09.01.2020

Bolivien träumt vom Lithium

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Bolivien träumt vom Lithium

von Maëlle Mariette

Marco Antonio Pumari und Luis Fernando Camacho feiern das Aus für das Lithiumprojekt DAVID MERCADO/reuters
Bolivien träumt vom Lithium
Kasten: Potosí und der Staatsstreich

Auf der einen Seite eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, auf der anderen Seite eine Spitzentechnologie, die keine Nation des globalen Südens beherrscht: Nichts ließ vermuten, dass Bolivien eines Tages den Ehrgeiz entwickeln würde, ein Hauptakteur auf dem inter­na­tio­nalen Lithiummarkt zu werden.

Das Alkalimetall ist unabdingbar zur Herstellung der derzeit gängigen Akkus – vom Handy bis zum Elektroauto. Die Entdeckung eines der weltweit größten Vorkommen dieses „weißen Goldes“ im Salar de Uyuni, einer riesigen Salzpfanne im Westen des Landes, hätte zu den üblichen Konsequenzen führen können: dass internationale Konzerne Boliviens Bodenschätze ausbeuten. Doch Präsident Evo Morales, der 2006 zum ersten Mal gewählt und durch einen Staatsstreich1 im November 2019 gestürzt wurde, hatte einen anderen Plan.

Ein eisiger Wind fegt über den Salar de Uyuni, als wir im Sommer 2019 vor dem Industriekomplex von Llipi stehen, in dem Lithiumkarbonat und Ka­lium­chlorid hergestellt werden. Die vom Staat erbaute Pilotanlage für Li­thium­ab­bau und -verarbeitung soll Bo­li­vien zu einem „Saudi-Arabien des Li­thiums“ erheben.

Es gibt weltweit nur wenige Salzpfannen, in denen man Lithium abbauen kann, und der Bedarf an diesem Rohstoff wächst derzeit rasant. Jedes Smartphone enthält 2 bis 3 Gramm davon, ein Elektroauto etwa 20 Kilogramm. Heute sind 4 Millionen solcher angeblich nachhaltigen Fahrzeuge unterwegs, nach Schätzungen sollen es bis 2040 etwa 260 Millionen sein.

Die globale Lithiumnachfrage, die 2018 bei 300 000 Tonnen lag, könnte damit im Verlauf der nächsten zehn Jahre auf 1 Million Tonnen pro Jahr steigen.2 In den letzten drei Jahren haben sich die Preise vervierfacht, 2018 lagen sie bei 20 000 Dollar pro Tonne, bevor sie 2019 wieder zurückgingen. Die Sole unter dem 10 000 Qua­drat­kilometer großen Salar de Uyu­ni soll 21 Millionen Tonnen Lithium enthalten,3 ein unglaublicher Reichtum. Doch wer wird davon profitieren?

Seit der spanischen Kolonialherrschaft, als Millionen Indigene in den Silberminen von Potosí starben, bis zum Ende des 20. Jahrhunderts haben die Menschen vor Ort nie von den Bodenschätzen ihres Landes profitiert. Ausländischen Minenbetreibern bescherte der Abbau von Gold, Wolfram oder Zink jedoch riesige Vermögen. „Wir wollen uns auf keinen Fall wieder ausrauben lassen“, erklärte Morales bei seinem Amtsantritt 2006. Ein Fernziel seiner Wirtschaftspolitik war die vollständige Nationalisierung des Bergbaus. Und das Lithium wollte er nicht mehr im Rohzustand exportieren, sondern vor Ort Akkus bauen und damit den Mehrwert der Verarbeitung abschöpfen.

Wenn Bolivien das gelänge, wäre es der entscheidende Schritt hinaus aus einer extraktivistischen Wirtschaft; der Andenstaat wäre eines der wenigen Länder des globalen Südens, das die gesamte Wertschöpfungskette beherrscht: vom Abbau des Rohstoffs (Behandlung der Sole), der Herstellung der Basiskomponenten (Lithiumkarbonat, aber auch Kaliumchlorid, das beim Lithiumabbau anfällt und als Dünger verwendet wird) über die Fertigung von Zwischenprodukten (Lithiumelektroden sowie Elektrolytlösungen) bis zum Endprodukt (Lithium-Ionen-Akkus).

Im Jahr 2008 hatte die Regierung einen Plan zur industriellen Nutzung von Evaporiten (durch Verdunstung gelöste Mineralien) unter der Ägide des staat­lichen Lithium-Unternehmens YLB (Yacimientos de litio bolivianos) erarbeitet – damit war vor allem Lithium gemeint, aber auch andere in der Sole gelöste Elemente wie Kalium und Bor.

„Wir wollen sicherstellen, dass die Rohstoffe von Staatsbetrieben abgebaut werden“, erläuterte uns im Sommer 2019 der damalige stellvertretende Minister für Energietechnik, Luis Al­ber­to Echazú, der das Projekt seit seinen Anfängen begleitet. Es ging darum, eine eigene Technologie zu entwickeln, um nicht von Multis und ausländischen Patenten abhängig zu sein. Dazu stellte der Staat fast 1 Milliarde Dollar zur Verfügung, eine der höchsten Investitionssummen in der Geschichte des Landes.

Doch das Geld war längst nicht das größte Problem. „Technologisch mussten wir praktisch bei null anfangen“, berichtete Echazú. „Nur an zwei unserer Universitäten gab es Chemielabors, die schon einmal mit solchen Metallen gearbeitet hatten“, ergänzt Oscar Mamani, Betriebsleiter in Llipi, der – wie auch andere bolivianische Inge­nieu­re – eigens für dieses Projekt aus dem Ausland zurückgekehrt ist. „Wir haben die wissenschaftliche Literatur durchforstet und herumexperimentiert, ohne Hilfe von außen. Eigentlich sind wir alle Forscher geworden.“

In Llipi wird das Lithium in Li­thium­karbonat „in Handelsqualität“ umgewandelt. 200 Kilometer weiter, in La Palca, wird dieses Karbonat zur Herstellung von Elektroden genutzt, die anschließend in den Lithiumbatterien verbaut werden. Diese letzte Etappe, die Herstellung des fertigen Konsumguts, ist die schwierigste. „Das war eine riesige Herausforderung“, meint Marcelo Gonzales, Direktor der Pilotfabrik. „Wir sind hier nicht nur die einzige Akkufabrik in ganz Lateinamerika, wir mussten auch das gesamte Personal selbst ausbilden!“

Der Milliardenschatz in der Salzpfanne

Neben dem Kauf der nötigen Anlagen, die in Japan, Europa oder den USA hergestellt werden, mussten auch die nötigen Kenntnisse vermittelt werden, um die Maschinen überhaupt zu nutzen. Wie Marcelo Saique, der Leiter des Forschungszentrums, der zuvor in Bra­si­lien gelebt hat, müssen auch die Arbeiter ins Ausland reisen, um Fortbildungen zu absolvieren, die es in Bo­li­vien nicht gibt. Mit einem staatlichen Stipendienprogramm konnten sich die Forscher in strategischen Industriesektoren wie der Lithiumbearbeitung weiterbilden.

Doch Bolivien ist keine Insel. Gerade zur Umsetzung der wirtschaftlichen Unabhängigkeitsbestrebungen braucht es die Verbindung zu den multinationalen Konzernen, die den Zugang zu bestimmten Technologien und Märkten kontrollieren. Bolivien musste also Partner finden, die sich nicht als Befehlshaber aufspielen würden. Der stellvertretende Minister Echazú zählte fünf Bedingungen für künftige Partner von YLB auf: Sie sollten eine Mehrheitsbeteiligung des bolivianischen Staats akzeptieren, die Verarbeitung des Lithiums bis zu einer hochwertigen Produktpalette sicherstellen, finanzielle Investitionen mitbringen, den Zugang zu ausländischen Märkten ermöglichen und einen Technologie- und Wissenstransfer erlauben.

Japanische, chinesische, südkoreanische und französische Unternehmen bekundeten ihr Interesse, doch die Verhandlungen gestalteten sich kompliziert, wie etwa mit dem französischen Konzern Bolloré. „Vincent Bolloré kam 2008 nach Bolivien“, erzählt uns der Ökonom Óscar Vargas Villazón, der damals die Delegation des französischen Unternehmers empfing. „Er traf sich mit Evo Morales und lud ihn nach Paris ein. Wir haben seinen Vorschlag aufmerksam studiert, aber seine herablassende Kolonialherrenart hat uns nicht gefallen.“

Bolloré ging schließlich nach Argentinien, wo ihm die Bedingungen besser gefielen: private Konzessionen, Steuervorteile, keine strengen Umweltgesetze. Auch zahlreiche andere Multis wollten nicht von ihrem Geschäftsmodell abweichen. Im August 2019 schloss die bolivianische Regierung schließlich eine Partnerschaft mit dem chinesischen Konsortium Xinjiang TBEA Group-Baocheng, um die Salare von Coipasa und Pastos Grandes zu erschließen. Das Abkommen sah auch den Bau einer Fabrik für Lithium-­Ionen-­Akkus in China unter Beteiligung von YLB vor.

Die größte Hoffnung aber ruhte auf der deutschen Firma ACI Systems aus Baden-Württemberg, mit der das erste Joint Venture, YLB-Acisa, im Dezember 2018 gegründet wurde. Es sollte den Bolivianern den europäischen Markt eröffnen und den Bedarf der deutschen Automobilindustrie decken, die selbst keine Akkus herstellt. Bis Anfang 2024 wolle man die ersten Batterien nach Deutschland schicken, erklärte Echazú noch Anfang 2019.

Wenige Monate später war seine Begeisterung verflogen: „Die Deutschen wollen hier keine Batterien mehr produzieren, weil das nicht rentabel sei.“ Um in Bolivien Akkus herzustellen, muss man in der Tat alle weiteren Bestandteile importieren. Aufgrund der mangelnden Infrastruktur braucht es viel Zeit, um die Produktion vor Ort mit allen nötigen Anlagen aufzubauen. Hinzu kommen die Transportkosten aus einem Land ohne Meerzugang.4

Der bolivianische Wirtschaftswissenschaftler Juan Carlos Zuleta, der in Chile der nationalen Lithium-Kommission angehört und auch den Bürgerrat von Potosí (siehe Kasten links) berät, glaubt, dass es keinen Zweck habe, das Lithium in Bolivien zu verarbeiten. Man werde die nötigen Patente nicht bekommen. „Nur die USA verfügen über diese Technologie.“

Evo Morales hatte sein Vorhaben zu Abbau und Verarbeitung von Li­thium als Werkzeug zur „Verteidigung der nationalen Souveränität“ betrachtet. „Uns ist klar, dass auf Bolivien starker Druck ausgeübt werden wird“, erklärte uns Echazú vor fünf Monaten. „Wenn die Rechte wieder an die Macht kommt, wird es natürlich einfacher für die Multis. In Bolivien war die Rechte immer für die Privatisierung.“ Es bestehen wenig Zweifel, dass die neue Regierung nach den für den 3. Mai angesetzten Wahlen diesen Weg einschlagen wird.

1 Siehe Renaud Lambert, „Das Ende der Ära Morales“, LMd, Dezember 2019.

2 Die Autoindustrie forscht zunehmend auch in Richtung anders zusammengesetzter, leichterer Batterien als das Lithium-Ionen-Modell, doch für die nächsten 15 Jahre wird Lithium wohl unumgänglich sein.

3 Nach einer hydrologischen Modellrechnung des US-Unternehmens SRK vom Februar 2019.

4 Siehe Cédric Gouverneur, „Bolivien schaut zum Meer“, LMd, September 2015.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Maëlle Mariette ist Journalistin.

Potosí und der Staatsstreich

von Maëlle Mariette

Ob der Staatsstreich in Bolivien mit den großen Lithiumressourcen des Landes in Zusammenhang steht oder nicht, kann derzeit niemand beweisen. Es gibt jedoch Stimmen innerhalb der lateinamerikanischen Linken (wie die von Uruguays Ex-Präsident Mujica), die das für wahrscheinlich halten.

Klar ist, dass der Bürgerrat von Potosí (Comité Cívico Potosinista, Comcipo), ein Zusammenschluss von mehreren zivilgesellschaftlichen und indigenen Organisationen unter dem Vorsitz von Marco Antonio Pumari, bei den Protesten gegen Präsident Morales eine zentrale Rolle gespielt hat. Seit das Joint Venture zwischen der deutschen Firma ACI Systems und dem bolivianischen Lithium-Staatsunternehmen YLB im Dezember 2018 mit dem Dekret 3738 beschlossen wurde, wehrte sich der Bürgerrat im Fördergebiet von Potosí vehement gegen die getroffenen Vereinbarungen, die die Ausbeutungsrechte für 70 Jahre festschreiben.

Den Gemeinden standen laut Vertrag nur 3 Prozent Tantiemen aus der Lithium­ver­marktung zu, während in Ar­gen­ti­nien und in Chile 8 bis 10 Prozent gezahlt werden. Außerdem wurde befürchtet, dass die versprochenen hohen Umweltstandards nicht eingehalten würden.

Vor dem Hintergrund der Geschichte von Potosí, wo über Jahrhunderte auf brutale Weise ohne Rücksicht auf Arbeiter und Umwelt Silber abgebaut und außer Landes geschafft wurde, ist das Misstrauen gegenüber ausländischen Förderunternehmen nur allzu verständlich. Der Argwohn wurde noch dadurch befeuert, dass der Vertrag nicht in allen Details öffentlich gemacht wurde.

Trotz der monatelangen Proteste und Streiks in Potosí, vor allem um den Wahltermin vom 20. Oktober 2019, wurde das Joint Venture noch am 28. Oktober in das Handelsregister eingetragen. Am 5. November aber widerrief Präsident Morales, der nach dem umstrittenen Wahlergebnis massiv unter Druck stand, das Dekret, das dem Vertrag zugrunde lag.

Marco Antonio Pumari feierte die Aufkündigung des Vertrags als einen Sieg des Volkes und verlangte eine künftige Gewinnbeteiligung von 11 Prozent. Morales aber konnte sich mit seinem späten Einlenken nicht mehr retten, am 11. November musste er zurücktreten und außer Landes fliehen. Pumari stand auf der Seite des neuen starken Mannes der Ultrarechten, Luis Fernando Camacho, der bei dem Staatsstreich eine zentrale Rolle spielte. Die beiden Männer, der Indigene Pumari und der Rassist Camacho, traten demonstrativ gemeinsam auf – mit Blumenketten um den Hals.

Zunächst erklärte sich Pumari bereit, bei den für kommenden März angekündigten Neuwahlen an der Seite Camachos als dessen Vize ins Rennen zu gehen. Inzwischen sind die beiden jedoch zerstritten. Es kursieren Gerüchte, Pumari habe von Camacho eine Viertelmillion Dollar und einträgliche Posten als Gegenleistung für seine Unterstützung verlangt. Der Bürgerrat von Potosí beschloss am 7. Dezember, dass Pumari sich selbst um die Präsidentschaft bewerben soll.

⇥Katharina Döbler

Le Monde diplomatique vom 09.01.2020, von Maëlle Mariette