12.12.2019

Nordirlands Protestanten in der Brexit-Falle

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Nordirlands Protestanten in der Brexit-Falle

von Christophe Gillissen

Markus Weggenmann, LW 200, 2019, hochpigmentierte Leimfarbe auf Baumwolle, 150 x 220 cm
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Die Brexit-Verhandlungen haben in den letzten Monaten einen zuvor wenig beachteten Akteur ins Rampenlicht gerückt: die nordirische Democratic Unionist Party (DUP). Die DUP ist seit den Parlamentswahlen 2017 mit den konservativen Tories verbündet und sichert ihnen die Mehrheit im britischen Unterhaus. Ihre zehn Abgeordneten im Parlament von Westminster sind für den EU-Austritt, lehnen aber zugleich jede Lösung ab, durch die Nordirland einen Sonderstatus bekäme. Eine Kompromisslosigkeit, für die sie womöglich bei der Wahl am 12. Dezember 2019 bezahlen werden. Und die außerdem daran erinnert, dass die Spannungen, an denen sich der Nordirland-Konflikt entzündete, weiter schwelen, auch wenn dieser seit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 an Schärfe verloren hat.

Nach der letzten Erhebung von 2011 zählt die protestantische Gemeinde in Nordirland rund 875 000 Mitglieder, das ist fast die Hälfte (48 Prozent) der Gesamtbevölkerung.1 Seitdem auf der irischen Insel die ersten Forderungen nach Unabhängigkeit aufkamen, wurde alles dafür getan, damit sich die konfessionelle Spaltung auch in den Parteipräferenzen widerspiegelte. Die nordirischen Protestanten werden seither durch zwei Gruppen vertreten, die DUP und die Ulster Unionist Party (UUP). Beide Parteien verfolgen dasselbe Ziel: den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich. Ihnen stehen irisch-republikanische Parteien gegenüber, die vor allem von Katholiken unterstützt werden, die für Irlands Wiedervereinigung eintreten, allen voran die Sinn Féin, die historisch eng mit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) verbunden ist, sowie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Social Democratic and Labour Party, SDLP).

Lange dominierte in Nordirland die 1905 gegründete UUP. Vom ersten nordirischen Parlament 1921 nach der Unterzeichnung des Anglo-Irischen Vertrags bis zu seiner Suspendierung 1972 – als Nordirland wieder der direkten Kontrolle Londons unterstellt wurde – regierten ununterbrochen die Unionisten. Auch weil sie die konfessionellen Spannungen eifrig schürte, konnte die UUP stets eine Mehrheit der protestantischen Wählerstimmen auf sich vereinen. Das Führungspersonal der Partei rekrutierte sich überwiegend aus dem Oranier-Orden, der den Freimaurern nahestand und 1795 mit dem Ziel gegründet wurde, den „Papismus“ zu bekämpfen.

Das Erbe des Ian Paisley

In den 1960er Jahren taten sich tiefe Risse innerhalb der unionistischen Partei auf, als sich in Nordirland eine friedliche Bürgerrechtsbewegung formierte und gleiche Rechte für die katholische Minderheit forderte. Von London dazu gedrängt, erkannten gemäßigte UUP-Mitglieder an, dass es institutioneller Reformen bedurfte, wohingegen eine Fraktion von Radikalen größtmögliche Härte im Umgang mit den Demons­tranten empfahl.

Diese Differenzen führten 1971 zur Gründung einer Konkurrenzpartei: der DUP. Den Anstoß dazu gab Ian Paisley, ein presbyterianischer Pfarrer, dessen flammende Reden Ende der 1960er Jahre zur Eskalation der „Troubles“ beitrugen. Seit 1966 trieb außerdem eine neue Terrormiliz ihr Unwesen, die sich wie die 1912 gegründete Partei „Ulster Volunteer Force“ (UVF) nannte und eine Reihe schwerer Anschläge gegen Katholiken verübte (siehe untenstehenden Artikel).

Die DUP lehnte jegliche Konzes­sio­nen an die katholischen Iren ab und überholte die UUP von rechts. Dabei profitierte sie von der Heterogenität der protestantischen Community. Ähnlich wie die beiden Parteien spalteten sich die Protestanten, die lange geeint hinter dem Oranier-Orden und der UUP gestanden hatten, in zwei Fraktionen: Die Nachfahren schottischer Siedler, die im 17. Jahrhundert nach Nordirland gekommen und mehrheitlich Presbyterianer waren, gehörten größtenteils der Arbeiterklasse an oder waren Kleinbauern. Bei ihnen fielen die radikalen Ansichten der DUP auf fruchtbaren Boden. Demgegenüber waren die Nachfahren englischer Siedler als Mitglieder der anglikanischen Kirche nicht ganz so antikatholisch eingestellt wie die Presbyterianer. Sie kamen überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht und blieben der gemäßigteren UUP treu.

Nach dem Karfreitagsabkommen, dessen Unterzeichnung die DUP als einzige Partei verweigert hatte, verlor die UUP immer mehr Anhänger. Bei den britischen Unterhauswahlen 1997 entfielen in Nordirland noch 32,7 Prozent der Stimmen auf die UUP und 13,6 Prozent auf die DUP. 2005 kehrte sich das Kräfteverhältnis um (17,7 Prozent für die UUP gegenüber 33,7 Prozent für die DUP). Eine Tendenz, die sich seither noch verstärkt hat: 2017 errang die UUP nur noch 10,3 Prozent der Wählerstimmen, die DUP hingegen 36 Prozent.

Ihre neue Stärke zwingt die DUP, die Strategie ihres Gründers zu überdenken. Bis 2003 lebte sie von der politischen Spaltung unter den irischen Protestanten. Mittlerweile bemüht sich die Partei jedoch breitere Wählerschichten anzusprechen, was heftige interne Debatten ausgelöst hat. Bestimmte Positionen gelten zwar weiterhin als unverrückbar, wie die Ablehnung von Abtreibungen und der Homo-Ehe.2

Die einen für Leave, die anderen für Remain

Andererseits zwingt der schleichende demografische Rückgang der protestantischen Bevölkerung alle unionistischen Parteien zur Öffnung. Unabhängig von ihrer religiösen Verankerung müssen sie eine politische Vision des Unionismus anbieten. 2005 beschloss die UUP, alle institutionellen Verbindungen zum Oranier-Orden zu kappen, und die DUP wirbt schon seit Längerem nicht mehr nur um die Mitglieder der von Ian Paisley gegründeten Freien Presbyterianischen Kirche.

Im Dezember 2015 wählte die DUP Arlene Foster zu ihrer Vorsitzenden. Foster ist Anglikanerin, wie viele neue Mitglieder der DUP. Ihre politische Karriere begann Foster in der UUP, der sie seit ihrem Studium an der Universität Belfast angehört hatte. Anfang 2004 wechselte sie zur DUP über. Ihre antinationalistische Gesinnung steht außer Frage: Als sie ein Kind war, wurde ihr Vater bei einem IRA-Anschlag schwer verletzt, und sie selbst überlebte nur knapp die Explosion in einem Schulbus. Trotzdem zeugt ihre Wahl vom Willen der DUP, sich ein moderneres Image zu geben – schließlich sind nur 28 Prozent ihrer Anhänger weiblich (gegenüber 34 Prozent bei der UUP).

Arlene Forster konnte ihre Kompetenzen als Umweltministerin (2007–2008), als Wirtschaftsministerin (2008–2015) und als Finanzministerin (2015–2016) unter Beweis stellen, bevor sie 2016 zur Regierungschefin („First Minister“) der nordirischen Regionalregierung gewählt wurde. Seit Jahren verfolgt sie nun schon der Skandal um ein Programm zur Förderung erneuerbarer Energien („Renewable Heat Incentive“), das sie als zuständige Ministerin 2012 auf den Weg gebracht hatte. Von dem Programm sollen Mitglieder ihrer Partei und Personen aus ihrem persönlichen Umfeld profitiert haben, während die nordirischen Steuerzahler auf Kosten von 500 Millionen Pfund Sterling (rund 580 Millionen Euro) sitzen blieben.

Arlene Fosters Weigerung, auch nur im Geringsten Verantwortung zu übernehmen oder für die Dauer der öffentlichen Untersuchung ihr Amt niederzulegen, veranlasste den stellvertretenden Regierungschef Martin McGuinness (Sinn Féin) im Januar 2017 zurückzutreten. Weil das Friedensabkommen vorsieht, dass die beiden Ämter aneinander gekoppelt sind, war die nordirische Regierungskoalition damit am Ende. Heute, fast drei Jahre später, haben sich DUP und Sinn Féin immer noch nicht geeinigt. Seit über tausend Tagen haben die Abgeordneten des Stormont, des nordirischen Parlaments, nicht mehr getagt.

Die Ratifizierung des St.-Andrews-Abkommens3 , das eine Machtteilung zwischen Unionisten und irischen Nationalisten vorsah, markierte 2006 einen Wendepunkt in der Geschichte der DUP. Aber nicht alle Mitglieder tragen diese Entscheidung mit. Auch Arlene Foster, die als Vorsitzende nicht über denselben Rückhalt verfügt wie ihre Vorgänger, versucht mit einer aggressiven Haltung gegenüber den Nationalisten die Reihen um sich herum zu schließen – und setzt damit den Friedensprozess aufs Spiel.

Das Brexit-Chaos hat alles noch schlimmer gemacht. Im Vorfeld des Referendums im Juni 2016 sprach sich die DUP als einzige nordirische Partei für den Austritt aus der Europäischen Union aus. Die nordirischen Wähler stimmten jedoch mit 56 Prozent für den Verbleib Großbritanniens in der EU – die DUP hatte sich offensichtlich nicht durchsetzen können. Zudem stellte der Sieg des „Leave“-Lagers in ganz Großbritannien die Bestimmungen des Karfreitagsabkommens infrage, das zwischen der Republik Irland und Nordirland eine Grenze ohne Kontrollen zusagt.

Die UUP unterstützt aus ökonomischem Pragmatismus das „Remain“-Lager. Nordirland profitiert von erheblichen Finanzhilfen der EU, etwa im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (die EU-Mittel machen im Schnitt 85 Prozent der Einkommen der nordirischen Landwirte aus), der Strukturfonds oder des Peace-Programms zur Konsolidierung des Friedensprozesses.

Die DUP als Pro-Brexit-Partei sah sich hingegen gezwungen, die Sorgen hinsichtlich der negativen Folgen für die lokale Wirtschaft zu entkräften. Außerdem versuchte sie sich in der Quadratur des Kreises: Während sie den Austritt aus dem Gemeinsamen Markt fordert, lehnt sie gleichzeitig jegliche Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien als auch eine „harte“ Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ab.

Kurzfristig hat sich diese Strategie ausgezahlt. Die Parlamentswahlen am 8. Juni 2017 wurden zu einem Triumph für die DUP, die in 10 der 18 nordirischen Wahlkreise den Sieg davontrug, während die UUP keinen einzigen gewann. Die konservative Partei unter der Führung von Theresa May büßte hingegen ihre absolute Mehrheit in Westminster ein und konnte sich nur als Minderheitsregierung mit Unterstützung der Unionisten an der Macht halten, die nun in den Rang von Königsmachern aufstiegen. Am Ende der Verhandlungen über ein Regierungsabkommen verpflichtete sich die DUP, die Tories bei Vertrauensabstimmungen und in der Haushaltspolitik zu unterstützen. Im Gegenzug erhielt sie die Zusage einer Finanzspritze für Nordirland von insgesamt 1,5 Milliarden Pfund (etwa 1,7 Milliarden Euro).

Das verlieh der DUP beträchtliche Macht gegenüber ihren konservativen Verbündeten. Zwischen Januar und März 2019 votierte sie insgesamt dreimal gegen das von May mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen. Im Sommer nach Mays Rücktritt machte sich Boris Johnson im Wahlkampf um ihre Nachfolge die Mühe, zum jährlichen Parteitag der DUP zu reisen. Dort machte er zahlreiche Versprechen, die wie Musik in den Ohren der Unionisten klangen, unter anderem stellte er den Bau einer Brücke zwischen Nordirland und Großbritannien in Aussicht. Solche Episoden und die Möglichkeit, aufgrund der Machtverhältnisse direkten Einfluss auf die Entscheidungen der Londoner Regierung zu nehmen, ließen eine Zeit lang fast vergessen, dass es in Belfast noch immer keine parteiübergreifende Regierung gab.

Doch die DUP hat ihre Macht überschätzt. Ihre wiederholte Weigerung, dem Austrittsabkommen zuzustimmen, zwang Theresa May im Mai 2019 dazu, ihren Rücktritt anzukündigen. Inzwischen hat Premierminister Johnson mit der EU ein Abkommen ausgehandelt, das für die Unionisten weniger vorteilhaft ist, weil es Grenzkontrollen zwischen Nordirland (das bei einem Brexit im Gemeinsamen Markt verbleibt) und Großbritannien (das austritt) vorsieht. Die DUP stellte sich gegen das Abkommen, aber Boris Johnson ist nicht Theresa May. Er gab sich wenig Mühe, die lästigen unionistischen Verbündeten gnädig zu stimmen. Stattdessen setzte er auf die Neuwahlen vom 12. Dezember, von denen er sich eine hinreichend große Mehrheit verspricht, um sich von der DUP wieder unabhängig zu machen.

Für diese könnte die Wahl mit einer herben Enttäuschung enden, denn unterdessen haben die irisch-republikanischen Parteien Sinn Feín und SDLP einen Anti-Brexit-Pakt geschlossen: In mehreren Wahlkreisen zogen sie ihre eigenen Kandidaten zurück, um anderen Remain-Kandidaten eine größtmögliche Chance gegen die DUP einzuräumen. Für die DUP, die vor Kurzem noch das Schicksal Europas in den Händen hielt, könnte es eine schmerzhafte Rückkehr auf den Boden der Tatsachen werden.

1 Diese Zahl schließt auch Personen ein, die protestantisch erzogen wurden, aber ihren Glauben nicht (mehr) praktizieren.

2 Gegen die im Juli 2019 vom britischen Unterhaus beschlossene und im Oktober im gesamten Königreich in Kraft getretene Legalisierung legte sie Einspruch ein – ohne Erfolg.

3 Dieses Abkommen führte zur Wiedereinsetzung der Nordirland-Versammlung, die wegen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Karfreitagsabkommens suspendiert worden war. In dem Abkommen willigte die Sinn Féin ein, die Legitimität der lokalen Polizei und Justiz anzuerkennen, und die DUP erklärte sich bereit, die Macht mit den Nationalisten zu teilen.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Christophe Gillissen ist Professor für Irlandstudien an der Universität Caen.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2019, von Christophe Gillissen