Sie sind viele, und sie sind laut
Wie auch immer die algerischen Präsidentschaftswahlen am 12. Dezember ausgehen – die friedlichen Proteste gegen das Regime, die seit Februar das Land in Atem halten, werden weitergehen.
von Arezki Metref
Algier, 1. November 2019. Zu Zehntausenden strömen die Demonstranten aus den höher gelegenen Vierteln in die Rue Didouche Mourad im Zentrum. Die Hauptverkehrsader wird von einem Farbenmeer aus grün-weiß-roten Hüten, Schals und Spruchbändern schier überschwemmt. Selbst das Brummen der Polizeihubschrauber wird von den Massen übertönt, die lauthals ihre Ablehnung der Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember kundtun. Auch Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah – seit dem Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika am 2. April der neue starke Mann des Regimes1 – wird aufs Korn genommen. Er soll zurücktreten, rufen sie, genauso wie Interimspräsident Abdelkader Bensalah und Premierminister Noureddine Bedoui.
„Ein freies und demokratisches Algerien“, „einen zivilen, nicht militarisierten Staat“, „Bei Gott, wir geben nicht auf“, „Ihr habt das Land ruiniert, ihr Diebe!“, „Gebt unsere Kinder frei, ihr Feiglinge“, „Kein Dialog mit der Mafia, keine Wahlen“ – so lauten die Slogans der „Hirak“ (Bewegung) – der Begriff wird für den Aufstand in Algerien ebenso verwendet wie für die aktuellen Proteste im Libanon. Es wird aber auch gesungen, zum Beispiel „Liberté“ von Rapper Soolking und „La Casa del Mouradia“, die Protesthymne der jungen Fußballfans im Stadion.2
Die Bezüge zum antikolonialen Kampf der 1950er und 1960er Jahre sind allgegenwärtig: Man beruft sich etwa auf Ali La Pointe (1930–1957), den jungen Helden der Schlacht von Algier 1957, skandiert „Istiqlal! Istiqlal!“ (Unabhängigkeit) oder „Die Generäle in die Tonne, Algerien bekommt seine Unabhängigkeit“.
Dieser 37. Protestfreitag in Folge fällt auch noch auf den 65. Jahrestag des Aufstands gegen die Kolonialmacht Frankreich, der am 1. November 1954 begann und im März 1962 mit der Unabhängigkeit Algeriens endete. Um die Demonstrationen in Algier in Schach zu halten, versucht das Regime seit dem Sommer die Protestierenden aus den anderen Teilen des Landes daran zu hindern, in die Hauptstadt zu kommen. Die Polizei und Gendarmerie haben an den Einfahrtstraßen Checkpoints errichtet und kontrollieren die Ausweise. Wer außerhalb Algiers wohnt oder ein Nummernschild aus einer anderen Region hat, muss wieder umkehren.
Viele nehmen deshalb Dutzende Kilometer Fußmarsch in Kauf, um die Sperren zu umgehen und sich an den Protesten zu beteiligen. Andere kommen über das Wasser und werden schon „Inlands-Harragas“ genannt, in Anspielung auf die Geflüchteten, die mit behelfsmäßigen Booten versuchen, Europas Küsten zu erreichen. Das Regime, das nicht davor zurückschreckt, das Internet zu zensieren, um die Liveübertragung der Protestmärsche zu unterbinden, organisierte zudem Gegendemonstrationen zugunsten der Präsidentschaftswahlen. Im Staatsfernsehen, das dem Regime trotz der Proteste der angestellten Journalisten treuer denn je ergeben ist, wurden von diesen Demonstrationen ein paar Dutzend Personen in Großaufnahme gezeigt.
Der antikoloniale Befreiungskrieg als Vorbild
Solche Ablenkungsversuche sind jedoch zum Scheitern verurteilt – und ernten nur Spott: Am 7. November „reinigten“ in Tlemcen im Westen des Landes einige Hirak-Anhänger mit Insektenschutz- und Bleichmitteln einen kleinen Platz, auf dem kurz zuvor eine „spontane“ Versammlung von ungefähr 50 Personen zur Unterstützung des Regimes stattgefunden hatte. Bislang hat das Regime zwar auf den massiven Einsatz von Gewalt verzichtet, aber Repression und gezielte Einschüchterung sind an der Tagesordnung.
Dabei haben sie es vor allem auf junge Aktivisten und einfache Bürger abgesehen. Um ein Exempel zu statuieren, wurde den Festgenommenen schnell der Prozess gemacht. Nach Angaben algerischer NGOs wie dem Nationalkomitee für die Befreiung Gefangener (CNLD) lag die Anzahl politischer Gefangener Ende Oktober bei über 100 Personen. Andere Quellen gehen von 300 aus. Die genaue Zahl ist nicht zu ermitteln, da die Behörden alle Angaben dazu verweigern.3
Am 12. November wurden 28 Personen zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie die Flagge der Amazigh (Berber) dabeihatten. Auch bekannte Persönlichkeiten sitzen im Knast, wie etwa der 84-jährige Lakhdar Bouregaa, ein landesweit verehrter Held des Befreiungskriegs, oder Karim Tabbou, ehemaliger Vorsitzender der Oppositionspartei Front Sozialistischer Kräfte (FFS) und eine wichtige Figur der Hirak. Beiden wird vorgeworfen, die „Moral der Armee“ untergraben zu haben.
Noch bis Mitte November war die Protestbewegung davon ausgegangen, dass das Regime nicht in der Lage sein würde, in einem solchen Klima des Misstrauens Präsidentschaftswahlen zu organisieren. Und egal wie die Wahl ausgeht, dass danach die Proteste aufhören werden, glauben die wenigsten. Um die Dynamik und die Hürden dieser Bewegung ermessen zu können, die in vielerlei Hinsicht als historisch bezeichnet werden kann – allein schon weil sie so friedlich ist –, muss man ihre Geschichte von Anfang an erzählen.
Das Jahr 2018 war geprägt von der Frage der Nachfolge von Präsident Bouteflika. Dies führte zu Machtkämpfen innerhalb des Regimes, die durch die Aufdeckung zahlreicher Korruptions- und Schmuggelaffären angeheizt wurden, für die sich die verschiedenen Clans gegenseitig die Verantwortung zuschoben. Im Juni 2018 wurden beispielsweise auf einem Frachtschiff im Hafen von Oran 700 Kilogramm Kokain sichergestellt.4 Laut Papieren hatte der Frachter brasilianisches Rindfleisch geladen und war im Auftrag des Importeurs Kamel Chikhi unterwegs, eines regimenahen Geschäftsmanns, genannt „Kamel, der Fleischer“.
Neben Chikhi wurden zahlreiche höhere Beamte, Polizisten, Verwaltungsangestellte, Politiker und sogar Imame verhaftet oder gerichtlich verfolgt. Diese Affäre, deren Einzelheiten bis heute nicht alle geklärt sind, hat selbst die an Skandale gewöhnten Algerier schockiert. „Gebt die Gefangenen frei, sie haben kein Kokain verkauft!“, lautet heute ein beliebter Slogan der Hirak.
Die Ankündigung vom 9. Februar 2019, dass der schwerkranke Bouteflika für eine fünfte Amtszeit kandidieren würde, provozierte eine Welle der Wut und Empörung. Das, was später zu einer landesweiten Bewegung werden sollte, begann eine Woche später, am 16. Februar in Kherrata. In dieser kleinen Stadt im Osten Algeriens, die durch das Massaker vom 8. Mai 1945, das die französische Armee und ihre europäischen Helfershelfer an der muslimischen Bevölkerung begingen, traurige Berühmtheit erlangte, gingen junge Menschen auf die Straße, um gegen Bouteflikas absehbare Wiederwahl zu demonstrieren.
Drei Tage später riss die aufgebrachte Menge ein riesiges Porträt des Präsidenten von der Fassade des Rathauses – ein Akt des Widerstands gegen den aufgezwungenen Personenkult. Wieder drei Tage später, am 22. Februar, kursierten anonyme Aufrufe in den sozialen Medien, und es begann eine Protestbewegung, die bis in die entlegensten Dörfer reichte. Kurze danach trat Bouteflika zurück und die für den 18. April geplanten Präsidentschaftswahlen wurden abgesagt.
Djalal Mokrani, Vizevorsitzender der „Jugendversammlung in Aktion“ (Rassemblement Action Jeunesse, RAJ), erinnert sich an den ersten Protestmarsch in Algier, der in dem Viertel Bab el-Oued startete. Mokrani war gerade dabei, in den Räumen seiner Organisation im Stadtzentrum eine Aktion für den nächsten Tag zu planen. „Wir haben alles stehen und liegen lassen und sind auch auf die Straße gegangen“, erzählte uns Mokrani, nur ein paar Tage, bevor er mit anderen RAJ-Mitgliedern am 4. Oktober verhaftet wurde.
Fünf von ihnen sind nun angeklagt wegen „Anstiftung zur Zusammenrottung und Gefährdung der staatlichen Sicherheit“. Ihre Verhaftung hat eine Welle der Solidarität im In- und Ausland ausgelöst. Der RAJ selbst verurteilte die Verhaftungen als „verwerfliche, skandalöse und despotische Praxis eines dahinsiechenden Regimes, das sich um jeden Preis an die Macht klammert“.
Wie konnte es in einem Land, dessen Bevölkerung die arabischen Aufstände von 2011 nur aus der Ferne beobachtet hat, plötzlich zu einer solchen Dynamik kommen? Eine entscheidende Rolle spielte die Wut der jungen Generation. Mustapha Benfodil, Autor und Journalist bei der unabhängigen französischsprachigen Tageszeitung El Watan, recherchierte einige Tage vor der ersten großen Demonstration vom 22. Februar für eine Reportage in Algiers armen Vorortvierteln. „Die jungen Leute haben nur von einem geredet: ‚Erniedrigung‘ “, erzählt er. „Sie konnten das Bild von Bouteflika, einem quasi toten Mann, der von der ‚içaba‘, der ‚Bande‘, als Puppe benutzt wurde, einfach nicht mehr ertragen.“
Intissar Bendjabellah, eine 30-jährige Doktorandin, Feministin und prominente Figur der Hirak in der Hauptstadt, meint, die Protestbewegung sei „nicht nur eine Sache der Jungen, aber sie laufen an der Spitze der Demonstrationen. Sie sind viele, und sie sind sehr laut.“ Die Studenten in Algier waren bereits drei Tage vor der Demonstration vom 22. Februar auf die Straße gegangen. Sie reagierten damit umgehend auf eine Rede, die der Generalstabschef Gaïd Salah am selben Morgen gehalten hatte.5 Ihr Protest ließ bereits erahnen, was am 22. Februar dann auch folgte, inklusive der Repressionen durch die Sicherheitskräfte.
Viele Menschen, die das Regime verachten, zögerten allerdings, auf die Straße zu gehen. Sie fürchteten ein erneutes Scheitern, wie etwa bei den Protesten von 2014, die nicht verhindern konnten, dass Bouteflika für eine vierte Amtszeit wiedergewählt wurde. „2014 hatte ich den Eindruck, dass sich mein Land nicht befreien wollte“, erzählt Bendjabellah. Deswegen war sie am 22. Februar noch nicht dabei. Aber sie verfolgte die Ereignisse über die sozialen Medien und am darauffolgenden Freitag schloss sie sich auch den Protesten an.
Der 66-jährige Anwalt und Menschenrechtsaktivist Messaoud Babadji aus Oran gehörte zu denjenigen, die anfangs auch deshalb skeptisch waren, weil die Aufrufe anonym waren. Sie befürchteten, dahinter könnte der Versuch der Islamisten stecken, auf die politische Bühne zurückzukehren. Denn nur ihnen traute man eine solch breite Mobilisierung zu. Am Tag der ersten Demonstration in Oran stellte Babadji dann erstaunt fest, dass junge Gewerkschafter den Marsch anführten. Auch der Journalist und Verleger Arezki Aït-Larbi sagt, er habe Vorbehalte gegen die erste Demonstration gehabt. Denn die war für einen Freitag nach dem Gebet angekündigt, wie 1988 die Demonstration der Islamischen Heilsfront (FIS).6
Das Überraschendste war allerdings, dass selbst die Islamisten dem Aufruf misstrauten. Ali M., ein Ex-Aktivist der FIS, der zwischen 1992 und 1998 im Gefängnis saß, hielt den Aufruf für „eine Provokation und eine Falle“. „Ich war überzeugt, dass die Armee, wie im Oktober 1988, das Feuer eröffnen würde“, erzählt er. „Ich habe mir gesagt: ‚Das ist nur wieder ein versteckter Versuch der Geheimdienste, eine Ausnahmesituation zu schaffen.‘ Meine Söhne und die der Nachbarn hatten nie etwas mit Politik am Hut, und am 22. Februar sind sie trotz meiner Warnungen ohne Zögern auf die Straße gegangen.“ Er selbst habe bis zum 8. März gewartet und seitdem an jeder Demo teilgenommen.
Im Laufe des März wurden die meisten Vorbehalte durch das unerwartete – um nicht zu sagen unverhoffte – Ausmaß der Bewegung hinweggefegt, was zu einer zusätzlichen Mobilisierung führte. „Diese Revolte kam zu einem Zeitpunkt in der algerischen Geschichte, an dem das Regime alle Oppositionsparteien – egal ob islamistisch oder demokratisch –, die Gewerkschaften, die Berufsverbände und zivilgesellschaftlichen Organisationen niedergewalzt hat. Alle wurden vom Regime entweder zerschlagen oder gekauft“, erzählt Ali Brahimi, Ex-Parlamentarier der Oppositionspartei „Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie“ (RCD).7
Brahimi war einer von 24 Aktivisten, die 1980 während des „Berberfrühlings“, der Proteste in der Kabylei gegen die Zentralmacht, verhaftet wurden. Für den Marxisten und kabylischen Menschenrechtsaktivisten war klar, dass das Ausmaß der Korruption und die Abschottung des Bouteflika-Regimes früher oder später zu einer Eskalation führen musste. Und er stellt zufrieden fest, dass „die Bewegung von Anfang an eine revolutionäre Dynamik hatte“.
Man musste erst das Trauma aus dem Schwarzen Jahrzehnt (1992–2000) überwinden und einen politischen Reifeprozess durchlaufen – sonst, so versicherten mehrere unserer Gesprächspartner, hätte es keine Hirak gegeben. „Die algerische Gesellschaft war völlig gelähmt und ohne Hoffnung“, erinnert sich Brahimi. „Die vielen Gegensätze, etwa zwischen Laizisten und Religiösen, wurden vom Regime noch verstärkt. Doch die Hirak hat gezeigt, dass große Teile der algerischen Bevölkerung die ideologischen Risse aus den 1990er Jahren nun hinter sich gelassen haben.“
Auch Aït-Larbi beobachtet eine „qualitative Entwicklung“ in der Protestbewegung. Die Einigkeit bei den Forderungen, der Gemeinsinn der Demonstranten, die „außergewöhnliche Entwicklung von Beziehungen“ zwischen Leuten, die bislang an pingelige Hackordnungen gewöhnt waren – all dies, so Aït-Larbi, zeige, dass die Hirak „das Beste in den Algeriern hervorgebracht hat; etwas, das lange verschüttet war“.
Das zeigt auch die Reaktion auf das Verbot der Berber-Fahne: „Im Juni hat General Gaïd Salah das Symbol verboten, er wollte mit diesem sensiblem Thema eine Spaltung zwischen arabischen und kabylischen Bevölkerungsgruppen provozieren“, erklärt Aït-Larbi. Aber das Gegenteil war der Fall: In arabischen Städten schwenkten Leute, die bislang nicht für ihre Sympathie mit den Berbern bekannt waren, die verbotene Flagge.
Der friedliche Charakter der Proteste stellt ebenfalls einen Bruch mit der Vergangenheit dar. Wenn die jungen Leute versucht sind, sich mit den Sicherheitskräften zu schlagen, ertönt aus der Mitte des Demonstrationszuges sofort die Parole „Silmiya, silmiya!“ („friedlich“) oder „Khawa, khawa“ („Brüder“). „Im Jahr 2017 gab es nach offiziellen Angaben 13 000 kleinere Ausschreitungen in Algerien“, stellt Ali Brahimi fest. „Wir erleben gerade also eine Entwicklung weg von gewaltsamen Protesten hin zu einer friedlichen und sich selbst disziplinierenden Bewegung.“ In der kleinen Küstenstadt Aokas hätten sie zum Beispiel gegen das Verbot einer Literaturveranstaltung protestiert, indem sie einfach nur mit Büchern in der Hand auf die Straße gegangen sind, erzählt Brahimi.
Heute ist ganz Algerien vereint im Protest, unabhängig von politischen Lagern. Der Ablauf der Freitagsdemos in Algier ist immer derselbe: Nach einem nächtlichen Topfkonzert als Zeichen der Solidarität mit den Gefangenen versammeln sich morgens die ersten Gruppen auf der Place Maurice Audin oder vor der Grande Poste. Später, nach Ende des Freitagsgebets am frühen Nachmittag, sind die Demonstrationszüge – vor allem aus Bab el-Oued – in Richtung Stadtzentrum ein beeindruckendes Spektakel. Überall in den Straßen hallen die Sprechchöre.
Am Abend zählen dann Anwälte, NGOs und die Medien die Verhaftungen, von denen einige nur ein paar Stunden dauern. Es kommt auch vor, dass Demonstranten von Männern in Zivil verschleppt werden, und es vergehen oft Tage, bevor der Ort ihrer Inhaftierung und die gegen sie erhobenen Vorwürfe bekannt werden. Die Hirak hat zwar die fünfte Amtszeit von Bouteflika verhindert und dafür gesorgt, dass die Präsidentschaftswahlen zweimal verschoben wurden. Doch die Situation ist weiterhin verfahren.
Auf der einen Seite zeigen die Demonstranten, dass sie nicht mehr bereit sind, das Regime zu ertragen. Sie machen es dafür verantwortlich, dass das nach der Unabhängigkeit entworfene nationale Projekt gescheitert ist. Auf der anderen Seite versucht ebendieses Regime auf Biegen und Brechen eine Präsidentschaftswahl durchzuboxen, für die sich zwei ehemalige Ministerpräsidenten (Ali Benflis und Abdelmadjid Tebboun) und zwei ehemalige Minister Bouteflikas (Azzedine Mihoubi und Abdelkader Bengrina) aufstellen ließen.
Auch der fünfte Bewerber, Abdelaziz Belaïd, hat Bouteflika stets unterstützt. Seit Beginn des Wahlkampfs wurden die ohnehin kaum besuchten Veranstaltungen der Kandidaten systematisch durch Hirakisten gestört. In den sozialen Medien kursierten Aufrufe, jeden Abend gegen die Wahlen zu demonstrieren, aber die nächtlichen Versammlungen wurden von den Sicherheitskräften aufgelöst.
„Manche sprechen heute von einer ‚Diktatur light‘; aber ich verzichte auf solche Kategorien“, sagt Mustafa Benfodil. „Ich stelle nur fest, dass wir es immer noch nicht geschafft haben, unser Demonstrationsrecht durchzusetzen.“ Um das staatliche Fernsehen stehe es schlechter als je zuvor, die Herrschenden würden dort wieder verherrlicht, meint Benfodil. „Auf der politischen Bühne haben immer noch dieselben Leute das Sagen, mit den gleichen Treueschwüren und der gleichen ‚FLN‘-Masche8 , alles zu beklatschen, was vom Chef kommt.“
Ein Beweis für den zunehmenden Autoritarismus des Regimes ist etwa die mit der Verfassung unvereinbare freitägliche Abriegelung Algiers oder die Verhaftung Dutzender Demonstranten, die das Abzeichen der Berber trugen. Die Menschenrechtsanwältin Aouicha Bakhti bestätigt: „Es gibt einen Artikel, der es Angestellten in der öffentlichen Verwaltung verbietet, andere Symbole als die Nationalflagge zu tragen. Aber der gilt nicht für Demonstranten.“
Deshalb würden sich die Staatsanwälte auf den Strafrechtsartikel 79 berufen, erklärt Bakhti. „Danach wird jeder mit Gefängnis bestraft, der die Integrität des nationalen Territoriums gefährdet. In den Anklageschriften heißt es, die Beschuldigten hätten ‚ein anderes als das nationale Emblem‘ getragen, was auf eine Rede von Gaïd Salah zurückgeht. Sein Wort wird also Gesetz.“
Über die Präsidentschaftswahlen hinaus müsse man nun darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Zum Beispiel sei es an der Zeit für eine neue Verfassung, in der sich die heutige Gesellschaft widerspiegelt, so Bakhti weiter. Sie sei davon überzeugt, dass die Bewegung weitergehe und der Wandel schon begonnen habe. „Manche sagen, dass wir sieben Jahre gebraucht haben, um uns von der Kolonialherrschaft zu befreien, und dass die Hirak noch sieben Jahre und länger weitergehen könne. Man hört diese Slogans auf der Straße.“ Dass die Demonstranten so lange durchgehalten haben, ist für viele jetzt schon ein Sieg.
Der Journalist Benfodil ist nicht so optimistisch: „Leider bewegen wir uns auf eine totale Sackgasse zu. Es gibt eine Art Polarisierung. Auf der einen Seite die Militärmacht und auf der anderen die Hirak, die keine Repräsentanten hat und das auch ablehnt.“ Es handele sich um einen anarchischen Moment, der vielen gefalle, der aber auch einen langen Atem benötige, meint Benfodil. In den vergangenen acht Monaten gab es viele Initiativen, um politische Repräsentanten für die Hirak zu finden. Der Erfolg blieb aus, auch weil die gezielten Repressionen gegen bekannte Köpfe, vor allem junge Aktivisten, die Sache nicht einfacher machten. Er glaubt deshalb, dass sich die Bewegung radikalisieren wird.
1 Siehe Akram Belkaïd und Lakhdar Benchiba, „Wer entscheidet in Algerien?“, LMd, April 2019.
2 Siehe Mickaël Correia, „Von den Rängen auf die Straße“, LMd, Mai 2019.
7 Siehe Arezki Metref „Die Melancholie der algerischen Linken“, LMd, Februar 2019.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Arezki Metref ist Journalist und Schriftsteller, zuletzt erschien: „Rue de la nuit“, Algier (Koukou) 2019.