12.12.2019

Westpapua erhebt sich wieder

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Westpapua erhebt sich wieder

Trotz Repressionen durch die indonesische Regierung gibt die Befreiungsbewegung nicht auf

von Philippe Pataud Célérier

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Freies Papua“ stand auf den Schildern, die die Demons­tran­ten am 17. August über ihren Köpfen schwenkten. Und sie schrien ihre Wut heraus: „Wir sind keine Affen!“, „Volksabstimmung!“ Männer, Frauen und Kinder waren auf den Straßen unterwegs, Brust und Gesicht mit dem Morgenstern bemalt, der weiß auf rotem Grund die Fahne Westpapuas ziert.

Diese Fahne wurde zum ersten Mal öffentlich am 1. Dezember 1961 neben der holländischen Flagge gehisst. Von ihrem einstigen Kolonialreich Niederländisch-Indien war den Holländern nur noch der von Melanesiern und Papua bewohnte Westteil der Insel Neuguinea geblieben – und den wollten sie keinesfalls der jungen Republik Indonesien überlassen, die am 17. August 1945 ihre Unabhängigkeit erklärt und vier Jahre später nach einem brutalen Krieg auch errungen hatte.

Dieses Jahr kam es am Unabhängigkeitstag Indonesiens im javanischen Surabaya, der zweitgrößten Stadt des Landes, zu rassistischen Ausschreitungen gegen papuanische Studenten. Militante Islamisten von der Front der Islamverteidiger (FPI), Polizisten und Angehörige der paramilitärischen Pancasila-Jugend1 rotteten sich vor einem Studentenwohnheim zusammen und brüllten, diese „Schweine“, „Hunde“ und „Affen“ sollten „gejagt und getötet“ werden.

Auslöser dieser Demonstration des Hasses war das Gerücht, papuanische Studenten hätten die indonesische Nationalflagge geschändet.2 Später stürmte die Polizei das Wohnheim mit Tränengas und nahm 43 Studenten fest. Videos davon verbreiteten sich über die sozialen Netzwerke im ganzen Land. 48 Stunden später und 3000 Kilometer östlich von Surabaya kam es dann zu den wütenden Reaktionen der Einwohner Westpapuas.

Die Frau, die das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, war Tri Susanti, die örtliche Leiterin des „Kommuni­ka­tions­forums der Söhne und Töchter indonesischer Veteranen“ (FKPPI), einer mächtigen, mit der Armee verbunden Bürgerwehr. Die ehemalige Stadträtin von Surabaya ist Mitglied der „Bewegung Großes Indonesien“ (Gerindra, die drittgrößte Partei des Landes) – und eine enge Vertraute des Parteigründers Prabowo Subianto, eines Ex-Generals, der für unzählige Gewalttaten in Osttimor verantwortlich war3 und bei den Wahlen zweimal erfolglos gegen den jetzigen Präsidenten Joko Widodo antrat.4

Die papuanischen Studenten wurden wieder freigelassen, ohne dass Anklage erhoben wurde. Doch die Städte Westpapuas versanken im Chaos. In Manokwari wurde das Regionalparlament zerstört, in Sorong gingen der Flughafen und das Gefängnis in Flammen auf. Und in Fakfak wurde anstelle der indonesischen Fahne der „Morgenstern“ gehisst – ein starkes Symbol. Daraufhin entsandte Jakarta 6000 zusätzliche Soldaten nach Westpapua, wo auch zuvor schon fast ein Polizist auf 100 Personen kam. Nach Angaben der Organisation Human Rights and Peace for Papua gab es bis Anfang Oktober bereits Dutzende Todesopfer.

„Die Unruhen machen der Politik Joko Widodos ein Ende, der wirtschaftliche Investitionen und eine politische Öffnung in der Region anstrebte“, erklärt ein indonesischer Journalist aus Jakarta, der anonym bleiben will. Das Klima der Gewalt kommt in erster Linie den Gegnern des Präsidenten zupass, aber auch Mitgliedern der Regierung, wie etwa General Wiranto, dem Minister für politische, rechtliche und sicherheitspolitische Angelegenheiten. Wiranto, zwischen 1998 und 1999 Verteidigungsminister, werden Massaker in Osttimor und Papua zur Last gelegt.

Um den traditionellen Einfluss der Armee auf die Politik zu begrenzen und einen potenziellen Feind zu kooptieren, hatte Präsident Widodo Ma’ruf Amin, den Anhänger eines moralisierenden und intoleranten Islam, zu seinem Vizepräsidenten gemacht. Am 23. Oktober nahm er dann außerdem seinen schärfsten Gegner als Verteidigungsminister in sein Kabinett auf: den mächtigen und höchst umstrittenen Ex-General Prabowo Subianto.

Dieser kühne Schritt ermöglichte es dem Staatschef, seine politische Basis zu verbreitern – Prabowo hatte bei den Präsidentschaftswahlen 44,5 Prozent der Stimmen geholt – und seine Reformen ohne allzu großen Widerstand und ohne weitere Zersplitterung der nationalen Einheit fortzusetzen.5 Allerdings wächst der gesellschaftliche Widerstand gegen bestimmte Gesetze, die dieser Zusammenarbeit entspringen und die als freiheitseinschränkend wahrgenommen werden: Gesetze etwa, die die Antikorruptionsbehörde (KPK) schwächen oder außerehelichen Sex und Blasphemie unter Strafe stellen.

Gleichwohl gibt es ein Thema – und es dürfte tatsächlich das einzige sein –, über das fast im ganzen Land Einigkeit herrscht: Papua. Die zum Teil christianisierten, zum Teil traditionell lebenden Einwohner der Insel mit ihrer dunklen Hautfarbe werden als Bedrohung sowohl für die religiöse Moral als auch für den Staat Indonesien betrachtet.

Als am 1. Dezember 2018 im Bezirk Nduga 16 nichtpapuanische Arbeiter an der Baustelle der Trans-Papua-Straße ermordet wurden6 – einem Vorzeigeprojekt von Präsident Widodo, das über eine Distanz von 4330 Kilometern die Städte Sorong und Merauke verbinden soll –, war das Wasser auf die Mühlen von Islamisten und Nationalisten. Die Verantwortung für dieses bislang beispiellose Blutbad übernahm die „Nationale Befreiungsarmee West­pa­puas“ (TPNPB), der militärische Flügel der „Organisation für ein freies Papua“ (OPM).

Eine weitere Ohrfeige für die Regierung war die von Benny Wenda, dem exilierten Chef der „Vereinigten Befreiungsbewegung für Westpapua“ (­ULMWP), initiierte Unterschriftenaktion für ein Selbstbestimmungsreferendum. Die Listen, verbreitet vom „Na­tio­nal­komitee für Westpapua“ (­KNPB), gingen unter der Nase von Militär und Polizei heimlich von Dorf zu Dorf. Es kamen 1,8 Millionen Unterschriften zusammen, bei einer Gesamtbevölkerung von rund 4,5 Millionen. Anfang des Jahres wurden sie an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, übergeben.

Vor 50 Jahren hatte es schon einmal ein Referendum gegeben, das allerdings manipuliert worden war: Die Abstimmung im April 1969 war unter dem Druck der USA zustande gekommen, die befürchteten, das blockfreie Indonesien könnte sich im Kalten Krieg auf die Seite der Sowjetunion schlagen. Also zwang Washington im New Yorker Abkommen von 1962 die Niederlande, ihre Herrschaft über Westneuguinea zugunsten Indonesiens aufzugeben. Jakarta wiederum sagte zu, innerhalb von sechs Jahren ein Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Es waren sechs Jahre des Terrors und der Unterdrückung mit schätzungsweise 30 000 Toten, an deren Ende die 1000 Wahlmänner – für rund 800 000 Papua – für den Verbleib bei Indonesien stimmten. Am 19. November 1969 billigten die Vereinten Nationen das Ergebnis.

Mit Phosphorbomben gegen die Bevölkerung

Neuguinea ist äußerst reich an Bodenschätzen; seit Ende der 1950er Jahre zeigte der US-Bergbaukonzern Freeport Interesse an deren Ausbeutung. Präsident Sukarno, der Vater der indonesischen Unabhängigkeit, war allerdings weniger empfänglich für finanzielle Einflussnahme als sein Nachfolger General Suharto, der sich mit Unterstützung der CIA am 30. September 1965 an die Macht putschte.

Zwischen 500 000 und 2 Millionen Kommunisten – oder die man dafür hielt – wurden umgebracht.7 Im April 1967 vergab der Diktator die Förderlizenzen für die Minen Ertsberg und Grasberg – die größte Goldmine und die zweitgrößte Kupfermine der Welt –an Freeport. Die Gewinne sind bis heute astronomisch. Ein Referendum über die Unabhängigkeit war das Letzte, was der Konzern und die indonesische Regierung wollten.

Obwohl die Repressionen immer weiter zunahmen, gaben die Papua nicht auf. Inzwischen befinden sich die Anführer ihrer wichtigsten Organisationen alle in Haft, darunter KNPB-Präsident Agus Kossay. Indonesische Journalisten werden genau beobachtet, Menschenrechtsaktivisten inhaftiert oder verfolgt. Die mit dem Tode bedrohte Anwältin Veronica Koman musste in Australien Zuflucht suchen. „Die Menschen gehen auf die Straße, weil sie es nicht mehr akzeptieren, kolonisiert, marginalisiert, bestenfalls als Bürger zweiter Klasse und schlimmstenfalls als Untermenschen oder als Tiere betrachtet zu werden“, sagt Victor Yeimo, der Sprecher der KNPB.

Den Papua wird das Recht vorenthalten, über ihre Zukunft und die ihres Landes zu bestimmen. „Es geht bei der Straße von Sorong nach Merauke doch gar nicht um wirtschaftliche Entwicklung“, schimpft ein Einwohner des Bezirks Nduga, „und auch nicht bei den dreizehn neuen Häfen oder den sieben neuen Flughäfen. Alles bloß Propaganda.“ Die Straßen seien für die Forstunternehmen, die die Wälder zerstörten. „Und für die multinationalen Lebensmittelkonzerne, die mit ihren Palm­öl­plan­ta­gen und der Rinderzucht für den Export unsere Landwirtschaft kaputtmachen und uns verhungern lassen.“

Im Jahr 2015 habe es nicht einmal Geld gegeben, um die Keuchhusten­epide­mie aufzuhalten, bei der 51 Kinder im Nduga-Hochland gestorben seien, berichtet der Mann. „Wir wollen so eine Entwicklung nicht!“ Und in Bezug auf die Grasberg-Mine meint er: „Klar, die ist sehr ergiebig: Sie beschert uns jeden Tag mehr als 200 000 Tonnen Abfälle, die unsere Flüsse vergiften!“ Seit Juli 2018 ist die indonesische Regierung selbst Mehrheitsaktionär des Minenbetreibers PT Freeport Indonesia.

Nach der Ermordung der sechzehn Bauarbeiter an der Trans-Papua-Straße zerstörte das Militär zahlreiche Dörfer – mit Phosphorbomben.8 Von den 100 000 Papua, die bis dahin in Nduga lebten, flohen 45 000 aus der Region, und 5000 weitere sollen immer noch durch das Hochland irren. Nach Angaben von NGOs sind bereits 190 Menschen, meist Frauen und Kinder, an Hunger oder Krankheiten gestorben. Einige wurden auch ermordet, wie fünf in einem Graben aufgefundene Leichen belegen.

„Das ist ethnische Säuberung, nicht mehr und nicht weniger“, schrieb Samuel Tabuni, Direktor des Papua Language Institute in der papuanischen Hauptstadt Jayapura, in einem offenen Brief an den UN-Generalsekretär.9 Die Behörden bestreiten alle entsprechenden Berichte, erlauben jedoch keine unabhängigen Ermittler in der Region.

„Es wird hart werden, das Referendum über die Selbstbestimmung durchzusetzen“, seufzt ein papuanischer Aktivist. „Aber welche andere Möglichkeit bleibt uns? Wenn wir Widerstand leisten, werden wir getötet. Wenn wir nichts tun, werden wir untergehen. Schauen Sie sich doch bloß die Berichte von NGOs an: Die gewalttätigen Übergriffe, die außergerichtlichen Hinrichtungen, unter denen die papuanische Bevölkerung täglich leidet.“

Usman Hamid, Geschäftsführer von Amnesty International Indone­sien, bestätigt, dass „Papua in puncto Menschenrechte eines der schwarzen Löcher Indonesiens“ ist. „Die Sicherheitskräfte können seit Jahren Menschen töten, ohne Angst haben zu müssen, dass sie zur Verantwortung gezogen werden.“10

Am 23. September dieses Jahres brachen in Wamena, der größten Stadt im zentralen Hochland, erneut Unruhen aus. Wieder soll ein Lehrer einen Schüler als „Affen“ bezeichnet haben. Nach Angaben der lokalen Behörden kamen 33 Menschen, darunter 25 Zuwanderer aus Sumatra und Sulawesi, unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben. Viele fragen sich, woher die Randalierer kamen, die niemand in der Stadt kannte.11

Mittlerweile sind fast 8000 Einwohner, Papua wie Zuwanderer, aus Wamena geflohen. Erstere fürchten die Repression durch die Armee, Letztere die Radikalisierung der Papua. „Wir haben nichts gegen Zuwanderer“, erklärt Jeffrey Bomanak, der Vorsitzende der Organisation für ein freies Papua. „Unsere Feinde sind die Polizei und die Armee. Aber viele Neuankömmlinge sind direkt oder indirekt von den Behörden manipuliert. Sie kommen, um Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu provozieren.“

Er spielt damit auf die nationalistischen und islamistischen Milizen an, die mit ihren Patrouillen die Bevölkerung einschüchtern – ein Vorgehen, das an die extremistischen Gruppen erinnert, die einst Osttimor infiltrierten und den Hass säten, der dann den Bürgerkrieg nährte.

1 Als Pancasila („Fünf Prinzipien“) werden die von Staatsgründer Sukarno aufgestellten Grundsätze der nationalen Ideologie bezeichnet: Nationalismus, Humanismus/Internationalismus, Beratung, Soziale Wohlfahrt, Prinzip der All-Einen göttlichen Herrschaft. Vgl. Daniele Godor, „Im Land der sechs Staatsreligionen. Muslime, Christen und Buddhisten sprechen über ihr Indone­sien“, LMd, August 2015.

2 Vgl. awpasydneynews.blogspot.com/2019/09/summary-of-events-in-west-papua-12.html.

3 Gerry van Klinken, „Prabowo and Human Rights“, Inside Indonesia, Nr. 116, Melbourne, April–Juni 2014.

4 Siehe Rémy Madinier, „Jokowi, der Pragmatiker“, LMd, Juni 2019.

5 Vgl. Aaron Connelly und Evan A. Laksmana, „Jokowi Offers Prabowo a Piece of the Pie“, Foreign Policy, Washington, D. C, 31. Oktober 2019.

6 Richard Chauvel, „Indonesian Infrastructure Isn’t Quelling Desire for Independence in Papua“, The Strategist, Barton (Australien), 18. Dezember 2018.

7 Siehe Annett Keller, „Indonesiens Opfer“, LMd, Oktober 2015.

8 John Martinkus, „Exclusive: Chemical weapons dropped on Papua“, The Saturday Paper, Canberra, 22. Dezember 2018.

9 Samuel Tabuni, „Urgent International Intervention in the Regency of Nduga, Papua Province, Indonesia: Open Letter“, West Papua Daily, 11. Oktober 2019.

10 „Indonesia: Police and Military Unlawfully Kill Almost 100 People in Papua in Eight Years With Total Impunity“, Amnesty International, 7. Januar 2018.

11 Victor Mambor et Syofiardi Bachyul, „Wamena Investigation: What the Government Is Not Telling Us“, The Jakarta Post, 28. Oktober 2019.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Philippe Pataud Célérier ist Journalist und Blogger (www.philippepataudcélérier.com).

Le Monde diplomatique vom 12.12.2019, von Philippe Pataud Célérier