Schutzlos in Russland
Gewalt gegen Frauen wird nach wie vor als Privatangelegenheit betrachtet und allenfalls mit einem Bußgeld geahndet
von Audrey Lebel
Der Fall der Chatschaturyan-Schwestern Krestina, Angelina und Maria beschäftigt ganz Russland. Am 27. Juli 2018 hatten die drei jungen Frauen, damals 19, 18 und 17 Jahre alt, ihren Vater getötet, der sie jahrelang sexuell missbraucht und misshandelt hatte. Als bekannt wurde, dass den drei Schwestern eine Haftstrafe von 20 Jahren droht, startete die bekannte Bloggerin und Aktivistin Alena Popova eine Kampagne gegen sexuelle Gewalt, der sich Millionen Russinnen anschlossen. Sie schminkten ihre Gesichter mit Wunden und blauen Flecken und posteten die Fotos auf Instagram, Twitter und Vkontakte (Russlands „Facebook“).
Laut der letzten amtlichen Erhebung sind in Russland 16 Millionen Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt.1 Bei dieser repräsentativen Umfrage unter 10 000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren gab eine von fünf Befragten an, mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt seitens ihres Partners erfahren zu haben. Dem Frauenzentrum Anna zufolge, der ersten, 1993 gegründeten Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt, stirbt alle 63 Minuten eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Das sind über 8300 Tote pro Jahr.
Russland ist eines der wenigen Länder, in dem es kein adäquates Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt gibt. Von den 47 Mitgliedstaaten des Europarats haben allein Russland und Aserbaidschan 2011 nicht die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ratifiziert.
Im Juli 2019 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) diesbezüglich zum ersten Mal eine Strafe gegen Russland verhängt. Es soll 20 000 Euro Entschädigung an Waleria Wolodina zahlen, die sich an den EGMR gewandt hatte, weil sie sich von ihrem Staat nicht ausreichend vor häuslicher Gewalt geschützt sah. In der Urteilsbegründung hieß es, die russische Regierung würde sich weigern, die Schwere des Problems anzuerkennen. Vier ähnlich gelagerte Fälle sind noch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.
Dieser blinde Fleck in der russischen Gesetzgebung gehört zu den Hinterlassenschaften der Sowjetära. Dabei hatte sich die UdSSR bei ihrer Gründung 1922 noch zur Avantgarde im Kampf um die Frauenrechte erklärt; die Bolschewisten führten schon 1917 das Frauenwahlrecht ein und legalisierten die Scheidung. Und 1920 war die Russische Sowjetrepublik der erste Staat, in dem Schwangerschaftsabbrüche offiziell erlaubt waren – eine Errungenschaft, die auf Alexandra Kollontai (1872–1952) zurückgeht, die 1917 das Volkskommissariat für Sozialfürsorge leitete und sich – sie war damals selbst alleinerziehende Mutter – für die Einrichtung von Kindergärten, Volksküchen und Wäschereien einsetzte.
In den 1930er Jahren nahm Josef Stalin (1878–1953) all diese Errungenschaften jedoch wieder zurück. „Die Frauenfrage und die sexuelle Frage galten offiziell als gelöst“, erklärt die Soziologin Mona Claro. „Die sowjetische Familie hatte von nun an stabil und fruchtbar zu sein.“2 1936 wurden Schwangerschaftsabbrüche verboten und Scheidungen erheblich erschwert. Erst nach Stalins Tod wurden die Zügel wieder gelockert. Seit 1955 waren Abtreibungen wieder legal, und zehn Jahre später wurden auch die Scheidungsverfahren erleichtert.
Dennoch blieben die jeweiligen Machthaber besessen von der demografischen Frage. „Die sozialistische Gesellschaft legt großen Wert darauf, die Mutterschaft zu schützen und zu fördern sowie eine glückliche Kindheit zu garantieren“, heißt es in den 1968 verabschiedeten Grundlagen der Ehe- und Familiengesetzgebung. Kinderlose Paare konnten sich per amtlicher Erklärung einfach scheiden lassen. Doch sobald es Nachkommen gab, war die Ehe keine reine Privatangelegenheit mehr, aus der sich der Staat herauszuhalten hatte.
Männer, die ihre Frauen schlugen, waren keine sexistischen Machos, sondern nur „ ‚schlechte Sowjets‘, die sich dem Alkohol hingeben oder die vorrevolutionäre Familientraditionen fortsetzen“, schreiben die Soziologinnen Françoise Daucé et Amandine Regamey. Und so ist es bis heute geblieben: „Für die Polizei ist Gewalt unter Partnern entweder ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder ein ‚Familienskandal‘, bei dem die Intervention der Ordnungskräfte in erster Linie eine Versöhnung herbeiführen soll.“3 Vor allem, wenn Kinder da sind.
Nach der Wende kämpften die in den 1990er Jahren neu gegründeten Frauenorganisationen darum, Präventionsmaßnahmen gegen eheliche Gewalt westlichen Standards anzupassen. Unter internationalem Druck gab es in den 1990er Jahren, 2012 und 2014 mehrere Anläufe zur Verabschiedung eines Gewaltschutzgesetzes. Im Juli 2016 machte die Regierungsmehrheit schließlich einen zaghaften Schritt nach vorn: Einen „Angehörigen“ (Partner, Kind, Bruder oder Schwester) zu schlagen, stellte fortan einen erschwerenden Umstand dar (Artikel 116, Strafgesetzbuch).
Allerdings zeigt die Verwendung des Begriffs „Angehöriger“ deutlich, wen der Gesetzgeber vor Gewalt schützen wollte: die Familie, nicht die Frauen. Gleichzeitig senkte das Gesetz die Strafen für Gewalttaten Unbekannter im öffentlichen Raum (außer im Wiederholungsfall) – was angesichts der überfüllten Gefängnisse in dem für sein strenges Strafrecht berüchtigten Land eine mehr aus der Not geborene Maßnahme war.
Die entsetzte Reaktion der Kirche ließ nicht lange auf sich warten: Ein Unbekannter, der auf der Straße einen Passanten anfällt, soll keine Gefängnisstrafe fürchten müssen, während ein Vater, der sein Kind züchtigt, hinter Gittern landen kann? „Pflichtbewussten Eltern wird mit einer Haftstrafe von bis zu zwei Jahren gedroht, wenn sie in der Kindererziehung irgendeine Form von körperlicher Gewalt anwenden, und sei diese noch so maß- und sinnvoll“, empörte sich der Ausschuss für Familienangelegenheiten des russischen Patriarchats auf seiner Internetseite.
Die Duma-Abgeordnete Jelena Misulina („Gerechtes Russland“) kämpfte an vorderster Front dafür, dass der Begriff des „Angehörigen“ aus dem „Ohrfeigengesetz“, wie sie es nannte, gestrichen wurde. Sie wollte lieber den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen beschränken oder Gebühren für Scheidungen erheben. Häusliche Gewalt, erklärte sie, sei „nicht das größte Problem in den Familien, sondern im Gegensatz fehlende Zärtlichkeit und mangelnder Respekt seitens der Frau. Wir Frauen sind schwache Wesen, wir sind nicht beleidigt, wenn man uns schlägt. Wenn ein Mann seine Frau schlägt, ist das nicht dieselbe Kränkung, als wenn ein Mann gedemütigt wird.“4
Der reaktionäre Widerstand erreichte sein Ziel: Jede Erwähnung eines „Angehörigen“ ist seit 2017 aus dem Strafrecht verschwunden. Der Kreml ließ durch seinen Sprecher verkünden, dass „bestimmte Handlungen innerhalb der Familie als ‚häusliche Gewalt‘ zu qualifizieren, letztlich bedeute, die Dinge in rechtlicher Hinsicht zu dramatisieren“. Weil die familiäre Verbindung zwischen Täter und Opfer nun keinen erschwerenden Umstand mehr darstellt, werden die Schläge der Ehemänner (außer sie ziehen einen Krankenhausaufenthalt nach sich) lediglich mit einer einfachen Geldstrafe von 5000 Rubel (umgerechnet etwa 70 Euro) geahndet.
„Der gleiche Betrag wie für Falschparken oder Verstoß gegen das Rauchverbot an öffentlichen Orten“, empört sich Julia Gorbunowa, Verfasserin des Human-Rights-Watch-Berichts „ ‚Ich könnte dich töten und niemand würde mich aufhalten‘ “. Im Wiederholungsfall kann die Strafe – die meistens vom Familienkonto der Paare überwiesen wird – auf 30 000 Rubel (410 Euro) ansteigen, einschließlich zwei Wochen Haft.
In Russland wird nicht wirklich etwas getan, um Frauen vor einem gewalttätigen Partner zu schützen. Die Anlaufstelle Kitesch für Opfer häuslicher Gewalt liegt etwa zwei Autostunden von Moskau entfernt. Seit ihrer Eröffnung 2013 beherbergt die private Einrichtung 30 bis 40 Frauen und deren Kinder – doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Polizei reagiert mit Spott und Nichtstun
Nach offiziellen Angaben5 gab es in ganz Russland 2010 lediglich 22 Wohnheime. Hinzu kommt, dass die Frauen in der Stadt, in der sie leben, untergebracht werden sollen, was für die Mehrheit von ihnen schlicht unmöglich ist. „Ich muss ständig Zufluchtsuchende abweisen“, klagt die Leiterin von Kitesch, Aliona Sadikowa. „Ich schicke sie ungern in kirchlich oder auch staatlich geführte Einrichtungen, weil die auf Versöhnung, Vergebung und Verständnis zwischen den Partnern setzen, was der komplett falsche Weg ist.“
Die Reaktionen der russischen Polizisten bewegen sich dabei zwischen Leugnung und Verhöhnung, Spott und Nichtstun. Waleria Wolodina, die erste Russin, die sich deswegen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt hat, musste sich, als sie bei der Polizei die brutalen Übergriffe ihres Partners angezeigt hat, immer wieder anhören, es handele sich um einen „Streit unter Liebenden“.
Außer dem Abgeordneten der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation Juri Sineltschikow, der während der Duma-Debatte um Artikel 116 daran erinnerte, dass „die russischen Traditionen nicht darin bestehen, die Frauen mit der Peitsche zu erziehen, wovon einige uns zu überzeugen versuchen“, protestierten nur wenige Parlamentarier. Andrei Issajew von der Regierungspartei Einiges Russland machte im Gegenteil klar, seine Parteifreunde und er würden „die Exzesse, die wir in Westeuropa beobachten, nicht kopieren“.
Die traditionellen russischen Werte gegen den dekadenten Westen auszuspielen, der angeblich versucht, über ausländische Agenten seine Weltanschauung durchzusetzen, ist schon seit Jahren ein beliebter Topos in Russland. Die Elternaktivistin Wera Nikolajewna ist sich beispielsweise ganz sicher: Wäre der Begriff „Angehöriger“ nicht aus Artikel 116 gestrichen worden, würden „Eltern wegen eines Klapses auf den Po ins Gefängnis geschickt, wie es in Europa der Fall ist. Dann wären unsere Kinder von schwulen europäischen Paaren adoptiert worden.“
Keine Rolle spielt, dass Frauen weiterhin ungeschützt ihren brutalen Ehemännern ausgeliefert sind. Oder dass selbst der Innenminister Wladimir Kolokolzew im Dezember 2017 eingestand, dass eine Geldstrafe wohl keine wirksame Prävention gegen häusliche Gewalt sei.
Inzwischen wurden die Chatschaturyan-Schwestern bis zum 28. Dezember aus der Untersuchungshaft in den verschärften Hausarrest – ohne Zugang zu Telefon und Internet – entlassen. Vielleicht wird dieser Fall am Ende dazu beitragen, dass sich die Gesetzgebung zu häuslicher Gewalt in Russland ändert.
4 Auf dem Privatsender Dojd, 28. September 2016.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Audrey Lebel ist Journalistin.