07.11.2019

Modi und seine Komplizen

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Modi und seine Komplizen

In Indien ist Korruption das Fundament der Politik – quer durch alle Parteien

von Jean-Luc Racine

Unterstützer des Bürgerrechtlers Anna Hazare in Neu-Delhi, August 2012 MANISH SWARUP/ap/dapd
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Nach dem Terroranschlag in Kaschmir im Februar dieses Jahres und den darauffolgenden Zusammenstößen zwischen indischen und pakistanischen Truppen präsentierte sich der indische Premierminister Narendra Modi seinem Volk als Chowkidar (Wächter) der Nation. Sein politischer Gegner Rahul Gandhi, Vorsitzender der Kongresspartei, antwortete darauf umgehend: „Dieser Wächter ist ein Dieb.“ Damit hatte er zwar bei den Wahlen im Mai, bei denen Modi eine noch größere Mehrheit einfuhr als 2014, nicht den gewünschten Erfolg.1 Dennoch ist es eine Tatsache, dass Korruption im politischen Leben Indiens wie auch im Alltag eine Konstante ist.

Über die großen Skandale hinaus, die von den Medien ausführlich behandelt werden, ist Indien dasjenige Land im asiatisch-pazifischen Raum, in dem Bestechung am weitesten verbreitet ist. Die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft leiden darunter am stärksten: 73 Prozent der Armen müssen nach Angaben von Transparency International mindestens einmal im Jahr Schmiergelder bezahlen, unter den Wohlhabenderen hingegen nur 55 Prozent.2 Bei dieser Form der Korruption geht es darum, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen zu erhalten, wie zum Beispiel der Ausstellung amtlicher Dokumente, polizeilicher Unterstützung, der Anmeldung von Stromanschlüssen oder der medizinischen Behandlung im Krankenhaus.

Doch auch seitens der Unternehmen sind viele Klagen über den Zwang zu illegalen Zahlungen zu hören. Zugleich sind viele Konzerne selbst in spektakuläre Korruptionsfälle verwickelt; so mancher Firmenchef hat sich ins Ausland abgesetzt. Dank der engen Verbindungen zwischen Politikern und ihren im Verborgenen agierenden Finanziers wächst und gedeiht das „Reich der Milliardäre“, wie der Journalist James Crabtree diese Netzwerke nennt.3

Modis Partei, die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP), träumt von einem Indien ohne die Kongresspartei. Sie kritisiert nicht zuletzt die dynastische Struktur dieser Partei, die die politische Landschaft seit der Unabhängigkeit 1947 dominiert. Sie wirft der Kongresspartei auch vor, sich bei den Muslimen anzubiedern, und verweist auf die zahlreichen Skandale in ihrer Regierungszeit. Rajiv Gandhi, der Vater von Modis Wahlgegner Rahul Gandhi, sei „von seinen Höflingen stets als ‚Saubermann‘ dargestellt worden, dabei hat er sein Leben als Nummer eins der Bestechlichkeit beendet“.4

Die Behauptung spielt auf recht geschmacklose Weise – Rajiv Gandhi wurde bei einem Selbstmordattentat getötet – auf den Bofors-Skandal an: Der Vertrag über die Lieferung von Haubitzen des schwedischen Waffenkonzerns an Indien war durch hohe Schmiergeldzahlungen an Mittelsmänner, Politiker und Beamte des Verteidigungsministeriums zustande gekommen. Der 1987 aufgedeckte Fall trug zu Rajiv Gandhis Niederlage bei den Parlamentswahlen 1989 und zur Spaltung der Kongresspartei bei. 2004 sprach ihn der oberste Gerichtshof in Delhi jedoch von den Vorwürfen frei.

Mit der 1991 durch die Kongresspartei eingeleiteten Liberalisierung des bis dahin staatlichen gelenkten Wirtschaftssystems sollte das „Reich der Genehmigungen“, in dem Unternehmen für jedes Projekt das Einverständnis der Behörden einholen mussten, zerschlagen und so die endemische Korruption bekämpft werden. Die neue wirtschaftliche Dynamik brachte jedoch eine andere Form der Korruption in den für den Privatsektor geöffneten Geschäftsfeldern hervor – so etwa bei der Versteigerung der Lizenzen für den 2G-Mobilfunk in den Jahren 2007 und 2008 oder beim sogenannten Coal­gate-­Skandal: In der Regierungszeit von Manmohan Singh von der Kongresspartei (2004–2014) wurden zwischen 2004 und 2009 Kohlelagerstätten an private Unternehmen ohne vorherige Ausschreibung zur Ausbeutung vergeben. Die Verluste für die Regierung beliefen sich auf mehrere Milliarden Dollar.

Die Ermittlungen in diesen beiden Fällen nahm ein Aktivist namens Anna Hazare 2011 zum Anlass für einen Hungerstreik, um der Forderung nach einem Antikorruptionsgesetz Nachdruck zu verleihen. Die Gesetzesinitiative sah unter anderem die Schaffung eines Ombudsmanns (Lokpal) für Fälle vor, an denen Beamte und Minister beteiligt sind. Hazare löste mit seiner Aktion eine massive Protestbewegung aus, die in der Presse ein starkes Echo fand. Gerade waren mehrere Medienhäuser ihrerseits durch Fälle von Einflussnahme erschüttert worden, in denen Politiker für wohlwollende Berichterstattung über ihre Aktivitäten bezahlt hatten.5

Die Bewegung verbreitete sich über weite Teile des Landes und führte zur Gründung der „Partei des einfachen Mannes“ (Aam Aadmi Party), die 2013 die Wahlen in der Hauptstadt gewann, sich allerdings auf nationaler Ebene nicht etablieren konnte. Im Fall der 2G-Mobilfunkauktion wurden am Ende alle Beteiligten freigesprochen, und kein Richter verurteilte Premier Singh wegen des „Coalgate“-Skandals. Gleichwohl trugen die beiden Fälle zur Niederlage der Kongresspartei bei den Parlamentswahlen 2014 bei. Die Ironie der Geschichte ist, dass es Singh war, der 2013 das Lokpal-Gesetz durchs Parlament gebracht hatte, sein Nachfolger Modi den ersten Ombudsman aber erst im März 2019 ernannte – kurz vor den anstehenden Wahlen.

Die Kongresspartei sah 2015 mit der Rafale-Affäre ihre Stunde der Rache gekommen. Damals kündigte Modi einen 2012 unter der Singh-Regierung geschlossenen Vertrag über die Anschaffung von 126 französischen Kampfjets, von denen 108 in Indien in einem Joint Venture mit dem staatlichen Luft- und Raumfahrtkonzern Hindustan Aeronautics Ltd. (HAL) produziert werden sollten. Stattdessen wollte Modi nun 36 Flugzeuge direkt beim französischen Hersteller Dassault kaufen. Der viel höhere Stückpreis und die Tatsache, dass die bei solchen Geschäften vorgesehenen Ausgleichszahlungen an die heimische Industrie zum größten Teil an den regierungsnahen indischen Konzern Reliance ADA fließen sollten, warfen einige Fragen auf.

Der indische Rechnungshof zog die Ermittlungen über den Vorgang, der direkt im Büro des Premierministers bearbeitet worden war,an sich.6 Von finanziellen Zuwendungen ist zwar nichts bekannt, aber der Fall nährt den häufig gegen Modi erhobenen Vorwurf des „Kapitalismus der Komplizen“, einer Speziwirtschaft, in der viel Geld für Modis Wahlkampagnen gespendet wird. Die noch laufenden Ermittlungen hatten jedenfalls keinen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Parlamentswahlen.

Die BJP punktete hier nicht nur mit ihrer gegen Pakistan gerichteten Sicherheitsrhetorik, sondern auch mit dem Thema Korruptionsbekämpfung, in ihrem Wahlkampf hob sie dabei vor allem zwei Punkte hervor: Zum einen die vielen nach 2014 ins Leben gerufenen Programme zur effektiveren sozialen Unterstützung für arme Familien, denen zum Beispiel zum ersten Mal der Zugang zu einem Bankkonto ermöglicht wurde (viele der Maßnahmen stammten noch von der Kongresspartei und waren nur umbenannt oder leicht abgewandelt worden.) Die Ergebnisse der Maßnahmen sind unter Experten und Politikern umstritten – der Einsatz digitaler Technologien (etwa bei Überweisungen) wurde jedoch als sicheres Mittel verkauft, um die üblichen Kanäle für Bestechungsgelder an staatliche oder private Stellen auszutrocknen.

Zum anderen griff die Regierung 2016 zu einer drastischen und überraschenden Maßnahme: Die großen Banknoten (500 und 1000 Rupien) wurden entwertet. Diese übereilte Entscheidung, die immerhin 86 Prozent der im Umlauf befindlichen Geldmenge betraf, hatte äußerst negative Auswirkungen auf die indische Wirtschaft, die von Klein- und Kleinstbetrieben dominiert wird. Die Mehrheit der Arbeitsplätze sind informeller Art, werden also bar entlohnt. Den offiziellen Erklärungen zufolge sollte die Maßnahme das Schwarzgeld der Reichen, Korrupten, der Fälscher und Terroristen wertlos machen. Tatsächlich aber gab die indische Zentralbank 2017 bekannt, dass 99 Prozent der entwerteten Banknoten umgetauscht wurden, was die ­Argumente der Regierung zunichte machte.

Dass die BJP die Wahl gewann, mag auch daran liegen, dass es keine Partei gibt, die eine bessere Bilanz im Hinblick auf die Korruptionsbekämpfung zu bieten hätte. Mehrere Chefs regionaler Parteien wurden wegen Bestechlichkeit verurteilt, wie Laloo Prasad Yadav in Bihar oder Jayalalitha Jayaram in Tamil Nadu, ohne dass dies die jeweiligen Parteien nachhaltig beschädigt und die Bürger davon abgehalten hätte, weiterhin wählen zu gehen. Die Wahlbeteiligung erreichte bei den letzten Parlamentswahlen trotzdem 67 Prozent.

Zwischen 2014 und 2018 verbesserte sich Indien in der globalen Korruptionsrangliste um sieben Plätze und steht nun auf Platz 78, vor China (Platz 87), Brasilien (105) und Russland (138).7 Die Bevölkerung verabscheut diese Plage, doch Politiker jeglicher Couleur scheinen sich keineswegs in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt zu fühlen. Nach Angaben der NGO Association for Democratic Reforms (ADR), die sich für Transparenz bei Wahlen einsetzt, laufen gegen immerhin 43 Prozent der Abgeordneten im gegenwärtigen indischen Parlament Ermittlungsverfahren.8

1 Christophe Jaffrelot, „Indien im Griff der Hindu-­Nationalisten“, LMd, Juli 2019.

2 Transparency International, „People and corruption: Asia Pacific“, Berlin 2017.

3 James Crabtree, „The Billionaire Raj: A Journey through India’s New Gilded Age“, New York (Tim Dug­gan Books) 2018.

4 Press Trust of India, „Narendra Modi says Rajiv Gandhi’s life ended as ‚corrupt n°1’ ”, 5. Mai 2019.

5 Siehe Benjamin Fernandez, „Jutekönig und Pressezar“, LMd, Mai 2014.

6 Siehe Romain Mielcarek, „Frankreichs Großmachtträume in Südostasien“, LMd, Dezember 2018.

7 Transparency International, „Corruption perception index: global scores“, Berlin 2018.

8 „43 % of newly-elected Lok Sabha MPs face criminal charges: Report“, Association for Democratic Reforms, Neu-Delhi, 18. Juni 2019. Die 1999 von Wissenschaftlern gegründete NGO setzte 2003 vor dem obersten Gerichtshof durch, dass alle Wahlkandidaten über ihre Vorstrafen, Ermittlungen gegen sie und ihre finanziellen Mittel Auskunft geben müssen.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Jean-Luc Racine ist wissenschaftlicher Leiter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Forscher am Asia Centre Paris.

Le Monde diplomatique vom 07.11.2019, von Jean-Luc Racine