Warum China den Kapitalismus nicht erfand
von Alain Bihr
In China entwickelten sich bestimmte für die Herausbildung kapitalistischer Produktionsbeziehungen günstige Bedingungen, schon Jahrhunderte bevor sie in Westeuropa auftauchten. Zudem besaßen die Chinesen „von der Antike bis ins Mittelalter einen technologischen Vorsprung“, wie der Historiker Robert Temple schreibt.1 Warum also wurde der Kapitalismus nicht im Reich der Mitte geboren?
Die Hindernisse im kaiserlichen China bestanden in erster Linie in der Regelung des Grundbesitzes. Ob während der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.), unter den ersten Tang (618–755) wie zu Beginn der Song-Zeit (960–1270) – immer war Grundbesitz das unangefochtene Monopol der Kaiser. Danach entwickelte sich private Aneignung von Grund und Boden, einmal in der Form von „aristokratischem“ Besitz (von Mitgliedern der kaiserlichen Familie und ihren Verbündeten, Eunuchen am Hof, hohen zivilen und militärischen Beamten, Patriziern) und dann als bäuerlicher Besitz von Parzellen, ohne dass jedoch echtes Privateigentum vorlag.
Der „aristokratische“ Besitz änderte aber nichts am kaiserlichen Monopol. Beamte bekamen Ländereien oder die Einnahmen daraus als Gegenleistung für ihre Dienste; es handelte sich folglich um einen Nießbrauch und nicht um privates Eigentum im eigentlichen Sinn. Grundbesitz von Eunuchen und hohen Beamten wurde als kaiserliche Gunst gewährt und konnte jederzeit widerrufen werden. Übertragungen an Mitglieder adliger Familien waren etwas sicherer (theoretisch auch vererbbar), doch abhängig von ihrer Stellung oder ihren Beziehungen zur Staatsspitze: Eine Palastrevolution oder ein Bruch der dynastischen Linie konnte den Verlust zur Folge haben.
Den bäuerlichen Familien war die Nutzung ihrer Parzelle durch den Staat garantiert – ein Recht, das von Generation zu Generation weitergegeben werden, aber unter Umständen auch erlöschen konnte. Grund und Boden blieben alleiniges Eigentum des Staates, der im Gegenzug Fronarbeit und Militärdienst, Naturalien (ein Teil der Ernte) oder Geld verlangte und der allein befugt war, Bauern ihren Besitz wegzunehmen, wenn sie ihre Verpflichtungen nicht erfüllten.
Weitere Hindernisse für die Entstehung eines chinesischen Kapitalismus waren Faktoren, die der Akkumulation von Kapital und der Herausbildung einer Bourgeoisie entgegenstanden. Im Gegensatz zur Freiheit der Bürger europäischer Städte wurden die chinesischen Gemeinden von Vertretern der Zentralgewalt regiert, ihre wichtigste Funktion war es, Sitz der Repräsentanten der Macht zu sein; die Gilden der Händler und die Zünfte von Handwerkern besaßen in ihnen keinerlei Mitspracherecht.
Handel ist eine entehrende Betätigung, lehrt Konfuzius
Bürgertum und Handelskapital wurden von der kaiserliche Macht, die selbst Monopole (je nach Epoche auf Salz, Alkohol, Tee, Bergbau oder Außenhandel) besaß, eher eingeschränkt als gefördert. Händler und Kaufleute war es verboten, Grundbesitz zu erwerben oder öffentliche Ämter bekleiden. Allerdings gab es zahlreiche Möglichkeiten, diese Verbote zu umgehen, die auch genutzt wurden. Das Kaisertum misstraute jedoch grundsätzlich dem Handel; es überwachte und kontrollierte die Aktivitäten chinesischer und vor allem ausländischer Kaufleute sehr genau.
Die Kultur der Kaiserzeit hielt absolut nichts vom Handel mit Waren oder Geld, von Bereicherung durch ihn und der Akkumulation von entsprechendem Kapital. Der Konfuzianismus lehrt im Gegenteil, dass Handel eine entehrende Betätigung sei, auch wenn er für die Versorgung von Städten und Armeen mit lebensnotwendigen Gütern nötig sein könne. In der konfuzianischen Hierarchie der vier Stände stehen die Kaufleute auf der untersten Stufe, hinter Gelehrten, Bauern und Handwerkern. Und von allen Formen von Handel ist der mit dem Ausland am meisten verachtenswert, weil er nahelegt, dass China nicht autark sei – und das bedeutete eine Beleidigung der kaiserlichen Würde.
Die alles belegt, dass der kommerzielle Warenaustausch in der Wirtschaft des kaiserlichen China eine untergeordnete Rolle spielte. Das Wachstum der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion stärkte zwar intensive Tauschbeziehungen im Inneren wie nach außen, für das sozioökonomische Gleichgewicht waren sie aber nicht unbedingt nötig. Das erklärt die relative Autarkie ländlicher Gemeinden in China, die nur wenig Verkehr mit der Außenwelt brauchten, obwohl er ihnen durchaus nützlich sein konnte.
In der Zeit der größten Öffnung Chinas zum pazifischen Raum unter der Song-Dynastie des Südens ernährte die Keramikindustrie in Fujian, die ausschließlich für den Export produzierte, gerade einmal 2 Prozent der Familien.2 Das steht im Gegensatz zur früheren Entstehung einer Diaspora chinesischer Händler in der Tang-Zeit rund um das Chinesische Meer und den Indischen Ozean. Ab der Song-Zeit (960–1279) nahm diese eine Vorrangstellung im ostpazifischen Handel ein. Es ist geradezu symptomatisch, dass chinesische Kaufleute mit kapitalistischem Instinkt nur außerhalb des Kaiserreichs Gelegenheit und Mittel fanden, sich zu verwirklichen.
Ein dritter Komplex von Hindernissen hängt mit der Entwicklung von Kapital im Allgemeinen zusammen. Da ist zunächst das kaiserliche Monopol auf Eigentum. Jede Form von Besitz (Grund, mobile und immobile Güter), selbst der erbliche Besitz eines Geschlechts, war letztlich das ausschließliche Eigentum des Kaisers und damit des Staats. Es kam nicht selten vor, dass die Staatsmacht und ihre Vertreter Besitz konfiszierten, nachvollziehbar etwa zur Versorgung von Truppen, aber auch willkürlich.
Eine Stellung als Grundbesitzer, hoher Beamter oder irgendwie wichtige Persönlichkeit konnte genutzt werden, um Beteiligungen am Kapital von Handels- oder Produktionsunternehmen zu erzwingen,3 um Familien (insbesondere von Kaufleuten), die als übermäßig reich und folglich zu mächtig erschienen, mit hohen Abgaben zu belegen, ihnen Zwangskredite abzupressen, die nicht unbedingt zurückgezahlt wurden, oder sie schlicht zu enteignen. Deshalb waren die Handel treibenden Patrizier sehr darauf bedacht, einen Teil ihres Vermögens durch Stiftungen für Klöster in Sicherheit zu bringen; ohne Zweifel wurde ihre Begeisterung für die Akkumulation von Kapital immer wieder gedämpft.
Weil es kein echtes Privateigentum gab, kannte das kaiserliche China auch kein bürgerliches Recht, obwohl sich durchaus Vertragsbeziehungen zwischen „Eigentümern“ (Grundeigentümern, Handeltreibenden oder Industriekapitalisten) entwickelten. Das während der Tang-Dynastie (624–657) kodifizierte Recht war ausschließlich Strafrecht.
Für die Bildung von Industriekapital gab es noch zwei zusätzliche Hindernisse. Das erste hing mit dem juristisch-ökonomischen Status der Arbeitskräfte zusammen. Im Prinzip konnten die Herrschenden, Beamte und Inhaber von Nutzungsrechten an Grund und Boden nach Belieben über die Arbeitskräfte verfügen, die reichlich vorhanden waren. So wurden riesige Projekte begonnen: der Bau und Unterhalt von gewaltigen Kanalsystemen für die Binnenschifffahrt; von Befestigungsanlagen (wie der Chinesischen Mauer), von kaiserlichen Palästen, von Brücken und Straßen und vielem mehr.
Man dachte eben gar nicht daran, sparsam mit Arbeitskraft umzugehen. Bis in die Ming-Zeit (1368–1644) und die Qing-Zeit (1644–1911) blieb Menschenkraft der wichtigste Motor in der Landwirtschaft wie in der Industrie Chinas. Oft zogen Menschen (Männer wie Frauen) den Pflug in den Reisfeldern, Menschen trugen andere Menschen in Sänften, manchmal über hunderte Kilometer von einer Stadt zur anderen. Menschen zogen oder schoben Fahrzeuge und treidelten Schiffe. Überraschend ist, wie wenig mechanische Antriebe – etwa Wind- oder Wassermühlen – genutzt wurden, obwohl das Land technologisch einen beachtlichen Vorsprung vor Europa besaß.
Hinzu kommt, dass die Gesellschaften der Ming- und der Qing-Dynastie ohne die Netzwerke gelehrter Vereinigungen auskommen mussten, wie sie europäische Intellektuelle von der Renaissance bis zur Aufklärung zum Austausch nutzten. In China fehlte auch hier eine autonome Zivilgesellschaft; der Konservatismus und die autoritäre Haltung der gebildeten Mandarinschicht, die jeglichen Fortschritt ablehnte und sich an ihre Klassiker hielt, erstickte solche Bestrebungen. Auch kannte China keine Tradition der öffentlichen Erörterung.4
Folgende These liegt nahe: Als sich China um die Mitte des 15. Jahrhunderts vom pazifischen Außenhandel abschottete, verpasste es die historische Gelegenheit, die bereits rudimentär vorhandenen kapitalistischen Produktionsbeziehungen sich entwickeln zu lassen. Das dürfte der entscheidende Wendepunkt in der chinesischen Geschichte gewesen sein, der dazu führte, dass ein Großteil der früheren Errungenschaften fruchtlos wurde und das Land seinen historischen Vorsprung einbüßte. Mit den Expeditionen des Admirals Zheng He5 war das Kaiserreich kommerziell und schließlich kolonialistisch in das Gebiet der beiden chinesischen Meere (nach Korea, Japan, den Philippinen, Indochina) und nach Indien und Afrika vorgedrungen – die Portugiesen mit Vasco da Gamas erreichten Indien erst 1498. Ohne Zweifel hätte China den gleichen „Nutzen“ wie Europa aus einer Expansion in den folgenden Jahrhunderten ziehen können.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Alain Bihr lehrt Soziologie an der Universität Bourgogne-Franche-Comté. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem Buch „Le Premier Âge du capitalisme (1415–1763)“, Lausanne/Paris (Éditions Page 2/Éditions Syllepse) 2019.