12.12.2019

Kommt der Islamische Staat zurück?

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Kommt der Islamische Staat zurück?

Ende Oktober starb der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi. Sein Territorium hat der IS bereits seit Längerem verloren. Doch angesichts der jüngsten Entwicklungen stellt sich die Frage, ob die Organisation erneut von einem Absturz der Region ins Chaos profitieren könnte.

von Patrick Cockburn

Schlachtfeld Mossul am 21. Januar 2017 B. SCHLOTTERBECK/picture alliance/ap
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Mit ihrer ersten Aktion im Irakkrieg von 2003 hatten es die USA auf Saddam Hussein abgesehen. In den Morgenstunden des 20. März wurde ein Gebäudekomplex am Rande Bagdads, in dem die US-Geheimdienste fälschlicherweise den irakischen Präsidenten vermuteten, mit 40 Cruise Missiles und mit bunkerbrechenden Bomben angegriffen. Drei Jahre später gelang es den USA, Abu Mussab al-­Sarkawi zu töten, den Gründer des irakischen Al-Qaida-Ablegers, aus dem später der „Islamische Staat“ (IS) hervorgehen sollte.

Doch weder das Überleben Husseins noch der Tod al-Sarkawis war für das weitere Geschehen in der Region von größerer Bedeutung. Dennoch gab man im Weißen Haus nie die Überzeugung auf, dass die Tötung von Führerfiguren und anderen hochrangigen Zielpersonen eine erfolgreiche Strategie sei.

Es gibt im Grunde nicht viel, was für diese Theorie spricht. Allerdings lässt sich die Tötung diabolischer Feindfiguren für innenpolitische Zwecke ausbeuten, indem der jeweilige US-Präsident das Wahlvolk mit entschlossenen Aktionen in einem ansonsten undurchsichtigen und erfolglosen Kriegsgeschehen beeindrucken kann.

Das gilt auch für den Tod von Abu Bakr al-Baghdadi, der sich in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober im Verlauf eines Angriffs durch US-Spezialeinheiten in Nordsyrien selbst in die Luft sprengte. Donald Trump feierte den Tod al-Baghdadis, der seit Mai 2010 die Führung des IS übernommen hatte, mit der für ihn üblichen Selbstbeweihräucherung als Beweis dafür, dass der IS endgültig zerschlagen sei.

Die Behauptung war nicht aus der Luft gegriffen. In der Tat war al-Baghdadi, der sich im Juni 2014 in der Al-Nuri-Moschee in Mossul zum Kalifen ausgerufen hatte, die wichtigste überlebende Symbolfigur des Islamischen Staats.

Al-Baghdadis Kriegserklärung an die ganze Welt

Die tatsächliche Kontrolle über ein Staatsgebilde im Norden des Iraks und Syriens, das sich zeitweilig vom West­ufer des Euphrat bis zum Ostufer des Tigris erstreckte, unterschied den IS von allen anderen militarisierten Islamistengruppen wie etwa al-Qaida.

Über einen kurzen und dennoch überraschend langen Zeitraum herrschte dieses wieder erstandene Kalifat brutal, aber effektiv über eine Bevölkerung von 10 Millionen Menschen. Wobei der neue Kalif proklamierte, er habe dank göttlicher Eingebung den einzig wahren Islam durchzusetzen.

Der Aufstieg dieses Kalifats war ebenso so spektakulär wie sein Fall. Seine letzte territoriale Bastion verlor es sechs Monate vor dem Tod al-Baghdadis, der sich nur noch von einem Versteck zum nächsten flüchten konnte. Zuletzt hielt er sich in der syrischen Provinz Idlib nahe der türkischen Grenze auf, also weit weg vom Zentrum des ehemaligen Kalifats. Damit hatte er kaum noch Einfluss auf die Strategie oder die Taktik des IS.

Allerdings war ohnehin nicht klar, ob al-Baghdadi die oberste Befehlsgewalt jemals ausgeübt hat. Die Entscheidungsabläufe innerhalb des IS – und die Rolle al-Baghdadis – blieben bis zum Schluss undurchsichtig. Unterstellt man, dass er sämtliche Opera­tio­nen der Jahre 2011 bis 2014 geleitet hat, hätte er in der Tat entscheidenden Anteil am Aufstieg des IS: In Syrien ergriff er die Chancen, die sich mit dem Zerfall des Assad-Staats boten, während er im Irak den Widerstand der irakischen Sunniten gegen die schiitische Regierung in Bagdad ausnutzte.

Die Wende kam, als der IS im Juni 2014 Mossul eroberte. Danach traf al-Baghdadi quasi nur noch Entscheidungen mit desaströsen Folgen. Ohnehin war das Kalifat für andere Mächte eine so große Bedrohung, dass es sich nicht lange halten konnte, aber al-Baghdadi beschleunigte sein Ende, indem er fast der ganzen Welt den Krieg erklärte.

Allerdings waren nicht alle Kräfte in der Region davon überzeugt, dass die Bekämpfung des neuen theokratischen Quasistaats ihren Interessen diene. Die Kurden blieben – im Irak wie in Syrien – anfangs neutral und sahen im Kampf des IS gegen die Regierungen in Bagdad und Damaskus eine willkommene Gelegenheit, ihre eigenen Gebiete zu erweitern. Dann aber attackierte der IS

im Hochgefühl seiner Erfolge auch die Kurden im Irak und in Syrien. Ein fataler Fehler, denn die USA stellten sich auf die Seite der Kurden.

In der Vorstellungswelt al-Baghdadis waren alle außerhalb des Kalifats automatisch Ungläubige. Die Liste seiner Gegner war entsprechend lang und umfasste die USA wie Russland, die syrische Regierung wie die innersyrische Oppo­si­tion jenseits des IS. Auch Länder, die dem IS Hilfestellung geleistet hatten – wie die Türkei, die zugelassen hatte, dass 40 000 IS-Kämpfer über die türkisch-syrische Grenze gelangen konnten –, mussten feststellen, dass solch verdeckte Kooperation keinesfalls die Gewähr bot, von IS-Attacken verschont zu bleiben.

Der IS stellte seine Brutalitäten systematisch im Internet zur Schau. Damit wollte er seine Gegner einschüchtern, was anfangs auch funktionierte. Letztlich mobilisierte er damit aber nur diejenigen, die er bedrohen wollte – wie die irakischen Schiiten, die als Bevölkerungsgruppe dreimal stärker sind als die Sunniten. Bei der numerischen und militärischen Überlegenheit ihrer Gegner war es am Ende unvermeidlich, dass der IS aufgerieben und vernichtet wurde. Wobei diese Niederlage zulasten der gesamten sunnitischen Bevölkerung ging, die in dem nördlichen Gebietsstreifen entlang der türkischen Grenze lebt.

Der Terror des IS hinterlässt auch außerhalb der Grenzen des Kalifats eine Schreckensbilanz: 142 Todesopfer im Jemen nach zwei Bombenanschlägen auf schiitische Moscheen (März 2015); 103 Tote beim Anschlag eines Selbstmordattentäters auf eine Friedensdemonstration in Ankara (Oktober 2015); 224 Opfer, als ein russisches Flugzeug über der Sinai-Halbinsel explodierte (Oktober 2015); 131 Tote bei den Attentaten in Paris (November 2015); 86 Tote beim Lkw-Anschlag in Nizza (Juli 2016); 311 Menschen kostete ein terroristischer Angriff auf eine Moschee im Norden der Sinai-Halbinsel das Leben (November 2017); 149 Menschen starben beim Anschlag eines Selbstmordattentäters auf eine Wahlkundgebung in Pakistan (Juli 2018). Nicht zu vergessen die 8 Toten von London, als ein Lieferwagen auf der London Bridge in eine Gruppe Fußgänger fuhr (Juni 2017).

Die Angst, dass der IS seinen Kampf weiterführen könnte, ist mit dem Verschwinden des IS-Staatsgebildes keineswegs vorbei. Den Menschen in den USA oder in Europa mag das Schicksal der Kurden oder wer in Damaskus oder Bagdad regiert, egal sein; wegen des IS machen sie sich jedoch Sorgen – was heißt, dass sie sich immer noch bedroht fühlen. Deshalb wird Trump versuchen, den Tod al-Baghdadis für seine nächste Wahlkampagne zu instrumentalisieren. Wie es auch Hillary Clinton bei den letzten Wahlen im Fall Osama bin Laden versucht hat, obwohl sie mit dessen Tötung im Mai 2011 herzlich wenig zu tun hatte.

Aber das ist eine gefährliche Strategie. Der IS könnte nämlich alles daransetzen, aufs Neue zu demonstrieren, dass er nicht am Ende ist. Dazu reicht eine spektakuläre Aktion wie die Anschlagserie vom Ostersonntag dieses Jahres in Sri Lanka, wo Selbstmordattentäter bei ihren Angriffen auf drei Kirchen und drei Hotels 259 Menschen töteten und über 500 verletzten.

Der IS als territoriales Gebilde wurde zwar durch seine militärischen Niederlagen – und vor allem durch den Verlust von Mossul und Rakka – zerstört, aber der Tod seines Führers al-Baghdadi macht die Möglichkeit einer Wiederauferstehung in anderer Form keineswegs zunichte. Nach dem Ende bin Ladens hatten die Al-Qaida-Ableger größere Erfolge als in den Jahren, die dieser in Pakistan verbrachte. Al-Baghdadi verkörperte den Sieg des IS, aber eben auch dessen Niederlage.

Will der IS aufs Neue Macht erlangen, braucht er indes neue Methoden und eine andere Ideologie. Und vor allem die Absage an die alte Strategie der Selbstisolierung, nach der alle Muslime zu bestrafen sind, die sich nicht zum IS bekennen. Eine solche ideologische Wende ist nach al-Baghdadis Tod vielleicht sogar wahrscheinlicher geworden.

Einerseits. Andererseits gibt es gewaltige Hindernisse. Bevor der IS seine territoriale Hoheit etablieren konnte, hatten seine Gegner die wachsende Macht der Islamisten beharrlich übersehen oder aber geglaubt, diese zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen zu können. Sie fanden es nicht weiter bedrohlich, als IS-Kämpfer Anfang 2014 Falludscha eroberten und damit nur 50 Kilometer westlich von Bagdad standen, ohne dass die irakische Armee sie vertreiben konnte.

Kurz zuvor hatte Barack Obama – gegenüber David Remnick vom New Yorker – geurteilt, im Vergleich mit al-Qaida sei der IS ein College-Basketballteam, das gegen eine Profimannschaft antreten will. Ein paar Monate später tauchten IS-­Kämpfer aus der Wüste auf, besiegten sechs Divisionen der irakischen Armee und nahmen Mossul ein.

Diesen Fehler wollen die USA und ihre Verbündeten nicht noch einmal begehen. Deshalb lauern sie auf jedes Anzeichen für ein mögliches Comeback der Dschihadisten. Allerdings kann man die Bedrohung, die von diesen ausgeht, auch leicht überschätzen. Um sich als ernstzunehmende Macht in der Region zurückzumelden, müsste der IS mehr zustande bringen als sporadische Guerilla-Überfälle in abgelegenen Landstrichen des Nahen Ostens oder ab und zu ein Massaker an Zivilisten anderswo. Er müsste vielmehr die sunnitischen Volksgruppen in Syrien und im Irak davon überzeugen, dass der bewaffnete Widerstand erneut notwendig und machbar ist.

Neue Verhältnisse im Irak und in Syrien

Von diesen Sunniten sind in den letzten zehn Jahren Millionen Menschen zu Flüchtlingen geworden, nachdem Städte wie Aleppo und Homs, Mossul und Ramadi zu Ruinenlandschaften zerbombt wurden. Laut Statistik des US Central Com­mand1 hat die Anti-IS-Koalition insgesamt 34 573 Luftangriffe auf Ziele in Syrien und im Irak geflogen, von denen praktisch alle in Gebieten mit sunnitischer Bevölkerung lagen. Der erbitterte Widerstand der IS-Kämpfer in Mossul und Rakka hat unzählige zivile Opfer gefordert.

Während der letzten Monate der Belagerung hatte ich Kontakt mit vielen Menschen, die in der Altstadt von Mossul eingeschlossen waren. Niemand von ihnen hat das Ende der Belagerung überlebt. Sie wurden von den Bomben der Al­liier­ten getroffen, wenn sie in ihren Häusern blieben, oder aber von IS-Heckenschützen erschossen, wenn sie zu fliehen versuchten.2

Bis vor Kurzem waren die Aussichten auf ein Comeback des IS also eher bescheiden. Unter dem mörderischen Gewaltregime haben Freunde wie Feinde gelitten, und beide wollen die Erfahrung nicht noch einmal machen. Eine terroristische Organisation zielt mit ihren Aktionen nicht auf breite Zustimmung, aber um Kämpfer für einen neuen Feldzug zu rekrutieren, ist Einschüchterung nicht das beste Mittel.

Ein weiterer Punkt, der noch wichtiger ist: Die Saat des IS gedeiht am besten im Chaos. Wenn sich seine Rivalen gegenseitig an die Gurgel gingen, konnte er das politische und militärische Machtvakuum am besten ausnutzen. Im Verlauf des Jahres 2019 aber hatte sich das Leben in vielen früheren Kampfzonen in Syrien und im Irak allmählich wieder normalisiert. Die chaotischen Zustände schienen zu Ende zu gehen, was für den IS ungünstig war. Doch zumindest im Irak änderte sich das im Oktober wieder.

Am 1. Oktober war ich in Bagdad. Am nächsten Tag wollte ich mich im Gouvernement Diyala umsehen und herausfinden, ob sich der IS in seiner einstigen Hochburg wieder neu organisierte. Am Abend vor meiner Abfahrt hörte ich vom Hotel aus, das zentral in der Nähe des Tahrir-Platzes lag, irgendwo entfernt Schüsse. Ich dachte zuerst an eine Hochzeitsfeier oder ein Fußballmatch, aber dafür dauerte die Schießerei zu lange.

In der Hotellobby berichtete mir ein Mann, der gerade von der Straße hereinkam, dass die Sicherheitskräfte auf Demonstranten schossen. Es habe bereits zehn Tote gegeben. Später kontaktierte ich einen Arzt in der Medical City, einem Krankenhauskomplex in der Nähe des Tahrir-Platzes. Der hielt die Zahl von zehn Toten für zu niedrig; er selbst habe vier Leichen gesehen. Die Regierung sprach von nur einem Toten.

Niemand hatte diesen Gewaltausbruch erwartet. Der Demonstrationszug war an diesem Abend für Bagdader Verhältnisse klein, die vielleicht 3000 Menschen protestierten gegen die Arbeitslosigkeit, gegen Korruption und die schlechte Strom- und Wasserversorgung. Tags zuvor hatte ich vor dem Außenministerium eine Gruppe junger Leute interviewt. Alle hatten einen Hochschulabschluss und forderten, dass sie ihrer Ausbildung entsprechende Jobs bekämen. Sie hatten schon 43 Tage vor dem Ministerium campiert und wollten zur Kundgebung auf dem Tahrir-Platz ziehen, schienen aber mit keinerlei Eskalation zu rechnen.

Proteste auf der Straße sind im Irak seit einigen Jahren ein gängiges Mittel der politischen Auseinandersetzung. 2016 drangen Demons­tran­ten in die stark gesicherte „Grüne Zone“ ein und plünderten das Parlament und den Amtssitz des Pre­mier­ministers.3 Im Juni 2018 steckten Demonstranten aus Protest gegen die mangelhafte Wasser- und Stromversorgung einige Regierungsgebäude und Parteibüros in Brand; nach offiziellen Angaben starben damals 12 Menschen.

Anfang Oktober war die Reaktion der Sicherheitskräfte entschieden anders. Wobei neben der Polizei und der Armee auch paramilitärische Trupps unterwegs waren, die zur proiranischen Fraktion der vorwiegend schiitischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (al-Haschd asch-Scha’bī) gehören. Als die Demonstrierenden versuchten, vom Tahrir-Platz über die Al-Dschumhurija-Brücke auf die Grüne Zone zu marschieren, wurden sie mit scharfer Munition beschossen.

Am nächsten Tag fuhr ich über den Tahrir-Platz, wo sich Protestierende und Soldaten Auge in Auge nervös gegenüberstanden. Auf einem Gehweg sah ich einen reglosen Mann liegen, aber es war nicht zu erkennen, ob er verletzt oder tot war. Am selben Tag verhängte die Regierung eine 24-stündige Ausgangssperre für die 7-Millionen-Einwohner-Stadt Bagdad, aber auch für kleinere und größere Städte im überwiegend schiitischen Süden des Landes.

Um eine weitere Mobilisierung zu verhindern, kappte die Regierung den Zugang zum Internet, was aber nur dazu führte, dass überall in Bagdad kleinere Protestaktionen aufflammten. Meine Kontaktperson in der Medical City schilderte mir, wie proiranische schiitische Milizen in sein Krankenhaus eindrangen und verletzte Demonstranten aus den Betten zerrten und verprügelten. Als er sich bei einem der paramilitärischen Kommandeure beschwerte, bekam er einen Hieb mit dem Schlagstock und die Anweisung, sich nicht einzumischen.

Weil auch die lokalen Medien über die Proteste berichteten, drangen Mitglieder einer proiranischen Gruppe namens Saraya Talia al-Khurasani in mehrere Fernsehstationen ein und demolierten die Sendestudios. Auf den Straßen schoss die Bereitschaftspolizei ihre schweren Tränengasgranaten direkt in die Menschenmenge, was zu zahlreichen schweren und teils tödlichen Verletzungen führte.

Nach Aussagen eines Chirurgen waren viele der Verletzten, die er versorgte, durch gezielte Schüsse auf Kopf und Brust verwundet worden. Die Regierung erklärte zwar, solche Schüsse seien verboten und würden nicht mehr vorkommen, aber sie hatte offensichtlich die Kontrolle über die Sicherheitskräfte verloren. Der exzessive Einsatz von Gewalt erwies sich als kontraproduktiv, denn die Demonstrationen wurden von Tag zu Tag größer. Aber offensichtlich hatte sich die höchste Befehlsinstanz bewusst für das harte Vorgehen entschieden.

Berichten zufolge war diese höchste Instanz der iranische Generalmajor Qassem Soleimani, Kommandeur der Al-Quds-Brigade, einer Eliteeinheit der Iranischen Revolutionsgarden (IRGC). Soleimani war am 2. Oktober in Bagdad gelandet und wurde vom Flughafen mit einem Hubschrauber in die Grüne Zone geflogen, um eine Sitzung des Sicherheitskabinetts zu leiten.

Da diese Rolle eigentlich dem irakischen Regierungschef zusteht, handelte es sich um eine überaus krude Demonstration der Macht, die Teheran im Irak ausübt – oder auch ihrer Arroganz der Macht. Als Architekt der regionalen Sicherheitspolitik Teherans ist Soleimani entschlossen, die Einflussmöglichkeiten seines Landes mit allen Mitteln zu erhalten – auch als Reaktion auf das erklärte Ziel der Trump-Regierung, den iranischen Einfluss einzudämmen.

In letzter Zeit hat der General, der als erfahrener und geschickter Kommandeur gilt, die USA und ihre Verbündeten in der Golfregion wiederholt ausmanövriert. Aber diese Erfolge sind ihm offenbar zu Kopf gestiegen. Bei der Krisensitzung in der Grünen Zone machte er klar, dass es auf die Proteste nur eine Antwort geben könne. „In Iran hatten wir so was auch, und wir haben es unter Kontrolle bekommen“, wurde Soleimani zitiert. Damit meinte er wohl die Niederschlagung der „Grünen Bewegung“, die 2009 im Vorfeld der iranischen Präsidentschaftswahlen aktiv geworden war.

Dass Teheran nach wie vor nicht davor zurückschreckt, auch im eigenen Land gegen kritische Stimmen massiv Gewalt einzusetzen, zeigte sich dann Mitte November. Als Reaktion auf eine massive Erhöhung der Benzinpreise gingen in zahlreichen Städten des Landes die Menschen auf die Straße, um gegen die politische Führung zu demonstrieren. Auch hier antworteten das Regime vorübergehend mit der Abschaltung des Internets und mit scharfer Munition: Zwischen 180 und 450 Menschen sollen bei den Protesten getötet worden sein.4

Im Irak hat die gewaltsame Repression bis Ende November mindestens 400 Todesopfer gefordert. Selbst als Ministerpräsident Adel Abdul Mahdi, ein enger Verbündeter Teherans, am 30. November seinen Rücktritt einreichte, gingen die Proteste weiter. Und sie richten sich immer stärker gegen den Einfluss Irans: Bereits am 3. November hatten Demonstranten das iranische Konsulat in Kerbala, einer heiligen Stadt der Schiiten, in Brand gesteckt; Gleiches geschah Ende November mit dem iranischen Konsulat in Nadschaf.

Wie so viele frühere Polizei- und Militärchefs hat Soleimani die revolutionäre Situation, die er zu verhindern versuchte, nur weiter zugespitzt. „Die Leute zu erschießen bringt nichts“, erklärte mir ein irakischer Freund, „denn viele von ihnen haben einfach nichts mehr zu verlieren.“

In der Tat war Repression in diesem Umfang so unerwartet wie unklug. In den Tagen vor der Kundgebung, bei der die ersten Schüsse fielen, hatte ich mit Kommandeuren mehrerer proiranischer paramilitärischer Gruppen gesprochen. Nicht einer von ihnen sah eine Krise kommen. Ich fragte sie nach ihrer Einschätzung, wie sich die Konfrontation zwischen den USA und Iran auf den Irak auswirken würde. Qais al-Khazali, der Führer der Gruppe Asa’ib Ahl al-Haqq5 , war überzeugt, dass Iran schon wisse, was zu tun sei, damit solche Spannungen nicht zu einer militärischen Auseinandersetzung führen. Im Übrigen werde es keinen Krieg geben, „weil Trump keinen will“.

Mehr Sorgen machte sich Abu Ala al-Walai, Chef der Gruppe Kata’ib Sayyid al-Shuhada und Kommandeur der Militärbasis al-Saqr am Rande von Bagdad. Kurz zuvor hatte ein Drohnenangriff, für den er Israel verantwortlich machte, auf seinem Stützpunkt 50 Tonnen Waffen und Muni­tion vernichtet. Als ich die Anlage besichtigte, die ganz offensichtlich von einer gewaltigen Explosion zerstört worden war, erklärte mir Abu Ala: „Die wichtige neue Entwicklung ist, dass Israel im Irak mitmischt.“ Doch die Reaktion oder besser die Überreaktion der Iraner und ihrer Verbündeten auf die Massenproteste in Bagdad könnte ein Anzeichen dafür sein, dass sie die Ereignisse auf den Straßen im Licht ihres Kampfs mit den USA interpretieren.

Wachsender Zorn in der Region über den Einfluss Teherans

Bereits Ende Oktober hatte der iranische Revolutionsführer Ali Chamenei erklärt, dass „die USA und westliche Nachrichtendienste mithilfe von Geldern aus Ländern des Nahen Ostens Unruhen in der Region schüren“ würden. Auch die Proteste im eigenen Land bezeichnete er als Komplott der Feinde Irans im Inland wie im Ausland. In Richtung Libanon und Irak mahnte er, es sei von höchster Priorität, diese „Bedrohung der Sicherheit“ unter Kontrolle zu bringen.

Die Massenproteste im Libanon begannen am 17. Oktober, nachdem die Regierung versucht hatte, eine Steuer auf die Nutzung von Messenger-Diensten wie WhatsApp einzuführen. Wie im Irak hatte sich die Kritik an ökonomischen und sozialen Missständen schrittweise zu einer allgemeinen Opposition gegen ein korruptes und dysfunktionales politisches System zugespitzt.6 Und wie im Irak gingen proiranische Milizen – in dem Fall Anhänger der Hisbollah – gewaltsam gegen Demonstranten und ihre Protestcamps im Zen­trum Beirut vor.

Im Irak wie im Libanon spüren Iran und seine schiitischen Verbündeten, dass der politische Status quo, für den sie gekämpft haben, auf der Kippe steht. Geleitet von ihrer paranoiden Wahrnehmung, dass der US-amerikanische Feind bei den Protesten seine Finger im Spiel hat, setzen sie auf Repression. Diese Strategie könnte, wenn lange genug durchgehalten, sogar Erfolg haben. Aber nicht, weil die Gewalt stets die Oberhand behält, sondern weil die Protestbewegung weder im Irak noch im Libanon konkrete Vorstellungen darüber entwickelt, wie – oder wodurch – das bestehende diskreditierte System ersetzt werden könnte.

Während sich die krisenhafte Entwicklung im Libanon und im Irak zuspitzte, kam es auch in Syrien zu einer entscheidenden Veränderung. Trump hat schon seit Langem davon gesprochen, dass er seine Soldaten nach Hause bringen oder zumindest aus dem „syrischen Chaos“ herausholen wolle. Jetzt war die Zeit gekommen.

Der Rückzug der etwa 2000 US-Soldaten aus dem Nordosten Syriens begann am 6. Oktober. Diese Einheiten hatten den Auftrag, gegen den IS zu kämpfen, und der IS war besiegt. In Washington hatte das außenpolitische Establishment die Illusion genährt, diese kleine Truppe könne gleich vier Aufgaben auf einmal erledigen: die Kurden beschützen, den iranischen Einfluss zurückdrängen, das Assad-Regime schwächen und Russland abschrecken. Das war von Anfang an unrealistisch.

Trotz ihrer gegenseitigen Abneigung waren Recep Tayyip Erdoğan in Ankara und Baschar al-Assad in Damaskus gleichermaßen entschlossen, den kurdischen Ministaat namens Rojava zu eliminieren. Dieses Staatsgebilde war 2012 mit Unterstützung der U.S. Air Force und einer begrenzten Zahl von US-Bodentruppen entstanden, nachdem sich die syrische Armee aus dem nördlichen Grenzgebiet zurückgezogen hatte.7

Der Rückzug der USA mag unvermeidlich gewesen sein, nicht aber seine chaotische Art und Weise. Im Gegensatz zum Weißen Haus war das Pentagon für die weitere Präsenz in Syrien, ohne klar zu benennen, was man in einer Region wollte, in der mittlerweile Russland, Iran und Assad das Sagen haben. Also hatte das Verteidigungsministerium keine Pläne für einen Rückzug vorbereitet. In dem allgemeinen Chaos zerstörten die US-Truppen ihr eigenes ehemaliges Hauptquartier in einer Zementfabrik bei Manbidsch und überließen andere Militärbasen den Russen und der syrischen Armee.

In den US-Medien wurde Trumps Tweet, mit dem er den Türken grünes Licht für ihre Inva­sion in Rojava gab, verständlicherweise als gigantischer Verrat an den tapfersten Verbündeten der USA dargestellt. Aber in der Region hat die Entscheidung niemanden überrascht. Als türkische Truppen im Januar 2018 die kurdische Enklave Afrin nördlich von Aleppo eroberten und ethnische Säuberungen durchführten, waren keinerlei Einwände zu vernehmen, auch nicht aus den USA. Und Erdoğan hat schon damals klargemacht, dass sein nächstes Invasionsziel Rojava sein würde.

Als Afrin von den Türken eingenommen wurde, war ich gerade in Rojava. Meinen hochrangigen kurdischen Gesprächspartnern war klar, dass es praktisch unmöglich war, sich gleichzeitig gegen Erdoğan und Assad zu behaupten. Das von ihnen kontrollierte Gebiet war topfeben und nicht zu verteidigen, sie hatten also militärisch keine Chance. Ein Großteil der kurdischen Bevölkerung lebte nahe der türkischen Grenze; also würde selbst ein sehr begrenzter türkischer Einmarsch sie zu Flüchtlingen machen. Die Befürchtung ist nunmehr Realität geworden: Etwa 132 000 Menschen sind aus dem Grenzgebiet geflohen.

Nachdem die USA den Kurden ihren Schutz entzogen hatte, wurde erneut die komplizenhafte Beziehung zwischen den Hauptakteuren im Syrien-Konflikt offenbar. Die türkische Invasion beschränkte sich auf ein Gebiet zwischen den Städten Ras al-Ain und Tal Abyad. Es waren nur 6000 reguläre türkische Soldaten beteiligt, der viel größere Teil der Invasionstruppen waren irreguläre Einheiten, die nominell zur Syrischen Nationalen Armee (SNA) gehören, aber dem Kommando der türkischem Armee unterstehen.

Die Aufteilung des eroberten Gebiets verlief aus Sicht ihrer Nutznießer problemlos und flott: Die Türken eroberten ein paar Grenzstädte; die russischen und syrischen Truppen nahmen Städte wie Manbidsch, Rakka und Kobani ein. Erdo­ğan hat sein wichtiges Ziel erreicht: die Aufspaltung Rojovas und die Beendigung der militärischen Allianz zwischen den Kurden und den USA.

Von den letzten beiden Entwicklungen profitiert auch Iran, der Probleme mit den Kurden in seinen eigenen Grenzen hat. Russland wiederum hat seine Position als wichtigster Akteur im ­Syrien-Konflikt gefestigt. Die großen Verlierer sind die Kurden, die eine solche Entwicklung schon immer befürchtet hatten. Sie können heute nur noch versuchen, so viel wie möglich aus den Ruinen Rojavas zu retten und die ethnische Säuberung ihrer Siedlungsgebiete durch die Türken zu begrenzen.

Und der Islamische Staat? Wie sehr kann der IS vom Zusammenbruch der kurdisch-US-amerikanischen Koalition profitieren, gegen die er die letzten fünf Jahre gekämpft hat? Die Turbulenzen werden noch zunehmen, nachdem Trump die bizarre Entscheidung getroffen hat, den Kurs erneut zu wechseln und mehr US-Soldaten an den Öl­feldern im Osten Syriens zu stationieren. All das akkumuliert sich zu einer allgemeinen Konfusion, die der IS in der Vergangenheit für sich ausnutzen konnte.

Die Frage ist, ob er jetzt auch von der Entwicklung im Irak profitieren kann, wo sich die politische Führung einer Rebellion ihrer eigenen schiitischen Gefolgschaft zu erwehren hat. Womöglich ist der IS nicht mehr stark genug, um die Uneinigkeit seiner Feinde auszunutzen. Bewegungen, die auf eine Kombination von ideologischem Fanatismus und militärischen Fähigkeiten bauen, können einen tödlich effektiven Krieg führen. Aber sie brauchen Siege, um die Richtigkeit ihrer Ideologie immer wieder zu bestätigen. Solche Siege scheinen heute in weite Ferne gerückt. Andererseits könnte das Ende von al-Baghdadi auch dazu führen, das der IS nun eher in der Lage ist, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen.

1 Das U.S. Central Command ist für die „Central Region“ zuständig, worunter das Pentagon den Nahen und Mittleren Osten (einschließlich Ägyptens und der postsowjetischen Staaten Zentralasiens) versteht. Das Hauptquartier des US-Kommandos Centcom ist auf der MacDill Air Force Base in Tampa, Florida.

2 Siehe Patrick Cockburn, „Die Belagerten von Mossul“, LMd, September 2017.

3 Die sogenannte Grüne Zone hatten die Amerikaner 2003 nach ihrem Einmarsch in Bagdad rund um den Sitz der irakischen Übergangsregierung eingerichtet. In ihr liegen auch das Parlament und zahlreiche Botschaften.

4 Farnaz Fassihi und Megan Specia, „Iran Used Firearms in Deadly Crackdown on Protesters, Officials Admit“, New York Times, 3. Dezember 2019.

5 Diese radikale schiitische Miliz (der Name bedeutet „Liga der rechtschaffenen Leute“) ist auch in Syrien aktiv.

6 Siehe Jakob Farah, „Beirut – Aufstand gegen des Status quo“, LMd, November 2019.

7 Siehe Mireille Court und Chris den Hond, „Die Grenzen von Rojava, LMd, Dezember 2018.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Patrick Cockburn ist Korrespondent des Independent und Autor, zuletzt erschien von ihm auf Deutsch: „Chaos und Glaubenskrieg“, Wien (Promedia) 2017.

©  London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.12.2019, von Patrick Cockburn