Wer hat das Sagen in Mexiko?
Präsident López Obrador will das Land umkrempeln – und stößt dabei viele vor den Kopf
von Luis Alberto Reygada
Als Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo, im Dezember 2018 sein Amt antrat, stellte ihn die britische Wochenzeitung The Economist als den „mächtigsten mexikanischen Präsidenten seit Jahrzehnten“ vor. Nach zwei vergeblichen Kandidaturen 2006 und 2012 konnte er endlich einen bahnbrechenden Sieg feiern.
Die Wahlen am 1. Juli 2018 gewann er mit 53 Prozent der Stimmen, und die von seiner Partei Morena (Bewegung der Nationalen Erneuerung) angeführte Koalition errang die absolute Mehrheit in beiden Kammern des Nationalparlaments sowie in 19 der 27 neu gewählten Parlamente der Bundesstaaten. Damit hatte er die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern und große Reformen durchzusetzen.
Amlo versprach eine „vierte Transformation“ Mexikos – eine Wende, ebenso bedeutend wie die Erlangung der Unabhängigkeit 1821, die Zeit der Modernisierung unter Benito Juárez (1855–1863) und die Revolution (1910–1917). „Das ist nicht nur der Beginn einer neuen Regierungszeit: Wir erleben heute einen Regimewechsel“, erklärte er bei seinem Amtsantritt.
López Obrador wollte nicht im prächtigen Präsidentenpalast wohnen, sondern daraus ein Kulturzentrum machen. Außerdem verkaufte er die Flugzeuge und die Dienstfahrzeugflotte des Staatschef. Die Stunde der „republikanischen Sparsamkeit“ hatte geschlagen: Hohe Beamte, die in Mexiko bislang besonders komfortabel gelebt hatten, wurden auf Diät gesetzt, die Bezüge des Präsidenten selbst um 30 Prozent gekürzt, Amlo fliegt jetzt nur noch Economy Class auf Linienflügen. Der Mindestlohn wurde dagegen um 16 Prozent angehoben.
Zudem stellte der umtriebige Präsident ein neues Sozialprogramm vor: Stipendien von der Vorschule bis zur Universität, Unterstützung für Auszubildende und Behinderte, Subventionen für Kleinbauern, Verdopplung der Renten für die Alten, Mikrokredite für Kleinhändler und Handwerker. Nach wenigen Monaten verkündete die Regierung, von den neuen Programmen würden bereits 15 Millionen Menschen profitieren.
In einem Land mit 126 Millionen Einwohnern, von denen 43,6 Prozent unterhalb der Armutsgrenze leben und 60 Prozent der Erwerbstätigen im informellen Sektor beschäftigt sind, wurden die Maßnahmen des Präsidenten von vielen begrüßt. Der gibt sich große Mühe, mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen: Jeden Morgen um 7 Uhr stellt sich Amlo in einer Pressekonferenz den Fragen der Journalisten und verhindert so, dass seine Gegner, die Medien in Privatbesitz, ihm zuvorkommen.
Diese Methode hatte er bereits als Bürgermeister von Mexiko-Stadt von 2000 bis 2005 erfolgreich erprobt. Seine „Matinees“ stützen das Image des unermüdlichen, zugänglichen und um Transparenz bemühten Staatschefs; seine Beliebtheitswerte erreichen über 70 Prozent.1
Als er die Bilanz seiner ersten 100 Tage im Amt vorstellte, erklärte Amlo, er habe bereits 62 der 100 Versprechen seiner Antrittsrede erfüllt. Einige Verfassungsreformen werden derzeit noch geprüft, vor allem die zur Förderung der direkten Demokratie oder das Absetzungsreferendum nach drei Jahren der sechsjährigen präsidialen Amtszeit. Drei Verfassungsänderungen wurden bereits verabschiedet, in einer geht es um unrechtmäßig erworbene Güter, die andere erklärt Korruption und Wahlfälschung fortan zu schweren Straftaten. Mit beiden sind natürlich alle einverstanden.
Die dritte aber ist umstritten: Verschiedene Abteilungen der Militärpolizei werden zu einer neuen Nationalgarde vereinigt, die die Unsicherheit im Land bekämpfen soll. Das stärkt die Rolle der Armee bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung; sie soll die in Verruf geratene lokale Polizei unterstützen. Die Reform wird von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt.
Aber der Präsident, der im Wahlkampf versprochen hatte, die Soldaten von den Straßen zu holen, musste auch viel Kritik einstecken – vor allem von Menschenrechtsorganisationen, die eine dauerhafte Militarisierung des Landes befürchten. López Obrador gelang es jedoch, sich die Zustimmung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte für sein Vorhaben zu sichern. Seine Befriedungsstrategie beruhe nicht auf einem Krieg gegen die Narcos, die mächtigen Drogenbosse, versicherte Amlo. Sie setze vielmehr darauf, die sozialen Probleme anzugehen, die zu Kriminalität führen.
Für Frieden mit den Narcos braucht es mehr als ein Gesetz
Im Bereich Infrastruktur und Entwicklung wurden (nach einem Baustopp des teuren neuen Hauptstadtflughafens) große Vorhaben im armen Süden und Südosten Mexikos angekündigt. Bei den dortigen Gouverneuren und Unternehmern sowie einem Teil der Bevölkerung gab es dafür viel Applaus. Die Regierung lancierte etwa den Bau einer 1500 Kilometer langen Eisenbahntrasse – der sogenannten Maya-Bahn –, die die wichtigsten Touristenattraktionen auf der Halbinsel Yucatan miteinander verbinden und die örtliche Wirtschaft fördern soll. Umweltschützer reagierten jedoch besorgt, denn die Trasse soll mehrere Naturschutzgebiete durchqueren und Umsiedlungen mit sich bringen.
López Obrador will einen starken Staat als wirtschaftlichen Akteur. Zur Rettung der beiden größten staatlichen Energieversorger Comisión Federal de Electricidad (CFE) und Petróleos Mexicanos (Pemex) hat er einen Plan aufgelegt. Vor allem Letzteren will er wieder neu beleben, nachdem der Ölriese bis vor Kurzem nur noch Rohöl aus den USA importierte.
Amlos Ziel ist es, das Land bis 2022 in die Energieunabhängigkeit zu führen, und Pemex soll der Motor dieser Entwicklung sein. Das ist eine 180-Grad-Wende gegenüber der Privatisierungspolitik seines Vorgängers Enrique Peña Nieto.2 Ein Schlüsselelement dieser Strategie ist eine neue Ölraffinerie in Tabasco, dem Heimatstaat des Präsidenten, deren Bau im Juni 2019 angekündigt wurde.
Dieser Wandel geht natürlich nicht reibungslos vonstatten. Im Januar 2019 verfügte die Regierung eine mehrtägige Stilllegung sämtlicher Pipelines, um das illegale Abzapfen zu stoppen, durch das der Staat allein im Jahr 2018 etwa 3 Milliarden Dollar verloren hatte. Wegen schlechter Planung führte diese drastische Maßnahme jedoch zu Benzinknappheit im ganzen Land – und zu einiger Unzufriedenheit.
Auch die im April begonnene Umstrukturierung des Gesundheitssystems läuft nicht ohne Hindernisse. Sie zielt vor allem auf das Geschäft mit Medikamenten – ein Markt mit einem jährlichen Volumen von 4,5 Milliarden Dollar und entsprechendem Betrugspotenzial. Durch das Kräftemessen mit Pharmalabors und Lieferanten waren für mehrere Wochen Medikamente knapp. Und wieder wurden die allzu spontanen Entscheidungen der Regierung kritisiert.
Im Mai trat der Leiter der mexikanischen Sozialversicherung von seinem Posten zurück, um gegen die Budgetkürzungen zu protestieren. Der strenge Plan zur Ausgabenkürzung beschränkte sich nämlich nicht darauf, die Exzesse der Vergangenheit rückgängig zu machen: Tausende Mitarbeiter im öffentlichen Dienst wurden entlassen, was zu Verbitterung und Durcheinander in der Verwaltung führte, einige Dienststellen mussten sogar geschlossen werden.
López Obradors eigentliche Probleme gehen jedoch viel tiefer und lassen sich in einer Frage zusammenfassen: Hat man in Mexiko wirklich die Macht, nur weil man die staatlichen Institutionen beherrscht?
Im Hinblick auf die Sicherheitspolitik musste die neue Regierung sehr schnell die bittere Erfahrung machen, dass der Krieg gegen die Drogenkartelle nicht von heute auf morgen per Gesetz beendet werden kann. Um mit den Narcos Frieden zu schließen, bräuchte es sehr viel mehr. Nach zwölf Jahren, in denen das Land durch die Hölle gegangen ist, steigt die Anzahl der Gewaltdelikte weiterhin an – allein in der ersten Jahreshälfte 2019 um 2,9 Prozent. Aktivisten fordern mittlerweile sogar den Einsatz von Blauhelmsoldaten zum Schutz der Bevölkerung.
Was die mexikanische Wirtschaft betrifft, die in den letzten Jahrzehnten zur industriellen Werkbank der USA umgebaut wurde, so wirkt sie wie eine US-amerikanische Exklave. 80 Prozent der mexikanischen Exporte gingen 2017 zum großen Nachbarn im Norden, so dass sich das Land in einer extremen wirtschaftlichen Abhängigkeit befindet.
Trumps Erpressung funktionierte bestens
US-Präsident Donald Trump drohte Ende Mai 2019, die Zölle anzuheben, sollte Mexiko nicht die Flüchtlingswelle aus Zentralamerika stoppen. Die Erpressung funktionierte bestens: Außenminister Marcelo Ebrard fuhr nach Washington und erklärte, sein Land werde 6000 Soldaten an der Südgrenze zu Guatemala stationieren. In der Morena-Partei und der Linken insgesamt provozierte dieses Vorhaben heftige Kritik: Die mexikanische Armee erniedrige sich zu einem Subunternehmen der United States Border Patrol.
Die Übergriffigkeit des nördlichen Nachbarn ist jedoch nicht die größte Gefahr, die Mexiko droht. Bereits am Tag der Präsidentenwahl, am 1. Juli 2018, schrieb das Wall Street Journal: „Tag für Tag werden die Finanzmärkte über den Devisenmarkt und den Kurs des Peso ihre Stimme für oder gegen die Regierung abgeben.“
Amlo ist sich der Macht der Märkte bewusst. Im Wahlkampf war sein Chefökonom (und späterer Finanzminister) Urzúa Macías mit weißer Fahne durch die Welt gereist, um allen – vom Vorstandsvorsitzenden von BlackRock über Beamte des US-Finanzministeriums bis zu den Vertretern Dutzender Investmentfonds – eine Botschaft zu übermitteln: „Wir sind keine Linken, sondern Sozialdemokraten.“3
In seiner Siegesrede am Wahlabend gab sich López Obrador ebenfalls gemäßigt: Er versprach, die Haushaltsdisziplin aufrechtzuerhalten und die Autonomie der Zentralbank ebenso zu achten wie alle Verpflichtungen gegenüber nationalen und internationalen Unternehmen und Banken. „Wir werden nicht willkürlich handeln; es wird keine Beschlagnahmungen oder Enteignungen geben“, betonte er.
Der erste Warnschuss fiel jedoch bereits am 29. Oktober 2018, als der neue Präsident noch nicht einmal im Amt war. Nach öffentlichen Beratungen sagte er das Bauprojekt für den Neuen Internationalen Flughafen von Mexiko ab, das er bereits im Vorfeld stark kritisiert hatte. Dieses Megaprojekt, das bereits zu einem Drittel umgesetzt ist, hält er für überflüssig, für zu teuer (mit über 13 Milliarden Dollar) und für einen ökologischen Irrtum.
Am nächsten Tag fiel der mexikanische Börsenindex um 4,2 Prozent und der Peso verlor 3,6 Prozent gegenüber dem Dollar. Die Medien warfen López Obrador vor, die Investoren verschreckt zu haben. Der fragte daraufhin öffentlich: „Kann man sich ernsthaft vorstellen, dass der mexikanische Staat den Finanzmärkten untergeordnet ist? Wer entscheidet? Ist es nicht das Volk, ist es nicht die Demokratie?“
In den folgenden 48 Stunden stufte die Ratingagentur Fitch Mexiko von „stabil“ auf „negativ“ herunter, und ein Analyst der Ratingagentur Moody’s erklärte, die Entschlossenheit des künftigen Präsidenten sende ein negatives Signal, das „abschreckend für mittelfristige Investitionen“ wirke und das Wirtschaftswachstum verlangsame.
Nach einem Jahr haben die Sparmaßnahmen und die Unsicherheit der Investoren mit voller Wucht auf die wichtigsten Indikatoren durchgeschlagen. Mit einem Nullwachstum des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Trimester 2019 befindet sich Mexiko fast schon in der Rezession, und in der ersten Hälfte 2019 erlebte die Wirtschaft das schlechteste Halbjahr seit der Wirtschaftskrise von 2008. Im gleichen Zeitraum haben Unternehmen und Bürger fast 9 Milliarden Dollar ins Ausland transferiert.4 Im Juli 2019 trat Finanzminister Urzúa Macías zurück und warf dem Präsidenten „Dilettantismus“ vor.
Doch Amlo ist starrköpfig. Er sei kein Fan der Wirtschaft, gestand er einem Journalisten von Bloomberg: „Ihre Rolle wurde lange Zeit übertrieben, alles andere war ihr untergeordnet.“5 Das Kräftemessen geht weiter.
1 Leo Zuckermann, „La popularidad de AMLO y los resultados“, Excelsior, Mexiko, 9. Oktober 2019.
2 Siehe Jean-François Boyer, „Der Pakt für Mexiko spaltet die Linke“, LMd, März 2014.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Luis Alberto Reygada ist Journalist.