10.10.2019

Warum Trump Grönland kaufen wollte­

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Warum Trump Grönland kaufen wollte­

von Michael T. Klare

Klimaprotest in Washington, 23. September 2019 PABLO MARTÍNEZ MONSIVÁIS/ap
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Donald Trump hat mal wieder Schlagzeilen gemacht, als er im August sein Interesse am Kauf von Grönland signalisierte. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Hier sprach nicht Trump, der Immobilienkrösus. Die Idee entspringt vielmehr einer Strategie, die wir ab jetzt als Pompeo-Doktrin bezeichnen sollten.

Denn Trumps Außenminister Mike Pompeo hat in der geopolitischen Re­gion der Arktis noch viel mehr vor als nur den Kauf von Grönland. Als der US-Präsident die Welt mit der Idee überraschte, den Dänen das halbautonome Gebiet abzuschwatzen, sahen die meisten Kommentatoren darin nur einen weiteren von Trumps zunehmend bizarren Auftritten.

So ging es offenbar auch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Sozialdemokratin bezeichnete den bloßen Gedanken an ein solches Geschäft als „absurd“. Woraufhin Trump ihre Bemerkung „widerlich“ nannte und seinen lange geplanten Staatsbesuch in Kopenhagen absagte.

Betrachtet man diese Episode etwas näher und liest sie im Kontext mit anderen Aktionen der Trump-Regierung, drängt sich eine ganz andere Interpretation auf. Und wir alle sollten begreifen, dass es sich hier um eine Frage handelt, die für die ganze Welt, ja für die gesamte menschliche Zivilisation von immenser Bedeutung ist.

Die Arktis wird heute im Weißen Haus, ganz im Sinne Pompeos, zunehmend als eine weltpolitische Arena gesehen, in der sich der Konkurrenzkampf der Großmächte entscheidet. Und der ultimative Gewinn ist ein außergewöhnliches Reservoir an Bodenschätzen: von Erdöl und Erdgas über Uran, Zink, Eisenerz, Gold und Diamanten bis hin zu den berühmten Metallen der seltenen Erden.

Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, den niemand in Trumps Umgebung benennt, weil Begriffe wie „Klimawandel“ oder „Klimakrise“ im Weißen Haus verboten sind: Den Startschuss für den Wettlauf um die Schätze Grönlands hat die globale Erwärmung gegeben – was man in Washington natürlich nur zu genau weiß.

Die Großmächte haben schon seit Längerem ihr Auge auf die Arktis geworfen. Während des Kalten Kriegs war die Region um den Nordpol von großer strategischer Bedeutung. Damals planten sowohl die USA als auch die Sowjetunion, ihre mit Atomwaffen bestückten Raketen und Bomber am Rand der Arktis zu stationieren, von wo aus sie Ziele auch auf der anderen Seite der nördlichen Halbkugel erreichen konnten.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs war das Interesse an der Region allerdings weitgehend erloschen. Eisige Temperaturen, häufige Stürme und die massive Eisdecke machten einen normalen Luft- und Seeverkehr unmöglich. Wer würde dort schon Wagnisse eingehen, abgesehen von der indigenen Bevölkerung, die ihre Lebensweise seit Langem den arktischen Bedingungen angepasst hatte?

Doch der Klimawandel hat die Situation dramatisch verändert. Die Temperaturen steigen in der Arktis schneller als irgendwo sonst auf der Welt. Mit der Folge, dass die polare Eisdecke teilweise abschmilzt und zuvor unzugängliche Wasserflächen und Inseln freilegt, was eine kommerzielle Ausbeutung ermöglicht. Zum Beispiel wurden in Offshore-Gebieten, die früher den größten Teil des Jahres unter Eis lagen, inzwischen Öl- und Gasvorkommen entdeckt.

Neue Möglichkeiten, wichtige Bodenschätze zu erschließen, ergeben sich auch – richtig! – in Grönland. Angesichts dessen ist die Trump-Regierung besorgt, andere Länder, wie China und Russland, könnten die durch den Klimawandel freigelegten Chancen für sich nutzen. Deshalb hat sie eine umfassende Kampagne gestartet, um die Dominanz der USA in dieser Region zu sichern, wobei sie auch das Risiko künftiger Konflikte und Zusammenstöße in Kauf nimmt.

Pompeos Doktrin für die Arktis

Der Wettlauf um die arktischen Ressourcen startete zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals nahmen die weltweit größten Energiekonzerne – westliche Multis wie BP, ExxonMobil und Shell ebenso wie die russischen Giganten Gazprom und Rosneft – die Suche nach Öl- und Gasvorkommen auf, die durch den Rückzug des Packeises erschließbar geworden waren.

Diese Explorationen erhielten 2008 neuen Rückenwind, als der United ­States Geological Survey (USGS) den Report „Circum-Arctic Resources“ veröffentlichte, der aufzeigte, dass bis zu einem Drittel der unentdeckten weltweiten Öl- und Gasreserven innerhalb des nördlichen Polarkreises lagern.

Laut Einschätzung der Autoren des Reports liegt ein Großteil der noch nicht erschlossenen fossilen Brennstoffe unter den arktischen Gewässern, die an die Hoheitszonen der USA (Alaska), von Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen und Russland grenzen. Diese Länder werden auch als „The Arctic Five“ bezeichnet.

Gemäß dem geltenden Völkerrecht, das im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1992 kodifiziert ist, darf jeder Anrainerstaat die Ressourcen auf und unter dem Meeresboden bis zu einer Entfernung von mindestens 200 Seemeilen (370,4 Kilometern) von seiner Küstenlinie ausbeuten. Diese sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) kann sich auch über die 200-Meilen-Grenze hinaus erstrecken, wenn der geologische Festlandsockel in der betreffenden Gegend über die 200 Meilen hinausreicht.

Eine AWZ beanspruchen alle Arctic Five, einschließlich der USA, obwohl Washington das UNCLOS nicht ratifiziert hat. Die meisten bekannten Öl- und Gasvorräte liegen innerhalb der jeweiligen AWZ, allerdings befinden sich auch einige in Gebieten jenseits der 200-Meilen-Grenze, in denen sich AWZs überlappen oder die zwischen den Parteien umstritten sind.

Die Arctic Five haben im Prinzip vereinbart, alle Konflikte, die auf konkurrierende Ansprüche zurückgehen, auf friedliche Weise beizulegen. Auf diesem Grundsatz beruht auch der 1996 gegründete Arktische Rat: ein zwischenstaatliches Forum aller Staaten, die über Territorium innerhalb des arktischen Polarkreises verfügen. Das sind neben den Arctic Five noch Finnland, Island und Schweden.

Der Arktische Rat tritt alle zwei Jahre zusammen. Er bietet den Regierungen dieser Länder und den im arktischen Raum lebenden indigenen Völkern– zumindest theoretisch – die Gelegenheit, Themen von gemeinsamem Interesse zu besprechen und nach kooperativen Lösungen zu suchen.

Tatsächlich hat der Rat dazu beigetragen, die Spannungen in der Region zu dämpfen. Allerdings wurde es in den vergangenen Jahren immer schwieriger, ein Übergreifen anderer Konflikte auf die Arktis zu verhindern. Das gilt etwa für die wachsende Feindseligkeit der USA (und der Nato) gegenüber Russland und China oder für die Konkurrenz um essenziell wichtige Rohstoffvorkommen. Das jüngste Treffen des Rats fand im Mai 2019 in der finnischen Stadt Rovaniemi statt, die nur wenige Kilometer südlich des Polarkreises liegt. Dabei traten die Rivalitäten und der Drang nach vom Eis befreiten Ressourcen bereits offen zutage.

Normalerweise werden vor dem Arktischen Rat nichtssagende Bekenntnisse zur internationalen Zusammenarbeit und zum gewissenhaften Umweltschutz abgegeben. Aber dieses Mal hielt US-Außenminister Pompeo eine offen kriegerische und provokative Rede, die im Rückblick sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie damals erzielte.

Seine Worte sollten wir etwas genauer ansehen, denn mit ihnen proklamierte Trumps Außenminister eine womöglich historische neue Doktrin für den Fernen Norden. Zu Beginn schlug er noch milde Töne an: „In den ersten zwei Jahrzehnten hatte der Arktische Rat den Luxus, sich fast ausschließlich auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit, auf kulturelle Fragen, auf die Erforschung der Umweltprobleme zu konzentrieren.“ Das alles seien interessante und sehr wichtige Themen, die man weiter im Auge behalten müsse – aber diese luxuriösen Verhältnisse seien nun nicht mehr gegeben.

Schätze unter dem schmelzenden Eis

Damit kam Pompeo zur Sache: „Wir treten in ein neues Zeitalter des strategischen Engagements in der Arktis ein, und das bringt neue Bedrohungen der arktischen Region und seiner ­Besitztümer (wörtlich: „real estate“, ganz im Geiste seines Präsidenten) und aller unserer Interessen in dieser Region.“

In dieser extremen Hardliner-Rede kam der Begriff „Klimawandel“ natürlich nicht vor. Und doch wissen alle, dass genau dieser Klimawandel die Möglichkeiten verbessert hat, die riesigen Rohstoffvorräte der Region auszubeuten. Das Wettrennen um die Kon­trol­le dieser Reichtümer hat bereits begonnen, und zwar von Anfang an als geopolitische Konfrontation zwischen den USA, Russland und China.

Was die Ausbeutung der Ressourcen betrifft, so konnte Pompeo in Rovaniemi seine Begeisterung kaum zügeln. Er erinnerte an den Kauf von Alaska im Jahr 1857, für den der damalige US-Außenminister William Seward von allen Seiten verhöhnt worden war. Heute sei die Arktisregion keineswegs das unwirtliche Hinterland, als das sie zu Sewards Zeiten gesehen wurde, sondern die vorderste Kampflinie der unbegrenzten Möglichkeiten: „Hier lagern 13 Prozent der noch nicht erschlossenen globalen Öl- und 30 Prozent der Gasreserven; dazu Unmengen an Uran und seltenen Erden, an Gold und Diamanten und Millionen Quadratmeilen von unangetasteten Ressourcen.“

Gleichermaßen begeistert sprach Trumps Außenminister von einer gewaltigen Expansion des maritimen Verkehrs durch die Eröffnung des neuen transarktischen Schifffahrtswegs zwischen dem euroatlantischen Raum und Asien: „Dank der ständigen Rückbildung der Eisdecke öffnen sich neue Seepassagen und neue Chancen für den Handel. Damit würde sich die Reisezeit zwischen Asien und dem Westen potenziell um bis zu 20 Stunden verkürzen.“ Laut Pompeo könnten die „arktischen Seerouten zum Suez- und Panamakanal des 21. Jahrhunderts“ werden.

Dass die „ständige Rückbildung der Eisdecke“ einzig und allein auf den Klimawandel zurückgeht, fand ebenso wenig Erwähnung wie eine weitere Tatsache: Sollte die arktische Passage einmal tatsächlich zum Suez- oder Panamakanal des Nordens geworden sein, dürften sich zugleich weite Teile des globalen Südens in unbewohnbare Wüstenzonen verwandelt haben.

Sobald sich diese „neuen Chancen“ ergeben, wollen die Vereinigten Staaten die Ersten sein, die sie zu nutzen wissen. In Finnland spuckte Pompeo große Töne über die tollen Fortschritte, die seine Regierung bereits gemacht habe, etwa mit den großzügigen Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen in küstennahen Gewässern, aber auch mit der Erlaubnis zur „Erkundung von Energiequellen“ im Arctic National Wildlife Refuge (ANWR).

Dieses Naturschutzgebiet im äußersten Nordosten Alaskas wird von Umweltaktivisten vor allem als Überlebensraum für die umherziehenden Karibus und andere gefährdete Tierarten geschätzt. Das hinderte Pompeo nicht, weitere Aktivitäten zur Ausbeutung der Bodenschätze anzukündigen.

Um seine Zuhörer zu beruhigen, erklärte der US-Außenminister, dass die Konkurrenz um die arktischen Ressourcen „im Idealfall“ durchaus geordnet und friedlich ablaufen würde. Sein Land glaube an „den freien und fairen und offenen Wettbewerb nach rechtsstaatlichen Prinzipien“.

Aber dann folgte gleich die Drohung: Andere Länder und insbesondere China und Russland würden sich zumeist nicht an diese Regeln halten, deshalb müssten sie einer genauen Aufsicht unterliegen und nötigenfalls auch bestraft werden.

Pompeo ging dann speziell auf China ein. Peking sei längst dabei, in der arktischen Region neue Handelswege zu erschließen und Wirtschaftsbeziehungen mit den Anliegerstaaten zu entwickeln. Allerdings würden die Chinesen ihre angeblich nur ökonomischen Aktivitäten hinterrücks auch zu militärischen Zwecken nutzen – behauptete der Außenminister jenes Landes, das in der Arktis bereits diverse Militäreinrichtungen unterhält, darunter die Luftwaffenbasis Thule im Norden von Grönland.1

Unverschämterweise, so Pompeo, spionierten die Chinesen den mit Interkontinentalraketen bestückten US-amerikanischen U-Booten nach, die im arktischen Raum operieren und für die nukleare Abschreckungsstrategie seines Landes unentbehrlich sind. Er verwies insbesondere auf die Vorgänge im Südchinesischen Meer. Dort hat China in der Tat auf ein paar winzigen unbewohnten Inseln Militäranlagen wie Flugplätze und Raketenstellungen errichtet, worauf die USA mit der Entsendung von Kriegsschiffen in die umliegenden Gewässer reagiert haben.

Der Hinweis diente ersichtlich als Warnung, dass eine ähnliche militärische Konfrontation und potenzielle Zusammenstöße künftig auch in der Arktis denkbar sind: „Wir sollten uns fragen, ob wir wollen, dass der Arktische Ozean zu einem neuen Südchinesischen Meer wird, belastet durch Militarisierung und konkurrierende territoriale Ansprüche.“

Wobei Pompeo anschließend noch stärkere Worte gegen Russland fand, dem er „ein aggressives Vorgehen in der Arktis“ vorwarf: Moskau habe in der Region hunderte neue Stützpunkte errichtet, neue Häfen gebaut und sein Flugabwehrsystem erneuert. Diese Bedrohung könne nicht ignoriert werden: „Russland hinterlässt bereits Spuren im Schnee – in der Form von Militärstiefeln.“ Die Arktis sei zwar eine Art Wildnis, „doch das heißt nicht, dass dort Gesetzlosigkeit herrschen sollte … Und wir bereiten uns darauf vor, sicherzustellen, dass es nicht so weit kommt.“

Das also ist der Kern der Botschaft: Die Vereinigten Staaten müssen selbstredend „reagieren“, indem sie ihre eigene militärische Präsenz in der Arktis verstärken – mit den einzigen Ziel, ihre Interessen zu verteidigen und das Vordringen der Chinesen und der Russen zu kontern.

Solche Töne sind keineswegs nur Zukunftsmusik: „Unter Präsident Trump verstärken wir die Sicherheit und die diplomatische Präsenz der USA in dieser Region. Zur Stärkung unserer Sicherheit – die zum Teil als Reaktion auf die destabilisierenden Aktivitäten Russlands erfolgt – veranstalten wir Militärmanöver, verstärken unsere Truppenpräsenz, bauen unsere Eisbrecherflotte wieder auf und erhöhen die Ausgaben für unsere Küstenwache“, listete Pompeo auf.

Zudem werde „innerhalb unseres Militärs eine neue Stabsstelle für arktische Angelegenheiten“ eingerichtet, fügte der US-Außenminister hinzu.

Zum Beweis, dass Washington es ernst meint, pries Pompeo stolz die größten Militärübungen der USA und der Nato, die seit dem Ende des Kalten Kriegs im arktischen Raum stattgefunden haben. Dieses multinationale Manöver mit 50 000 Soldaten (unter dem Codenamen „Trident Juncture 18“) wurde vom 25. Oktober bis zum 23. November 2018 auf norwegischem Ter­ri­to­rium abgehalten.2 Nach dem offiziellen Szenario für „Trident Junc­ture 18“ war der Gegner ein nicht namentlich genannter „Angreifer“, aber für alle Militärbeobachter war eindeutig klar, dass die Nato-Truppen eine hypothetische russische Invasion in Norwegen zurückzuschlagen hatten.

So wird in groben Konturen die Pompeo-Doktrin erkennbar, der eine Kernannahme zugrunde liegt, die innerhalb der Trump-Administration eigentlich verboten ist: dass die Klimakrise tatsächlich existiert. Diese überaus aggressive Doktrin geht für die arktische Region von einer permanenten Konkurrenz und von anhaltenden Konflikten aus, die sich infolge der Erd­er­wärmung und des Abschmelzens der polaren Eiskappen immer weiter zuspitzen.

Die Auffassung, dass sich die USA im Fernen Norden mit den Russen und Chinesen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, hat sich in Washington – speziell im Pentagon und im Nationalen Sicherheitsrat – über einen längeren Zeitraum herausgebildet. Im August 2019 ist sie offenbar auch im Weißen Haus so geläufig geworden, dass sie Trump darauf gebracht hat, Grönland kaufen zu wollen.

Dabei ist diese Idee angesichts der grönländischen Ressourcen und möglicher künftiger Auseinandersetzungen, keineswegs irre oder skurril. Denn auf der größten Insel der Erde gibt es sowohl eine Menge Bodenschätze als eben auch die Militärbasis von Thule – ein Relikt des Kalten Kriegs, das heute vornehmlich als Radarstation dient. Die Anlage wurde bereits für 300 Millionen Dollar modernisiert, um russische Raketentests besser überwachen zu können. Aus der Sicht Washingtons ist Grönland von unschätzbarem Wert in dem geopolitischen Gerangel, das Pompeo in Rovaniemi dargestellt hat.

Bei den neuen strategischen Überlegungen im State Department und im Pentagon spielen auch Island und Norwegen eine wichtige Rolle. So hat die US-Marine ihren alten Stützpunkt im isländischen Keflavík wieder besetzt – eine weitere Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs – und integriert diesen nun in ihre Strategie der U-Boot-Bekämpfung. Und auf einer Basis in der Nähe der norwegischen Stadt Trondheim sind gegenwärtig mehrere hundert der berühmten „Marines“ sta­tio­niert. Dabei handelt es sich um den ersten Daueraufenthalt ausländischer Soldaten auf norwegischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. 2018 hat das Pentagon sogar die außer Dienst gestellte Zweite US-Flotte wieder reaktiviert und mit der Aufgabe betraut, den Nordatlantik und die Seewege in Richtung Arktis zu beschützen, was die Gewässer um Grönland, Island und Norwegen einschließt.

Wir gehen also offensichtlich heißen Zeiten entgegen, wobei die umfassenden Investitionen, die dem US-amerikanischen Militär das Agieren im Fernen Norden ermöglichen sollen, erst an ihrem Anfang stehen. Während „Trident Juncture 18“ operierte der Flugzeugträger „Harry S. Truman“ und seine Begleitflotte in norwegischen Gewässern – und zwar erstmals seit der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 auch nördlich des Polarkreises.

Seitdem hat Marineminister Richard Spencer angekündigt, das Pentagon werde in der Sommersaison Überwasserschiffe der U.S. Navy die gesamte Arktis durchqueren lassen,3 was bislang nur unterhalb der Eisdecke, also für Atom-U-Boote möglich war.

Der Plan wurde diesen Sommer nicht realisiert.4 Aber in allerjüngster Zeit haben Einheiten der US-Marine und der Marineinfanterie an der Küste von Alaska ein großes amphibisches Landungsunternehmen durchgeführt. An der Übung im Rahmen des Militärmanövers „Arctic Expeditionary Capabilities Exercise (AECE) 2019“, des größten seiner Art seit Jahren, waren rund 3000 Einsatzkräfte beteiligt. Sie sollte dazu dienen, die Fähigkeit des US-Militärs zu offensiven Landungsoperationen in der umkämpften arktischen Region zu verbessern.

Obwohl der US-Außenminister und seine Redenschreiber den Begriff „Klimawandel“ niemals verwenden, ist jeder Aspekt der neuen Pompeo-Doktrin durch die Auswirkungen dieses Phänomens bestimmt. Weil die Temperaturen mit dem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen immer weiter ansteigen, wird die Eisdecke der Arktis immer schneller schrumpfen.

Damit wird die Ausbeutung der arktischen Energievorkommen zunehmend einfacher, was eine erhöhte Produktion fossiler Brennstoffe bedeutet, die wiederum den Teufelskreis der Erd­er­wärmung und des beschleunigten Abschmelzens des Polareises weiter antreibt. Mit einem Satz: Die Pompeo-Doktrin weist den sicheren Weg in die Katastrophe.

Dabei kommt noch ein Aspekt ins Spiel: Die steigenden Temperaturen und die Zunahme extremer Stürme werden die Öl- und Gasförderung in anderen Weltregionen wahrscheinlich stark beeinträchtigen. So gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten bis 2050 im Sommer mit durchschnittlich knapp 50 Grad Celsius rechnen müssen. Solche mörderische Hitze macht das Arbeiten im Freien unmöglich.

Im Golf von Mexiko – und in klimatisch vergleichbaren Regionen – könnten Hurrikane wegen der steigenden Wassertemperaturen immer extremer werden und die kontinuierliche Förderung auf den Ölbohrplattformen behindern. Sollte die Menschheit bis 2050 nicht die komplette Umstellung auf alternative Energien geschafft haben, wird die Arktis in der Mitte dieses Jahrhunderts zur wichtigsten Lieferregion von Gas und Erdöl geworden sein. Das wird den Kampf um die Kontrolle dieser fossilen Ressourcen nur noch erbitterter machen – der teuflischste Aspekt der Reaktion der Menschen auf die Klimakrise.

Je mehr fossile Energie wir verbrauchen, umso schneller wird sich die Ökologie der Arktis verändern. Und wenn die auf fossilen Brennstoff beruhende Extraktionsökonomie in anderen Re­gio­nen aus klimatischen Gründen zum Erliegen kommt, ohne dass wir die Abhängigkeit von Öl und Gas überwunden haben, wird das Schicksal des Fernen Nordens besiegelt sein. Dann wird die ehemals unberührte Weltregion, wie von der Pompeo-Dok­trin vorausgesehen, zum Schauplatz heftiger Konflikte werden – und zu einer Katastrophe für die gesamte Zivi­li­sa­tion.

1 Die US-Basis Thule existiert bereits seit 1951 und hat eine 3 Kilometer lange Landebahn. Während des Kalten Kriegs diente sie als Operationsbasis des Strategic Air Command, also der mit Atomwaffen bestückten Langstreckenbomberflotte der U.S. Air Force (B-36, B-47 und B-52). Die Basis beherbergt heute auch die größte und nördlichste Satellitenbodenstation der U.S. Air Force. Gegenwärtig halten sich dort permanent etwa 600 Armeeangehörige und Zivilisten auf.

2 Dabei handelte es sich um das größte Nato-Manöver seit der Auflösung der Sowjetunion. Parallel dazu fand das ebenfalls multinationale Seemanöver „Northern Coasts 2018“ in der Ostsee vor Finnland statt. An beiden Manövern war die Bundeswehr mit starken Kontingenten beteiligt.

3 Siehe Wall Street Journal, 12. Januar 2019.

4 Das Vorhaben wurde auch in Fachkreisen kritisch gesehen, denn es hätte nicht nur U.S.-Navy-Schiffe (durch Eisgang) gefährdet, sondern auch zu Konflikten mit Russland und Kanada geführt. Siehe: Rebecca Pinkus, „Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP is Dangerous“, in: RealClear Defense, 1. Februar 2019.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Michael T. Klare ist Professor em. für Friedens- und globale Sicherheitsstudien und schreibt regelmäßig für die Website TomDispatch, auf der auch dieser Text erschienen ist. Sein neues Buch, „All Hell Breaking Loose: the Pentagon’s Perspective on Climate Change“, erscheint im November bei Metropolitan Books.

© Michael Klare; für die deutsche Übersetzung, LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.10.2019, von Michael T. Klare