10.10.2019

Wie Moskau die Welt sieht

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Wie Moskau die Welt sieht

Russische Ideen über die Zukunft der globalen Ordnung

von Richard Sakwa

Mai 2015: Harmonie in Peking NG HAN GUAN/ap
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Viele westliche Kommentatoren sind der Meinung, dass sich Russland an eine internationale Ordnung klammert, die es nicht mehr gibt. Gemeint ist das im Februar 1945 begründete „System von Jalta“, das dem damals sowjetischen Russland eine Einfluss­sphäre in Osteuropa sicherte.

In dieser westlichen Sichtweise ist die aktuelle Politik Russlands, sprich die Annexion der Krim und die Unterstützung der Donbass-Rebellen, die mi­litärische Antwort auf den „Verlust“ der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine. Ein Beispiel: Der Jahresbericht 2017 zur nationalen Sicherheitsstrategie der USA (NSS) kennzeichnet Russland als „revisionistische Macht“, die darauf aus sei, das existierende internationale System zu zerstören.

Nach dem gängigen westlichen Russland-Bild herrscht in Moskau ein schwaches autoritäres Regime, das durch riskante außenpolitische Unternehmungen von den Problemen im Innern ablenken will. Und das zugleich versucht, sein autoritäres Modell zu exportieren, was auch die „Allianz der Autokratien“ mit China beweise. Die Konfrontation mit dem Westen hat das Land eine Zeitlang tatsächlich innenpolitisch stabilisiert. Aber die russische Politik allein auf diese Motive zurückzuführen, wäre falsch.

Was also will das Land wirklich, und was genau hat seine Wiederannäherung an China zu bedeuten? Russlands zentrales Bestreben geht dahin, in der internationalen Politik wieder als mitbestimmende Kraft anerkannt zu werden. Es ist dies der Anspruch auf eine Rolle, die dem Land nach dem Ende des Kalten Kriegs versagt wurde.

Damals wollte die Sowjet­union – und später Russland – die Umwandlung dessen, was man den „histori­schen Westen“ nannte, in einen „grö­ße­ren Westen“ unter Einschluss Russ­lands.1 Damit hätte sich der his­tori­sche Westen organisatorisch wie ideologisch aus seinem im Kalten Krieg entstandenen transatlantischen Bezugsrahmen befreit und eine neue Kultur des politischen Dialogs und des kreativen Zusammenwirkens entwickeln können.

Es ist anders gekommen. Was der Westen der Sowjetunion damals anbot, war lediglich eine Osterweiterung des bestehenden Systems. Das bedeutete, da die Sowjetunion keine militärische und ideologische Bedrohung mehr darstellte, die rasche Ausweitung der US-amerikanischen Einflusssphäre auf den gesamten Globus. Für andere Muster eigenständiger Staats- oder Gesellschaftsordnungen blieb kein Raum. Und so wurde der Liberalismus nach dem Modell der USA zu einer Art universeller Monroe-Doktrin.

Dieser universelle Anspruch wurde in Moskau als Instrument US-amerikanischer Machtpolitik gesehen, dem man entgegentreten müsse. Den offenen Widerstand formulierte als Erster Jewgeni Primakow, russischer Außenminister von 1996 bis 1998 und ab September 1998 für acht Monate Ministerpräsident.

Als die Nato sich immer weiter ausdehnte und ohne Rücksicht auf die Interessen Russlands auf eine militärische Intervention in Kosovo zusteuerte, besann er sich auf das alte Konzept einer multipolaren Weltordnung. Bei einem Staatsbesuch in Indien im Dezember 1998 schlug er vor, ein Gegengewicht zur unipolaren, von den USA dominierten Welt zu schaffen. Er regte ein Bündnis der nichtatlantischen Mächte Russland, Indien und China an. Dieses strategische Dreieck bildete den Kern einer Staatengruppe, die sich durch die Teilnahme Brasiliens (2006) und Südafrikas (2010) erweiterte und die seitdem als Brics-Staaten firmieren.

Als Putin im Jahr 2000 Präsident der Russischen Föderation wurde, wollte er die transatlantischen Vorstellungen aus der ersten postkommunistischen Periode mit Primakows strategischen Überlegungen verbinden. So war die 2001 erfolgte Gründung der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) ein Schritt in Richtung eines nichtwestlichen Bündnissystems im Sinne Primakows. Die SCO umfasste zunächst China, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan und wurde 2017 um Indien und Pakistan erweitert.

Putin strebte aber auch eine engere Bindung an die Europäische Union an; selbst von einem Beitritt Russlands zur Nato war die Rede. Doch zu Beginn der 2000er Jahre folgte die Ernüchterung, als die USA im Irak intervenierten, den ABM-Vertrag von 1972 aufkündigten und US-Stiftungen, die durch das ­State Department gefördert wurden, die Farb­revo­lu­tionen in ehemals sowjetischen Staaten unterstützten.

Putins Glaube an die gottgegebene Vielfalt

2007 verurteilte Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz das Verhalten der USA und warnte vor „einer monopolaren Welt“, in der es nur ein „Autoritäts-, ein Macht- und ein Entscheidungszentrum“ gebe. Russland habe in seiner „mehr als tausendjährigen Geschichte“ so gut wie immer eine „unabhängige Außenpolitik“ betrieben, und das werde auch so bleiben.3

Aber selbst 2007 herrschte noch der Eindruck vor, dass die transatlantischen Mächte und Russland in Bereichen gemeinsamer Interessen, vor allem beim Krieg gegen den Terror, zusammenarbeiten könnten. Dieser Glaube ging mit der Nato-Intervention in Libyen 2011 zu Bruch. 2014 folgte dann die schlimmste Krise seit dem Ende des Kalten Kriegs, als Russland mit der Annexion der Krim auf die Ukraine-Politik der EU reagierte, die sie als direkten Versuch interpretierte, die Ukraine in den Einflussbereich des atlantischen Bündnisses hinüberzuziehen.

Multipolarität ist ein anderes Wort für die Ablehnung der US-Hegemonie, als Konzept bleibt es aber ziemlich verschwommen. Es lässt im Unklaren, ob es sich um ein Ziel handelt, das man mittels einer aktiven Strategie erreichen will, die bis dato zweitrangigen Mächten – wie Russland – mehr Gewicht verschaffen soll. Oder um die Beschreibung einer aufgrund der veränderten Kräfteverhältnisse im internationalen Staatengefüge bereits spürbaren Realität.

Im September 2013 verurteilte Putin vor dem Internationalen Diskus­sions­forum Waldai-Club4 „Versuche, das überholte stereotype Modell einer unipolaren Welt wiederzubeleben“. In einer unipolar verfestigten Welt werde es keine souveränen Staaten mehr geben, sondern nur noch Vasallen: „Historisch betrachtet, bedeutet das eine Absage an die eigene Identität, an die von Gott gegebene Vielfalt der Welt.“5

Russlands Ambitionen lassen sich am besten als „Neorevisionismus“ beschreiben. Der Begriff lässt sich auch auf China anwenden und verweist auf die Mängel, die beide Länder dem heutigen internationalen System bescheinigen. Dabei sind Russland und China auf keine eigene Einflusssphäre aus, sondern wollen dem Prinzip wieder Geltung verschaffen, dass die jeweiligen Nationen ihre Beziehungen zu ihren Nachbarn eigenständig gestalten und praktizieren (und nicht per strikter Blockzugehörigkeit). Wobei der Schlüsselbegriff „Souveränität“ lautet.

Was die Entwicklungen in der Ukraine betrifft, so wurden diese in Russland als eklatante Bedrohung der eigenen Sicherheitsinteressen gesehen – und weniger als Versuch des Westens, sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen.

Wie sich bei den vielfachen Umwälzungen in Kirgistan und beim Regimewechsel in Armenien 2018 gezeigt hat, sind innerstaatliche Veränderungen jeglicher Art den Russen weitgehend egal, solange sie ihre sicherheitspolitischen Kerninteressen nicht bedroht sehen. Schließlich würde Großbritan­nien bei der Errichtung eines militärisch feindlich gesinnten Regimes in der Republik Irland auch nicht einfach zusehen.

Für Moskau und Peking geht es dabei keinesfalls um die Rückkehr zu dem internationalen System, das vor 1914 herrschte, als souveräne Staaten auf der Weltbühne quasi autonom agieren und mittels Bündnispolitik eine Machtbalance anstreben konnten.

Die russische und chinesische Idee einer multipolaren Weltordnung ist komplexer. Der Schlüsselbegriff ist zwar nach wie vor „Souveränität“, aber die ist durch Verpflichtungen gegenüber multilateralen Organisationen beschränkt. Man will sowohl neue Institutionen auf regionaler Ebene schaffen als auch die eher globalen, nach dem Abkommen von Bretton Woods (1944) entstandenen Organisationen verteidigen, insbesondere die WTO.

Allerdings soll die Unterordnung dieser multilateralen Organisationen unter das von den USA dominierte transatlantische System durch eher pluralistische internationale Strukturen abgelöst werden. Russland und China werden als die Hauptakteure in einem solchen antihegemonialen Verbund gesehen.6 Seit Russland unter Wirtschaftssanktionen leidet und China von den USA im Pazifik militärisch unter Druck gesetzt wird, haben sich Putin und Xi Jinping neunmal getroffen.

Alle russischen Präsidenten haben die Integration des eurasischen Wirtschaftsraums angestrebt, doch Putin sieht sie in einem größeren geopoli­tischen Zusammenhang. Die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (­EAWU) zum 1. Januar 2015 war ein Signal, dass Russland auf alternative integrative Vernetzungen setzt. Der nächste Schritt erfolgte im Mai 2015, als Putin und Xi Jinping ein Abkommen über die „Harmonisierung“ (soprjaschenie) der EAWU und der Chinas Belt-and-Road-Initiative (BRI, auch Neue Seidenstraße genannt) unterzeichneten.

Des Weiteren verfolgt Russland das Projekt „Ein Größeres Eurasien“, das die noch von Gorbatschow entwickelte Idee eines „Größeren Europa“ von Lissabon bis Wladiwostok ablöst. Das Größere Eurasien umfasst einen Großteil dieses riesigen Raums, der durch eine variable Geometrie aus neuen oder schon bestehenden Organisationen (wie Asean) strukturiert werden soll.

Mit diesem Konzept will Moskau verhindern, dass Eurasien zu einer riesigen zersplitterten Zone zwischen einem expandierenden atlantischen System und den aufstrebenden Mächten Asiens, insbesondere Chinas, wird. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Militärausgaben Chinas ständig wachsen, während die Russlands seit 2016 sinken.7

Das erklärt zum Teil auch die unterschiedlichen Positionen der Russen und der Chinesen in Bezug auf die Weltmacht USA. Deren militärische und ökonomische Vorrangstellung erkennt Putin ausdrücklich an.8 China dagegen nicht, das im Vertrauen auf seine ökonomische Stärke die Idee einer „Gemeinschaft des gemeinsamen Schicksals“ propagiert, die angeblich auf Win-win-Beziehungen basiert.

Dass solche Ideen von massiven chinesischen Investitionen in die Belt-and-Road-Initiative und von der Gründung einer internationalen Asiatischen Investment Bank unterfüttert sind, spricht eher dafür, dass sich das Kräftegleichgewicht der Weltmächte eben doch verschieben könnte.

Das russisch-chinesische Einvernehmen erstreckt sich nicht auf Fragen der Identität. Russland hat sich zwar immer weiter vom Atlantischen Bündnissystem entfernt – speziell seit der Bombardierung Serbiens durch die Nato 1999, aber seine westliche Identität hat es nie aufgegeben. So kritisierte Putin im September 2013 sogar, dass viele Länder des Westens „die christlichen Werte verleugnen, die doch das Fundament der westlichen Zivilisation darstellen“.9

Was die rechten politischen Kräfte in Europa angeht, die den Westen aus seinen „traditionellen“ Wurzeln heraus erneuern wollen, so haben sie zu Russland ganz unterschiedliche Meinungen: Während Le Pen und Salvini ausgesprochen russophil sind und Orbán eine wohlwollende Neutralität pflegt, ist die polnische PiS ganz offen russlandfeindlich.

Die Chinesen hegen vermutlich zu Recht den Verdacht, dass die Russen, wenn es die Umstände erlauben, bei der Wiedererfindung des Westens gern eine führende Rolle übernehmen würden. Was in dem Fall aus dem „Größeren Eurasien“ würde, ist unklar. Sicher ist nur, dass die alten Gegensätze im globalen Kräftespiel durch andere abgelöst werden.

1 Siehe Hélène Richard, „Als Moskau von Europa träumte“, LMd, September 2018.

2 Primakows Vorstellungen waren von Chruschtschows Konzept der friedlichen Koexistenz inspiriert, wonach die Ost-West-Konkurrenz nicht zu militärischen Konflikten führen müsse.

3 Englische Fassung der Rede vom 10. Februar 2007: en.kremlin.ru/events/president/transcripts/24034.

4 Das 2004 begründete Forum findet jährlich im Herbst statt und bringt russische Politiker mit westlichen Wissenschaftlerinnen und Journalisten zusammen.

5 Rede vom 27. Oktober 2013, zitiert nach der russischen Fassung. Auch auf der Tagung des Waldai-Clubs im Oktober 2016 plädierte Putin für „universell akzeptierte gemeinsame Regeln“ in der Hoffnung, dass die Welt „wirklich multipolarer“ werde.

6 Siehe Isabelle Facon, „Russland und China: Wer braucht wen?“, LMd, August 2018.

7 Siehe: „World military expenditure grows to 1,8 trillion Dollar in 2018“, Sipri, Stockholm, 29. April 2019.

8 So am 17. Juni 2016 beim Sankt Petersburger Wirtschaftsforum: „Amerika ist eine Großmacht, heute vielleicht sogar die einzige Supermacht. Das erkennen wir an.“ Siehe: en.kremlin.ru/events/president/news/52178/.

9 Tagung des Waldai-Klubs vom 19. September 2013, zitiert nach der englischen Fassung: en.kremlin.ru/events/president/news/19243.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Richard Sakwa ist Professor für Russisch und Europäische Politik an der University of Kent; zuletzt erschien von ihm „Russia’s Futures“, Cambridge (Polity Press) 2019.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2019, von Richard Sakwa