12.12.2019

Aussterbende Töne

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Aussterbende Töne

von Éric Delhaye

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Was haben die Kosmologie der indigenen Kallawaya in Bolivien, die neapolitanische Kunst des Pizzabackens, die Ernte von Iva-Gras auf dem Berg Ozren in Bosnien und Herzegowina und die Lawinenwarnsysteme in der Schweiz und in Österreich gemeinsam? Nichts, außer dass die Unesco sie alle mit dem Gütesiegel Immaterielles Weltkulturerbe (IKE) versehen hat.

Laut einem 2003 verabschiedeten Übereinkommen ist das immaterielle Weltkulturerbe das, was „von einer Generation an die nächste weitergegeben, von den Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet wird und ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität vermittelt, wodurch die Achtung vor der kulturellen Vielfalt und menschlichen Kreativität gefördert wird.“ Anders gesagt: traditionelles Wissen, mündliche Überlieferungen und soziale Praktiken.

Das IKE-Label ist ein großer Erfolg. Die 2008 eröffneten Listen zählen heute über 500 Einträge aus 122 Ländern. Aber wer entscheidet darüber, was aufgenommen wird? Und mit welchen Folgen? Die Wandteppiche von Aubusson oder die Spitzenstickereien aus ­Alençon damit auszuzeichnen – um zwei französische Beispiele zu nennen –, dürfte kaum großen Widerspruch auslösen.

Schwieriger wird es hingegen, wenn es sich um Musik und damit verbundenes Brauchtum handelt. Doch genau in diese Kategorie fällt rund ein Drittel (176) der eingetragenen Güter. Wie stellt man fest, ob etwas „von einer Generation an die nächste weitergegeben“ wurde oder ob es „ein Gefühl von Identität vermittelt“?

Im Fall des materiellen Kulturerbes (Kultur- und Naturstätten von außergewöhnlichem universellem Wert wie die Chauvet-Höhle in Südfrankreich oder das Stadtzentrum von Le Havre) entscheidet eine wissenschaftliche Jury über die Aufnahme in die Liste. Beim lebendigen Kulturerbe hingegen stützt sich die Unesco auf die Expertise der Gemeinschaften selbst. Diejenigen, die diese kulturellen Traditionen leben, sind häufig in Verbänden organisiert. Sie beantragen die Aufnahme in das nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes, indem sie ein Dossier einreichen.

Das jeweilige Kultusministerium entscheidet dann darüber, welche Anträge an die Unesco weitergereicht werden, wobei diese Entscheidung nicht selten durch wirtschaftliche Hintergedanken und Nepotismus beeinflusst wird. Die Anthropologin Cécile Duvelle, die von 2008 bis 2015 Leiterin der Abteilung immaterielles Kulturerbe bei der Unesco war, beklagt: „Ein Staat wird jedes Mittel nutzen, um Politik zu machen. Das ist sein Job, aber es bedeutet eine Verfälschung der Ziele des Übereinkommens.“1

Bob Marley schien diese Ansicht zu teilen, in dem Song „Revolution“ (1974) sang er: „Never make a politician grant you a favour, they will always want to control you forever.“ Was hätte er wohl davon gehalten, dass im November 2018 der Reggae auf die Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt wurde?

Für die jamaikanische Tourismusbranche zumindest leistet der Reggae als Weltkulturerbe sehr viel bessere Dienste, als wenn er mit kiffenden Rastafaris assoziiert wird. Zornig stellte der BBC-Radiomoderator Dotun Adebayo im Guardian fest: „Jahrelang hat das jamaikanische Establishment den Reggae bekämpft, bevor ihm bewusst wurde, dass es damit höhere Einkünfte erwirtschaften konnte als mit der kränkelnden nationalen Bauxit-Branche.“2

Sehr viel entscheidender als die – vorhersehbare – Vermarktung ist jedoch die Bedeutung dieser Auszeichnung für die Musik und die Gruppen, die sie für sich beanspruchen. Die Reaktion der Vertreter der drei französischen Musikrichtungen, die in die Liste aufgenommen wurden, spricht Bände. Diese Musikstile stammen alle drei aus Gemeinschaften, die in unterschiedlicher Weise und Intensität gegen den französischen Zentralismus aufbegehrt haben: der Maloya aus La Réunion, der korsische Paghjella (beide 2009 eingetragen) und der Gwo ka aus Guade­loupe (2014).

Der Maloya wurde von Sklaven erfunden, und war aus diesem Grund lange Zeit verachtet und verboten. Zwischen 1959 bis 1981 erregte er den besonderen Verdacht der Behörden, weil er von der kommunistischen Partei auf Réunion (PCR) aufgegriffen wurde. „Nur dank der Intervention der Unesco haben die Musiker ihren Stolz zurückerlangt“, erzählt Carpanin Marimoutou, der sich für die Aufnahme einsetzte. „Zuvor wurden sie von den Institutionen, der Bourgeoisie und sogar von ihren eigenen Kindern, die sozial aufgestiegen waren, verachtet.“

Unesco-Schutz für immaterielle Güter

Ob die aktuelle Dynamik des Maloya, der viel gespielt wird und Gegenstand zahlreicher Genre-Fusionen ist, ihren Ursprung in der Unesco-Auszeichnung hat, ist allerdings fraglich.

Danyèl Waro, einer der berühmtesten Maloya-Interpreten, beklagt die Bevormundung, die mit dem IKE-Label einhergeht: „Wir wenden uns nicht gegen die Unterstützung unserer Musik, aber wir brauchen keine Touristen als Zuschauer, um stolz auf unsere Kultur zu sein. Unsere Kultur ist grundlegend rebellisch, denn Frankreich erkennt unser Anderssein nicht an. Eingetragen in die Liste oder nicht, wir dürfen nicht aufhören zu spielen, zu singen, weiterzugeben und zu kämpfen.“

Auch auf Guadeloupe regt sich Widerspruch. „Der Gwo ka ist ein Ausdruck unserer Identität. Er kann nicht gleichzeitig für die Identität des Sklaven und die des Sklavenhalters stehen“, erklärt Jean-Claude Nelson, amtierender Regionalrat von Guadeloupe (Diverse Linke) und seit 25 Jahren Sänger der Gruppe Solèy Nwè. Seiner Ansicht nach bietet eine Eintragung in die IKE-Liste keinerlei Vorteile: „Durch die Aufnahme des Gwo ka, der keineswegs vom Aussterben bedroht ist, läuft er Gefahr, zu versteinern. Zum Glück nehmen sich die jungen Menschen seiner an und erneuern ihn. Aber diese ­Aufnahme in die Liste ist völlig sinnlos.“

Ähnlich äußert sich der Musikwissenschaftler Luc Charles-Dominique, der betont, dass „die Heritagifizierung extrem gefährlich ist“, weil sie „in einer schädlichen Debatte über Authentizität endet“. Diese von den Traditionalisten viel beschworene Authentizität, die – wie beim Wein die Ursprungsbezeichnung – einer genau definierten Region zugeschrieben wird, stehe der Vitalität der Musik entgegen, zu der Austausch, Bewegung und Interkulturalität gehöre. Er räumt jedoch ein, dass die Auszeichnung auch Anlass gebe, stolz auf den Gwo ka zu sein.3

Die Unesco selbst hofft indessen im Gegenteil zur Verjüngung und Erneuerung dieser Musikstile in den jeweiligen Gemeinschaften beizutragen. „Die Eintragung ist nur ein Mittel, um die Musizierenden zusammenzubringen, die Politik zu mobilisieren und die Öffentlichkeit zu interessieren“, sagt Sé­ve­rine Cachat, Leiterin des französischen Zentrums für immaterielles Kulturerbe. Und das könne nur gelingen, wenn die Prozesse gut gesteuert werden.

Eine Erfolgsgarantie gibt es dafür allerdings nicht. So mussten die Veranstalter beim jüngsten Gwo-ka-Festival in Sainte-Anne mit weniger Fördergeldern auskommen als zuvor – und das, obwohl das Festival von Félix Cotellon ins Leben gerufen worden war, dem Gründer der Vereinigung „Rèpriz“, die bei der Unesco die Bewerbung eingereicht hatte.

Auch in Korsika gibt es Schwierigkeiten, und zwar nicht nur in finan­zieller Hinsicht. Vielmehr ist es die „Erneuerung“, die problematisch ist. Der Paghjella, ein dreistimmiger Gesang, wurde in die Liste der dringend er­haltungs­bedürftigen Kulturgüter aufgenommen. In dieser Kategorie gibt es weltweit weniger als 60 Einträge. Seit 2015 zahlte das Kulturministerium der Vereinigung „Cantu in paghjella“ jährlich 45 000 Euro, die vorrangig dafür ­bestimmt waren, sechs im Schulbereich tätige „Multiplikatoren“ zu vergüten.

Wiederbelebung korsischer Gesänge

Petru Guelfucci, der in den 1970er Jahren mit der Gruppe Canta U Populu Corsu zur Wiederentdeckung des Gesangs in korsischer Sprache beitrug, war an diesem Projekt von Beginn an beteiligt. Er schätzt, dass sich durch verschiedene Initiativen die Zahl der versierten Sänger innerhalb von zehn Jahren von 300 auf 600 verdoppelt hat; und das, obwohl die sechs „Multiplikatoren“ seit 2018 ehrenamtlich tätig seien, da aufgrund von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Vereinigung keine neuen Fördergelder beantragt wurden.

Das Überleben der Paghjella ist nach Ansicht Guelfuccis weiterhin bedroht, aber sein Überleben sei nicht nur eine Frage des Geldes: „In meinem Dorf lernte man die Lieder, indem man den Alten lauschte. Heute sind die meisten von ihnen tot, und die Jungen leben in der Stadt. Aber noch ist nicht alles verloren. In den Schulfluren hört man manchmal, wie die Schülerinnen und Schüler singen, wenn sie unter sich sind.“

Solche Worte erinnern an eine Überlegung des Schriftstellers und Eth­nologen Michel Leiris, der schon 1950 feststellte: „Sobald nun aber jede Kultur als in beständigem Werden begriffen erscheint und in dem Maße, wie die tragende Menschengruppe sich erneuert, auch fortwährend erweitert, hat auch der Wille, kulturelle Besonderheiten einer kolonialisierten Gesellschaft zu bewahren, keinerlei Bedeutung mehr. Dieser Wille hieße vielmehr, daß man sich praktisch dem eigentlichen Leben einer Kultur entgegenzustellen sucht.“4

Nachdem bei der Unesco in den ersten Jahren nach 2003 hunderte Bewerbungen für die IKE-Liste eingingen, änderte sie die Spielregeln: Jedes Land darf nur noch alle zwei Jahre einen Vorschlag einreichen. Das Tempo hat sich dadurch deutlich verlangsamt. Die Beschränkung betrifft allerdings nicht die multinationalen Anträge, was der katalanischen Rumba zugutekommen könnte, ein Genre, das in den 1950er Jahren in Barcelona Form angenommen hat.

Hervé Parent, der diese französisch-spanische Kandidatur in der Region Okzitanien koordiniert, hat keine Angst vor möglichen negativen Folgen der Aufnahme: „Wir gehen kein großes Risiko ein, denn die Rumba lässt sich nicht in eine Form pressen.“ Aber auch die Rumba wird noch einige Jahre warten müssen. Im Kultusministerium liegen schon ein Dutzend Anträge bereit: Die nächsten Einträge, die Frankreich in die Liste der Unesco aufnehmen lässt, könnten das Yole-Boot aus Martinique und das Baguette sein.

1 Sofern nicht anders angegeben, stammen die Zitate aus Gesprächen mit dem Autor.

2 Dotun Adebayo, „Reggae is Jamaica’s rebel music – it doesn’t need establishment approval“, The Guardian, 1. September 2018.

3 Luc Charles-Dominique, „La patrimonialisation des formes musicales et artistiques. Anthropologie d’une notion problématique“, Ethnologies, Bd. 35, Nr. 1, Québec 2013.

4 Michel Leiris, „Ethnographie und Kolonialismus“, in: Michel Leiris, „Die eigene und die fremde Kultur. Ethnologische Schriften“, Bd. 1, übers. von Rolf Wintermeyer, Frankfurt am Main (Syndikat) 1979, S. 58.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Éric Delhaye ist Journalist

Le Monde diplomatique vom 12.12.2019, von Éric Delhaye