Das Ende der Ära Morales
Nach der Niederschlagung der Proteste in Bolivien sollen im März Neuwahlen stattfinden. Die Köpfe der bisherigen Mehrheitspartei MAS sitzen im Gefängnis oder sind geflohen. Gegner der plurinationalen Verfassung haben bereits ihre Kandidatur angekündigt.
von Renaud Lambert
Ein Präsident wird vom Generalstabschef zum Rücktritt aufgefordert. Polizeikräfte feuern mit scharfer Munition auf Demonstranten. Entmachtete Politiker werden inhaftiert, andere tauchen ab oder gehen ins Exil. Journalisten werden wegen „Aufruhrs“ festgenommen, Zeitungen und Sender geschlossen, Parlamentarier am Zugang zur Nationalversammlung gehindert, und schließlich ernennt sich eine Senatorin selbst zur Präsidentin. Auf einem Foto zeigt sie sich mit breitem Lächeln, während ein Offizier ihr beim Anlegen der Amtsschärpe hilft. Generäle werfen sich in Positur, die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen. Ob es sich da um einen Staatsstreich handelt, ist wohl die einzige Frage, die sich in Bolivien derzeit nicht stellt.
Die tonangebenden Medien vermieden jedoch dieses Wort bei ihrer Berichterstattung über den Sturz von Präsident Morales. Auch die bisherige Senatorin und nun erste Diktatorin Lateinamerikas Jeanine Áñez versuchte, Bedenken zu zerstreuen. „Ein Putsch ist, wenn Soldaten auf der Straße sind“, erklärte sie, als sie über die Umstände ihres Amtsantritts befragt wurde.1 Dabei hatte sie bereits am Tag zuvor die Armee gebeten, gemeinsam mit der Polizei in La Paz „die Ordnung wiederherzustellen“, so dass, während sie diese Erklärung abgab, Soldaten in der Hauptstadt patrouillierten.
Seit seiner Unabhängigkeit 1825 bis zu Morales’ Amtsübernahme 2006 erlebte Bolivien 188 Staatsstreiche, mehr als einen pro Jahr. Aber niemand hätte gedacht, dass die erste Präsidentschaft eines Indigenen so abrupt und unter solchen Bedingungen enden würde. Morales schien sich umso weniger Sorgen machen zu müssen, als er trotz der Rezession in Lateinamerika allseits gelobt wurde: von den Linken für den Rückgang des Analphabetismus, den Ausbau der Infrastruktur und die Senkung der Armutsquote von 63,9 auf 35,5 Prozent (von 2004 bis 2017) und vom IWF für die versöhnliche Politik gegenüber den Arbeitgebern und die beeindruckende Wachstumsrate. Was ist also schiefgegangen?
Ausgebrochen ist die aktuelle Krise, als die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober veröffentlicht wurden, aber ihre Ursachen gehen weit zurück. Einschneidend war ein Referendum zur Verfassungsänderung im Jahr 2016, mit der Morales eine weitere Amtszeit ermöglicht werden sollte. Im Verlauf der Kampagne für das Referendum enthüllte die oppositionelle Presse, Morales habe einen Sohn mit seiner Ex-Freundin Gabriela Zapata, der zudem vorgeworfen wurde, für ihren chinesischen Arbeitgeber Staatsaufträge organisiert zu haben. Sämtliche nationalen Medien berichteten breit über die Affäre.2
Beim Referendum sprachen sich 51,3 Prozent der Wähler gegen die Verfassungsänderung und damit gegen eine weitere Kandidatur Morales’ aus. Der aber akzeptierte das Ergebnis nicht, da er sich als Opfer einer Intrige sah. Er rief das Verfassungsgericht an, das am 28. November 2017 das Referendum für ungültig erklärte. Auf Grundlage der Amerikanischen Menschenrechtskonvention3 – der zufolge jeder Bürger „wählen oder gewählt werden kann“ und die nach der bolivianischen Verfassung Vorrang vor dem nationalen Recht hat – ebneten die Richter den Weg für eine dritte Amtszeit Morales’.
Es habe bereits viele solche Fälle gegeben, über die sich auch niemand aufgeregt habe, führten seine Anhänger an und verwiesen auf die Wiederwahl von Óscar Arias Sánchez in Costa Rica 2006 unter ähnlichen Umständen. Doch das half nicht: das Ansehen des Präsidenten war durch sein Vorgehen noch mehr beschädigt, selbst bei seinen Anhängern und in seiner Partei MAS (Bewegung zum Sozialismus). Die Opposition unterdessen schimpfte nicht mehr nur über den „Indio-Analphabeten“ und „Kommunisten“, sondern auch über den „Diktator“, der sich an die Macht klammere. Ihr Wahlkampf 2019 fußte auf der Behauptung, es ginge nun darum, einen „Tyrannen“ zu beseitigen.
Am 20. Oktober wurde nach Auszählung von 83,8 Prozent der Stimmen ein vorläufiges Wahlergebnis veröffentlicht: Morales kam demzufolge auf einen Stimmanteil von 45,7 Prozent, vor dem früheren Präsidenten Carlos Mesa (2003–2005) mit 37,8 Prozent. Bei einem Abstand von weniger als zehn Prozentpunkten ist eine Stichwahl vorgesehen,4 die für das Staatsoberhaupt ungünstiger ausgegangen wäre. Vier Tage später sorgte dann die Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses für Aufsehen: Morales wurde mit 47,08 Prozent der Stimmen zum Wahlsieger erklärt, gegenüber 36,51 für Mesa. Die Opposition, die schon seit Wochen vor Wahlbetrug gewarnt hatte, sah sich durch dieses Ergebnis bestätigt.
An diesem Punkt mischte sich Washingtons verlängerter Arm in der Region ein, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), und wurde, wie schon oft, vom Beobachter zum wichtigen Akteur. Am 21. Oktober äußerten OAS-Vertreter Besorgnis über Unregelmäßigkeiten und legten am 10. November zunächst einen vorläufigen, am 4. Dezember schließlich einen endgültigen Bericht vor.5 Das Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) konnte dagegen keine konkreten Beweise für Betrug erkennen. Im britischen Guardian erschien ein Aufruf zahlreicher Politikwissenschaftler, die den Bericht der OAS massiv kritisierten.6
Zudem hätten sie behauptet, dass die Entwicklung des Ergebnisses zu Morales‘ Gunsten aus statistischer Sicht unwahrscheinlich sei. „Dabei entspricht es dem, was auch schon bei früheren Wahlen zu beobachten war“, erläutert Guillaume Long, einer der Autoren der CEPR-Studie. „Von jeher treffen die Auszählungen aus den Wahllokalen, in denen die MAS die höchsten Ergebnisse erzielt, erst später ein, weil sie geografisch am weitesten entfernt sind.“
Für neue, überzeugendere Beweise ist es nun zu spät. Wie schwach die Regierung tatsächlich war, zeigte sich auch durch ihr Unvermögen, die Zweifel an der Legitimität der Wahlen auszuräumen. Eigentlich hätte die Rechte unter Mesa davon profitieren müssen. Doch es waren andere, die die Situation ausnutzten und die Führung der Protestbewegung übernahmen.
Evangelikale Rassisten haben die Macht übernommen
Zu ihr gehören Gruppierungen wie die erst vor wenigen Monaten gegründete Bewegung „Ríos de Pie“, die sich der Förderung der „kollektiven Intelligenz und Gewaltlosigkeit zur Beeinflussung des politischen Lebens“ verschrieben hat. Die Gründerin, Jhanisse Vaca Daza, wurde von Canvas (Center for Applied Nonviolent Action and Strategies) geschult, das sich auf „Regime change“-Operationen spezialisiert hat (siehe den Artikel auf Seite 1). Ríos de Pie (etwa: Flüsse stehen auf) konzentrierte sich zunächst auf Umweltthemen, bei denen das „Regime“ die Interessen der Bevölkerungsmehrheit mit Füßen trete. Im Oktober veröffentlichte die Organisation dann zahlreiche Dokumente, in denen erklärt wird, wie der zu erwartende Wahlbetrug vereitelt werden könne. Wie hunderte ähnliche Gruppierungen half sie anschließend mit, eine äußerst kontroverse Figur auf den Schild zu heben: Fernando Camacho.
Der hatte sich schon 2008 einen Namen als Galionsfigur der rassistischen evangelikalen Rechten von Santa Cruz im östlichen Tiefland gemacht. Damals versuchten sich die reichen Ostprovinzen von La Paz abzuspalten. Und zuvor war Camacho Chef der rechtsradikalen Unión Juvenil Cruceñista (Jugendunion von Santa Cruz), einer Art Stroßtrupp der lokalen Oligarchie. 2019 passte er seine Rhetorik der neuen Lage an und bezeichnete Morales nicht mehr als Gefahr für Christentum und weiße Rasse, sondern als eine für die Demokratie.
Mit diesem neuen Etikett gewann er Anhänger, vor allem in der Mittelschicht. Das sind zum einen oft Menschen, die durch das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre zu einem gewissen Wohlstand kamen, der sie der Linken entfremdet hat,7 zum anderen diejenigen, die sich wegen der zahlreichen Korruptionsskandale von der diskreditierten politischen Familie abgewandt haben; und schließlich alle, die keine Mitglieder der MAS sind und seit langem keinen Zugang mehr zu Posten im Staat haben, dem wichtigsten Motor des sozialen Aufstiegs in Bolivien.
Camacho weiß sich geschickt als einende Kraft zu präsentieren. Der Mann, der öffentlich gern mit Rosenkranz und Bibel auftritt, ist darauf bedacht, die Fahne der Indigenen hochzuhalten, während seine politischen Freunde sie gleichzeitig auf der Straße in den Schmutz treten. Schnell wurde er zur zentralen Figur des Protests, zu dessen Radikalisierung er wesentlich beitrug. Als Morales schließlich Neuwahlen ankündigte, schlossen sich seine Gegner nicht mehr der Forderung Mesas nach einem zweiten Wahlgang an, sondern verlangten den Rücktritt des Präsidenten.
Dem Aufstieg dieser Kräfte steht eine nur schwache Mobilisierung von Morales’ Unterstützern gegenüber. Den Grund dafür sieht der Politologe Hervé Do Alto darin, dass „seine Partei schon seit langem auf tönernen Füßen steht“. Sie sei wie eine Struktur konzentrischer Kreise, deren Zentrum im Lauf der Jahre immer weiter von den Rändern entfernt liegt. Die MAS ist weniger eine Partei im traditionellen Sinn, eher ein Zusammenschluss sozialer Organisationen, wie Arbeiter- und Bauerngewerkschaften, Nachbarschaftskomittees und indigener Gemeinschaften.“ Die Organisation müsse daher ständig zwischen den verschiedenen Bewegungen vermitteln, die je nach Thema mehr oder weniger loyal zu ihr stehen.„In diesem System garantierte Morales den Zusammenhalt des Ganzen wie eine Radnabe die Speichen“, erklärt Do Alto. „Durch ihn war die Partei in der Lage, ihre Fragmentierung zu überwinden.“ Zwangsläufig entstanden Probleme, als Zweifel an ihm selbst aufkamen. Der politische Verschleiß durch die Macht, die Konflikte besonders mit Indigenen-Organisationen, die teils begründeten, teils unbegründeten Skandale sowie das Trauma des Referendums von 2016 hatten seine Position nachhaltig geschwächt.
Mit Ausbruch der Krise stand nun die selbsternannte „Regierung der sozialen Bewegungen“ plötzlich ohne soziale Bewegung da. „In dem Moment, als die Loyalität zur MAS bröckelte, hatten manche Mitgliedsorganisationen nicht mehr das Gefühl, dass ihre Zukunft an die von Morales gebunden war“, erklärt Do Alto. Als der Gewerkschaftsverband Central Obrera Boliviana (COB) dem Präsidenten am 10. November den Rücktritt nahelegte, um „das Land zu befrieden“, fiel die MAS, die lange eine Festung zu schein schien, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Konflikt noch im Rahmen der Verfassung ausgetragen. Ein von seinen bisherigen Anhängern fallengelassener Präsident kann schließlich zurücktreten, bevor neu gewählt wird. Doch die Situation kippte, als Generalstabschef Williams Kaliman intervenierte. Obwohl Absolvent der berüchtigten School of the Americas, an der die USA lateinamerikanische Offiziere in ihrem Sinne ausbilden, stand der General Morales durchaus nahe; denn der war darauf bedacht, es sich mit der Armee nicht zu verderben.
Inzwischen war es jedoch immer wieder zu Meutereien von Polizisten gekommen, die der MAS feindlich gegenüberstanden und sich nun Camacho anschlossen. „Die Armee musste wählen: sich den rebellierenden Polizisten entgegenstellen oder der Regierung die Gefolgschaft aufkündigen“, resümiert Do Alto. Der General traf seine Entscheidung, aber anstatt sie dem Staatsoberhaupt diskret per Telefon mitzuteilen, berief er am 10. November eine Pressekonferenz ein, auf der er, umgeben von hochrangigen Offizieren, dem Präsidenten „vorschlug“, zurückzutreten. Damit machte er die Armee zum politischen Akteur, was in der Verfassung nicht vorgesehen ist.
Die bisherige Opposition wurde dadurch völlig überrumpelt, die Linke war praktisch gelähmt, die reaktionäre Rechte aber wie elektrisiert. Nachdem er noch am Abend von Kalimans Rede seinen Rücktritt erklärt hatte, flüchtete Morales einen Tag später nach Mexiko, wo er politisches Asyl erhielt. Camacho stürmte umgehend in den verlassenen Präsidentenpalast und posierte, umgeben von meuternden Polizisten, vor der Landesfahne mit einer aufgeschlagenen Bibel.
Häuser von hohen Beamten und Verwandten von Morales wurden geplündert und zum Teil angezündet. Die Armee unterdrückte jegliche Proteste mit Hubschraubern und Panzern. Sie schreckte auch nicht vor dem Einsatz scharfer Munition zurück, da die neue „Präsidentin“ die Streitkräfte per Dekret von jeder strafrechtlichen Verantwortung befreit hatte. Mindestens 30 Menschen kamen dabei zu Tode.
Am 24. November unterzeichnete Jeanine Áñez ein Gesetz, mit dem das Wahlergebnis vom Oktober annulliert wird und das Neuwahlen binnen 120 Tagen vorsieht. Bis dahin wird Bolivien nun von einer religiösen Fundamentalistin geführt. Die hat sich mit Offizieren, Unternehmern und Politikern umgeben, die rassistischen Organisationen nahestehen und von denen keiner in das Amt gewählt wurde, das er nun innehat.
7 Siehe Maëlle Mariette, „Die reichen Cholos von La Paz“, LMd, September 2019.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert