unter anderem „die Angleichung der verschiedenen Rentensysteme im öffentlichen und privaten Sektor, die bis 2022 Einsparungen von über 5 Milliarden Euro ermöglichen würden“.5
Das ist das eigentliche Ziel dieser Reform. Um sie durchzusetzen, beruft sich die Regierung auf die Ungerechtigkeit des aktuellen Systems, vor allem für prekär und geringfügig Beschäftigte. Die Frage ist, warum man diese nicht auch im aktuellen, auf Beitragsjahren beruhenden System besserstellen kann. Heute muss man 150 Arbeitsstunden nachweisen, damit ein Quartal anerkannt wird; stattdessen könnte man sehr viel weniger veranschlagen und gegen Kurzarbeitsverträge kämpfen.
Wenn man die Rentenansprüche anhand der gesamten Berufstätigkeit – und nicht mehr anhand der besten 25 Jahre in der Privatwirtschaft beziehungsweise mit 75 Prozent des letzten Einkommens im öffentlichen Sektor – berechnet, wird das neue System gerade jene bestrafen, deren Lebenslauf Lücken aufweist oder die am Anfang ihrer Berufstätigkeit wenig verdient haben. Vor allem Frauen würden nach Schätzung des Institut de la protection sociale (IPS) durch diese Regelung verlieren.6
Eine garantierte Grundrente von 1000 Euro und später 85 Prozent des Mindestlohns (Smic) ist umso wünschenswerter, als sie schon 2003 beschlossen, aber nie umgesetzt wurde. Von ihr profitieren jedoch nur Personen mit ununterbrochener Berufstätigkeit, und es ist undurchsichtig, wie viele Punkte man braucht, um ein Anrecht darauf zu erwerben.
Die Grundphilosophie dieser Reform besteht darin, kollektive Rechte auszuhöhlen und den Individualismus zu fördern. Besonders extrem stellt sich die Situation für Lehrkräfte dar. Diejenigen, die vor ihrer Pensionierung an Schulen tätig waren, würden laut Gewerkschaften 300 bis 600 Euro weniger im Monat erhalten. Ab 2021 will Finanzminister Bruno Le Maire zwar 400 bis 500 Millionen Euro zur Kompensation einsetzen – was 32 bis 35 Euro pro Monat und Lehrer entspricht. Dieses Versprechen hat Philippe jedoch mit einem umfassenden Plan zur „Umgestaltung der Entlohnung, der Laufbahn und der Arbeitsorganisation“ im Verlauf der nächsten zehn Jahre verbunden.
Mit der beschlossenen Reform des Abiturs, die die Fächerwahl und das Prüfungsverfahren für die Schülerinnen individualisiert, wird auch der Lehrerberuf einer Individualisierung, sprich Flexibilisierung unterzogen. Einige Lehrer werden zu Dienstleistern degradiert, die mal hier und mal dort unterrichten. Kein Wunder, dass die Regierung die Prämien nur an Lehrkräfte zahlen will, „die bereit sind, regelmäßig die Einrichtung zu wechseln“.7
Auf ähnliche Weise wurde auch das Gesundheitswesen umgekrempelt. Die staatliche Krankenversicherung erstattet immer weniger Kosten, sodass der Kauf einer Brille oder der Besuch beim Zahnarzt heute zum Luxus werden, den sich manche nicht mehr leisten können. Die Regierung hätte eine geringe, für alle verpflichtende Erhöhung der Beiträge zur Sozialversicherung beschließen können. Stattdessen verpflichtet sie die Versicherten zu Beitragszahlungen an eine Zusatzversicherung, deren Deckungsniveau vom Portemonnaie des Einzelnen abhängt: je reicher, desto besser die Versorgung.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es auch auf dem Gebiet des Arbeitsrechts: Mit der von der Gewerkschaft CFDT gutgeheißenen, wenn nicht gar entworfenen Arbeitsmarktreform wird der kollektive Schutz zugunsten individueller Arbeitsverträge aufgeweicht. Daraus resultiert de facto eine Lockerung des Kündigungsschutzes und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen.
Noch brutaler geht die Regierung gegen die Rechte der Arbeitslosen vor. Mit einer Senkung des Arbeitslosengelds will sie 1 bis 1,3 Milliarden Euro einsparen. Arbeitssuchende sollen dazu gezwungen werden, jede ihnen angebotene Stelle anzunehmen. Am Ende des dritten Quartals 2018 bekamen nur 42 Prozent der 6,6 Millionen registrierten Arbeitslosen tatsächlich Arbeitslosengeld.8 Sogar CFDT-Chef Berger sprach von einem „Gemetzel“. Die seit dem 1. November geltenden Gesetze werden noch mehr Arme hervorbringen. Gleichzeitig werden die Arbeitgeber profitieren, denn sie enthalten ebenfalls eine Senkung des Arbeitgeberanteils bei den Lohnnebenkosten.
Um die Solidarität zwischen den Betroffenen zu brechen, will die Regierung mit Gewalt ein Grundrezept durchsetzen: Der öffentliche Bereich wird zusammengespart, und es wird erklärt, das Heil liege im Privaten: das angelsächsische Modell in all seinem Glanz. Man muss nur das Volk von den Vorteilen überzeugen. Das ist allerdings noch nicht gelungen.
2 „OECD Economic Surveys: France“, OECD, 1991.
5 „Länderspezifische Empfehlungen des Rates der Europäischen Union“, Brüssel, 23. Juli 2018.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz