07.11.2019

Beirut – Aufstand gegen den Status quo

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Beirut – Aufstand gegen den Status quo

Der Libanon erlebt die größten Proteste in seiner Geschichte. Die Menschen demonstrieren gegen eine korrupte politische Elite und das konfessionelle Proporzsystem. Mit dem Rücktritt der Regierung haben sie ihr erstes Ziel erreicht. Das bedeutet aber keineswegs, dass das Establishment aufgeben wird.

von Jakob Farah

Die Beiruter Ringautobahn am 28. Oktober JAKOB FARAH
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Am 20. Oktober, einem Sonntagnachmittag, gleicht das Zentrum von Beirut einer riesigen Partymeile: Zehntausende Menschen haben sich auf dem Märtyrerplatz vor der Mohammed-al-Amin-Moschee sowie vor dem „Grand Serail“, dem Regierungssitz, versammelt. Aus Lautsprecherwagen dröhnt Musik, die Leute tanzen, singen, schwenken die libanesische Fahne und skandieren Slogans gegen die Regierung und diverse Politiker. Abends gibt es sogar eine Lasershow; in riesigen Lettern flackert das Wort „Revolution“ auf einer Hausfassade am Rand des Platzes.

Viele Beobachter bezeichnen die Proteste als die größten in der Geschichte des Landes. An diesem Sonntag soll knapp ein Drittel der libanesischen Bevölkerung auf der Straße sein, landesweit 1,7 Millionen Menschen. Die Leute fordern den Rücktritt der Regierung, ein Ende der Herrschaft der korrupten Eliten. Und immer wieder ist der Schlachtruf des Arabischen Frühlings von 2011 zu hören: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“

Nur einige Tage zuvor brannten im Zentrum Autoreifen, an zwei Abenden in Folge setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demons­tran­ten ein, Dutzende wurden verhaftet. Mittlerweile gleicht die Stimmung auf dem Märtyrerplatz aber eher einem großen Volksfest: Es werden Fahnen verkauft, Eis und Maiskolben am Stiel. Für 3000 Lira (knapp 2 Euro) kann man Wasserpfeifen mieten, die in langen Reihen auf den Gehwegen stehen.

Ansonsten steht das Land still: Banken, Schulen, Ämter, alles ist geschlossen. Dutzende Straßensperren im ganzen Libanon haben den Verkehr lahmgelegt. Auf der Küstenautobahn Richtung Norden, wo sich normalerweise kilometerweit die Autos stauen, herrscht gähnende Leere.

Hariris Rücktritt ist nur ein Etappensieg

„Libnan jintafad“ – „der Libanon erhebt sich“ –, heißt der beliebteste Hashtag. Dabei haben viele Libanesen ihre eigene „Intifada“ selbst am wenigsten erwartet. Es ist ein Moment, den viele staunend, teils ungläubig und vor allem euphorisch erleben. „Das ist das eigentliche Ende des Bürgerkriegs“, twittert einer, dazu einen Grabstein mit der Aufschrift „1975–2019“.

„Heute ist es ganz egal, wo einer herkommt“, sagt Ayman El Sayed. „Egal ob Schiit, Sunnit, Katholik, Orthodoxer oder Druse – alle hier haben das gleiche Ziel. Und alle werden dir das Gleiche sagen: Sie haben die Schnauze voll von diesem System.“

Zusammen mit anderen jungen Leuten hat der 31-Jährige aus der Hafenmetropole Saida (Sidon) ein kleines Zeltlager mitten auf dem Märtyrer-Platz errichtet. Man sitzt zusammen im Schatten einer großen Plastikplane zwischen den Zelten, tauscht die neuesten Nachrichten aus, das ein oder andere Bier wird geöffnet. „Bis vor ein paar Tagen kannten wir uns gar nicht“, erzählt Ayman. „Aber jetzt werden wir zusammen hierbleiben, bis die Regierung abgetreten ist.“

Gut eine Woche später, am 29. Oktober, geht Aymans Wunsch in Erfüllung: Um 4 Uhr nachmittags tritt Premierminister Saad Hariri vor die Fernsehkameras und verkündet den Rücktritt seines Kabinetts. Für die Demonstranten ist es allerdings nur ein Etappensieg. Denn vielen von ihnen geht es um weit mehr: „Wir wollen einen neuen Libanon aufbauen“, hatte Ayman gesagt, „ohne die verdammte ‚ta’ifiye‘.“

Das Wort lässt sich am besten mit dem englischen „sectarianism“ übersetzen. Und tatsächlich zeichneten sich die jüngsten Proteste vor allem dadurch aus, dass sich die Demonstranten, egal ob in Beirut, im sunnitischen Tripoli oder im schiitischen Tyros, demonstrativ gegen den im Libanon allgegenwärtigen Sektarismus stellen. Viele, vor allem jüngere Libanesen, sehen im konfessionellen Proporzsystem, das auch in der Verfassung des Landes festgeschrieben ist, mittlerweile ein künstlich geschaffenes Herrschaftsinstrument der korrupten Politikerkaste.

Zwar gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste, die sich auch gegen das konfessionelle System richteten – etwa die „You stink“-Proteste während der Müllkrise 20151 –, aber

die waren vor allem von der Beiruter Mittelschicht getragen. Im Gegensatz dazu haben sich die aktuellen Proteste über das ganze Land und über alle Klassengrenzen hinweg ausgebreitet.

Selbst in den Hochburgen der beiden schiitischen Parteien, der Amal-Bewegung und der Hisbollah, wurde demonstriert, etwa in den Städten Nabatieh und Tyros im Süden des Landes. Und zwar nicht nur gegen den sunnitischen Premier Saad Hariri, sondern auch gegen die eigene Führung. So machte ein Slogan gegen den Amal-Chef Nabih Berri, Multimillionär und seit 1992 amtierender Parlamentspräsident, die Runde, den öffentlich auszusprechen in diesen Städten bis vor kurzem noch undenkbar gewesen wäre: „Nabih Berri, Dieb!“

In Nabatieh, einer Hochburg der Hisbollah, skandierten die Demons­tranten: „Wir wollen keine Armee außer der libanesischen“ – eine Anspielung auf die Miliz der Hisbollah, die militärisch weit stärker ist als die offiziellen Streitkräfte des Landes. In diesen ersten Tagen des Aufstands ist offenbar die Mauer der Angst gefallen, das gibt all jenen Hoffnung, die bisher annahmen, ein breiter gesellschaftlicher Protest sei im Libanon nicht möglich, weil der schiitische Bevölkerungsteil unerschütterlich hinter der eigenen Führung stehe.

Begonnen hatte alles am Abend des 17. Oktober, als sich spontan einige hundert Demonstranten in der Beiruter Innenstadt versammelten und die Zahl dann innerhalb weniger Stunden auf mehrere Tausend anwuchs.

Auslöser der Proteste war die Ankündigung von weiteren Steuererhöhungen, unter anderem eine neue Abgabe für die Nutzung von internetbasierten Telefondiensten wie WhatsApp. Jeder Nutzer sollte 6 Dollar im Monat zusätzlich bezahlen. Weil im Libanon zwei staatliche Monopolisten den Mobilfunkmarkt unter sich aufteilen, sind die Kosten für Anrufe über das normale Mobilfunknetz extrem hoch, alle telefonieren fast ausschließlich über das Internet.

Noch am selben Abend machte ein Video in den sozialen Medien die Runde, in dem ein junger Mann aus Akkar im Norden des Landes die Wut auf den Punkt brachte: „Als Nächstes werden sie Zähler an unseren Ärschen installieren und auch noch unsere Scheiße besteuern!“

Aber die „WhatsApp-Steuer“, die bereits kurz nach Beginn der Proteste bereits wieder kassiert wurde, war nur der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die libanesische Wirtschaft befindet sich nach Ansicht vieler in einer Dauerkrise. Das Hauptproblem ist ein ökonomisches Modell, das nicht funktionieren kann: Der Libanon exportiert so gut wie nichts, die Wirtschaft ist in den letzten acht Jahren kaum gewachsen, im vergangenen Jahr lag das Wachstum bei 0,2 Prozent. Inoffizielle Schätzungen gehen von einer Arbeitslosenrate von 35 Prozent aus (2010 waren es noch 16 Prozent). Allein in den vergangenen 18 Monaten mussten 3000 Betriebe schließen.2

Um sein enormes Handelsdefizit auszugleichen und die Konsumgüterimporte bezahlen zu können, ist der Libanon seit langem auf den Zufluss von fremdem Kapital angewiesen. Dieses kam bisher vor allem von den rund 14 Millionen Auslandslibanesen, die etwa 40 Prozent der Einlagen der libanesischen Banken halten.

Dass sich das Land bislang stets auf diesen Zufluss verlassen konnte, lag vor allem an zwei Mechanismen: Erstens boten die libanesischen Banken hohe Zinsen für Anlagen in Dollar, deren Gewinne vom Staat wiederum nur marginal besteuert wurden. Die 14 wichtigsten libanesischen Banken halten zusammen Einlagen in Höhe von rund 200 Milliarden US-Dollar, was rund dem Vierfachen des libanesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht.

Die zweite wichtige Säule dieses Modells ist der durch die Zentralbank (Banque du Liban, BdL) garantierte „Peg“, die Kopplung des libanesischen Pfunds an den Dollar, die 1997 auf 1507 LBP für einen US-Dollar festgelegt wurde. Sie gibt den libanesischen Banken, die die in libanesischen Pfund ausgegebenen Staatsanleihen kaufen, die Sicherheit, diese jederzeit wieder in Dollar zurücktauschen zu können, ohne Verlustrisiko aufgrund von Wechselkursschwankungen.

Eine Besonderheit des libanesischen Modells ist, dass die Gläubiger des Staats vor allem die libanesischen Privatbanken und die BdL sind, die zusammen über 85 Prozent der libanesischen Staatsschulden halten. Das heißt, dass an den horrenden Zinsen für die Staatsanleihen – diese lagen in den vergangenen Jahren bei durchschnittlich 7,5 Prozent3 – vor allem die libanesischen Banken verdienen, die sich wiederum oft in den Händen einflussreicher, mit der politischen Elite eng verbandelter Geschäftsleute befinden.

Da kann es nicht überraschen, dass dieses Modell einer abgeschotteten Elite zu einer extrem ungleichen Vermögens- und Einkommensverteilung geführt hat: Im Jahr 2017 entfielen 20 Prozent der libanesischen Bankeinlagen auf nur 1600 Konten (0,1 Prozent aller Konten). Das reichste 1 Prozent der Libanesen besitzt 40 Prozent der Privatvermögen und streicht etwa ein Viertel des gesamten Nationaleinkommens ein – was den Libanon auf eine Stufe mit Ländern wie Brasilien, Russland oder Südafrika stellt.4

Die Probleme, die zur aktuellen Krise führten, begannen bereits 2011, denn ab diesem Zeitpunkt nahm der Zufluss an Dollars stetig ab, von 24 Prozent des BIPs auf nur noch 12 Prozent im vergangenen Jahr. Vor diesem Hintergrund hatte die BdL immer größere Probleme, den „Peg“ aufrechtzuerhalten, was das Vertrauen der Anleger weiter beschädigte. Erst im August stufte die Ratingagentur Fitch libanesische Staatsanleihen auf Ramsch­niveau herunter.

Der Schwarzmarktpreis für Dollars hat mittlerweile nur noch wenig mit dem offiziell festgelegten Wechselkurs zu tun. Das führte in den letzten Wochen etwa dazu, dass die Tankstellenbetreiber wiederholt streikten, denn sie müssen das Benzin in Dollar einkaufen, während sie von den Kunden nur libanesische Pfund bekommen.

Und weil der Staat vor allem damit zu tun hat, seine ständig steigenden Schulden zu bedienen, die in diesem Jahr auf über 150 Prozent des BIPs angewachsen sind, bleibt kaum noch Geld für wichtige Investitionen in Infrastruktur oder arbeitsschaffende Maßnahmen: Im Ranking der Unternehmensberatung McKinsey steht der Libanon, was die Qualität der Infrastruktur betrifft, auf Platz 113 von 134 Staaten. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine der zahlreichen Privatschulen, öffentliche Krankenhäuser sind die Bezeichnung nicht wert.

Insbesondere der staatliche Stromsektor und die dysfunktionale Müllentsorgung sind für viele Libanesen zum Sinnbild für das Versagen der politischen Elite des Landes geworden. Der staatliche Stromversorger EDL (Electricité du Liban) verzeichnet ein jährliches Defizit von rund 2 Milliarden US-Dollar, das durch den Staat ausgeglichen werden muss.

Doch trotz der massiven Subventionen reichen die Kapazitäten nicht aus: In Beirut wird der Strom tagtäglich für drei Stunden abgestellt, in anderen Landesteilen noch länger. Wer rund um die Uhr Strom haben will, muss zusätzliche Kapazitäten von einem privaten Generatorenbetreiber kaufen und zahlt so doppelt.

Angesichts dieses Totalversagens der Institutionen ist es kein Wunder, dass die meisten Libanesen von der gegenwärtigen politischen Führung des Landes nichts mehr erwarten. „Die Vertrauenskrise ist noch größer als die Wirtschaftskrise“, sagt Karim Emile Bitar, Politikprofessor an der Saint-Joseph-Universität in Beirut und Mitbegründer des NGO-Netzwerks Kulluna Irada. Die politische Klasse habe jede Glaubwürdigkeit verspielt.5

Wie es nach dem Rücktritt der Regierung weitergeht, die nun zunächst kommissarisch die Regierungsgeschäfte weiterführt, ist unklar. Die Demonstranten im Zentrum Beiruts nahmen die Nachricht zwar mit Freudenrufen auf, aber richtige Feierstimmung wollte nicht aufkommen. „Das war nur ein Teilerfolg“, sagt Nizar Hassan von der NGO LiHaqqi („Für mein Recht“), der seit Beginn der Proteste mit auf der Straße war. „Nur eine neue Regierung, die von den politischen Parteien des Landes unabhängig ist, kann das Vertrauen wiederherstellen.“

Dass es tatsächlich zur Bildung einer Technokratenregierung kommt, die in der Lage ist, den wirtschaftlichen Kollaps des Landes zu verhindern und gleichzeitig die weitergehenden Forderungen der Demonstranten zu erfüllen, etwa die Konzeption eines neuen Wahlgesetzes ohne konfessionellen Proporz und die Vorbereitung vorgezogener Neuwahlen, ist jedoch unwahrscheinlich.

Mit seinem nicht abgesprochenen Rücktritt hat Hariri die Hisbollah und die mit ihr verbündete christliche Partei FPM (Freie Patriotische Bewegung) von Präsident Michel Aoun vor den Kopf gestoßen. Beide Parteien hatten nach der letzten Parlamentswahl im Mai 2018 ihren Einfluss innerhalb der Regierung ausgebaut und sich vehement gegen den Rücktritt des Kabinetts ausgesprochen.

Der Hisbollah ist vor allem daran gelegen, die seit der Wahl von Präsident Aoun 2016 bestehende Machtbalance im Land zu bewahren. Wozu die „Partei Gottes“ bereit ist, um das alte Machtgefüge aufrechtzuerhalten, wurde schon am Tag von Hariris Rücktritt deutlich, als einige hundert Hisbollah- und Amal-Anhänger die Protestzelte in der Beiruter Innenstadt zerstörten und Demonstranten angriffen, die die zentrale Ringautobahn zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt blockiert hatten. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hatte bereits in einer Rede am 26. Oktober gemahnt, die Proteste drohten das Land ins Chaos zu stürzen und könnten zu einem neuen Bürgerkrieg führen.

Unter den Demonstranten lassen sich nur wenige von solchen Drohungen beeindrucken. Doch bei manchen bleibt die Unsicherheit. „Natürlich habe ich auch ein bisschen Angst“, sagt eine libanesische Freundin. „Ich habe keinen zweiten Pass, ich kann nicht abhauen, wenn die Lage brenzlig wird.“

All dies macht eines sehr deutlich: Die erste euphorische Phase der Revolution ist vorbei, und die Protestierenden stehen nun vor der überaus schwierigen Aufgabe, die politische Elite des Landes daran zu hindern, zum business as usual zurückzukehren.

1 Siehe Emmanuel Haddad, „Es türmt sich“, LMd, August 2018.

2 „Change is Coming“, Executive Magazin, Beirut, Oktober 2019.

3 Rosalie Berthier, „Abracada ... broke. Lebanon’s banking on magic“, Synaps, 2. Mai 2017.

4 Lydia Assouad, „Rethinking the Lebanese economic miracle“, World Inequality Data Base, Working Paper 2017/13, 2017.

5 Karim Émile Bitar, „Le Liban entre réformes improbables et révolution impossible“, L‘Orient le jour, Beirut, 19. Oktober 2019.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.11.2019, von Jakob Farah