Der große Handelskrieg
Trumps Abschottungspolitik richtet sich vor allem gegen die Volksrepublik. Chinas ökonomische und militärische Stärke wird von den USA als Bedrohung wahrgenommen. Deshalb versucht Washington, mit Vorschriften, Zöllen und Sanktionen den Rivalen zu schwächen.
von Philip S. Golub
Am 26. Juni 2016 sprach der frisch gekürte Kandidat der Republikaner zum ersten Mal über die Wirtschafts- und Handelspolitik, die er als künftiger Präsident der Vereinigten Staaten umzusetzen gedachte. Auf seine beißende Kritik an der „aggressiven Globalisierungspolitik“ der bisherigen US-Regierungen, die zur „Verlagerung unserer Arbeitsplätze, unseres Wohlstands und unserer Fabriken ins Ausland geführt“ habe und die schuld sei an der „Zerstörung“ der Mittelschicht, folgte ein Rundumschlag gegen die „herrschende Klasse, die dem Globalismus mehr huldigt als der amerikanischen Sache“.
Vier Faktoren seien für den Niedergang des US-Industriesektors verantwortlich: Das nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta, das Transpazifische Handelsabkommen TPP, die WTO – und China. Sobald er gewählt sei, werde er für den Rückzug der USA aus dem TPP-Abkommen sorgen, Nafta neu verhandeln und China, dem er vorwarf, die Devisenmärkte zu manipulieren, mit Sanktionen belegen und wegen „unlauterer“ Handelspraktiken vor Gericht bringen. Am Ende seiner Rede drohte der Kandidat mit Zöllen auf Importe aus der Volksrepublik und verkündete, er werde „alle legitimen Befugnisse des Präsidenten nutzen“, um die bilateralen Handelsstreitigkeiten „zu regeln“.1
Damals nahmen nur wenige Beobachter den Immobilienhändler ernst, weil man es für unwahrscheinlich hielt, dass Donald Trump gewählt werden würde. Und sollte er wider Erwarten doch an die Macht kommen, würden ihn das US-Finanzministerium und die einflussreichen Apologeten des „freien Welthandels“ schon zur Vernunft bringen. Die Beobachter überschätzten jedoch die Möglichkeiten des Kapitals – und sie unterschätzten das politische Potenzial, das der Aufstieg Chinas freigesetzt hat.
Für die neue Leitung im Planungsstab des US-Außenministeriums besteht jedenfalls kein Zweifel, dass China eine „langfristige fundamentale Bedrohung“ darstellt.2 Der Versuch der Vereinigten Staaten, Chinas Einfluss einzudämmen, hat bereits weitreichende Folgen. Er beeinträchtigt die internationalen Beziehungen und verändert den Lauf der Globalisierung.
Vor 30 Jahren sah die Welt aus der Sicht Washingtons noch anders aus. Damals galt China sogar als Verbündeter der USA, deren Außenpolitik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein Ziel mitverfolgen sollte: die globale Verbreitung des US-amerikanischen Modells. Unter dem Schlagwort „Konsens von Washington“ setzten das US-Finanzministerium und der IWF ein Programm zur weltweiten Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung um.
Diese Rezepte wurden Ende der 1980er Jahre zuerst den verschuldeten Ländern Subsahara-Afrikas und Lateinamerikas aufgezwungen. Nach der Asienkrise von 1997/98 waren dann die Schwellen- und Entwicklungsländer Ostasiens dran. Auf starken Druck von außen rückten sie mehr oder weniger von ihrer etatistischen Industriepolitik und der Abschottung ihrer Binnenmärkte ab. Der Staat zog sich zurück und machte den Weg frei für Auslandsinvestitionen und das Eindringen multinationaler Konzerne.
Für die Multis schuf der Untergang der Sowjetunion die Voraussetzungen für ein zweites Goldenes Zeitalter des Kapitalismus. Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs waren die USA die einzige verbliebene Großmacht.
Vor 30 Jahren noch potenzieller Partner
In den 1990er Jahren deckten sich die Ziele von Staat und Kapital in außergewöhnlichem Maße – vergleichbar etwa der Symbiose von britischem Empire und britischen Großunternehmen zur Zeit der größten Ausdehnung des Vereinigten Königreichs. Während sich die Kolonialmacht mit der Drohung oder der Ausübung von Gewalt in Lateinamerika, China und Ägypten für das Kapital einsetzte, beugten sich im Gegenzug die privaten Investoren den strategischen Interessen des Empires.
Ende des 20. Jahrhunderts fiel die Rolle des Empires der US-Regierung zu, die mit den multinationalen Unternehmen und Banken an einem Strang zog und damit entscheidend zur Liberalisierung der Weltwirtschaft beitrug. In ihrer unangefochtenen Machtfülle konnten die USA das internationale Umfeld nach ihren Wünschen gestalten, die eigene Position verbessern und sich noch mehr Vorteile sichern. So viele Länder wie möglich sollten dazu bewegt werden, die US-amerikanische Vision einer liberalen kapitalistischen Weltordnung zu übernehmen.
Damals betrachteten die politischen und wirtschaftlichen Führungskräfte der Vereinigten Staaten China tatsächlich eher als Partner denn als Rivalen. Für eine Bedrohung hielten sie die Volksrepublik ganz sicher nicht. Schließlich hatte das Zentralkomitee Ende der 1960er Jahre sowie in den 1970er Jahren gemeinsame Sache mit dem Weißen Haus gemacht, als es um die Eindämmung der sowjetischen Machtansprüche ging. Am 1. Januar 1979 nahmen Washington und Peking diplomatische Beziehungen auf. Knapp einen Monat später trat Deng Xiaoping zu einer neuntägigen Reise durch die Vereinigten Staaten an.
Während der Zeremonie vor dem Weißen Haus flatterte die rote chinesische Fahne im Wind, und just als die obligatorischen neunzehn Salutschüsse ertönten, fuhr ein grellroter Lieferwagen von Coca-Cola vorbei – wie ein Sinnbild für die Millionen Dollar, die sich das ungeduldige US-amerikanische Kapital von Pekings neuem Interesse an Handel, Technologie und den US-Krediten erhoffte.
In den 1980er Jahren wurde der chinesische Binnenmarkt liberalisiert und das Land öffnete sich für Auslandsinvestitionen. 1986 beantragte Peking die Mitgliedschaft beim Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), dem Vorläufer der WTO. Nach dem Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 verhängten westliche Staaten Sanktionen gegen China, und die Volksrepublik zog sich für drei Jahre von der weltpolitischen Bühne zurück – um Anfang der 1990er Jahre umso rasanter durchzustarten. Auf seiner Reise durch Südchina belebte Deng 1992 die ins Stocken geratenen Wirtschaftsreformen und sorgte für eine beschleunigte Integration Chinas in die globale Ökonomie.
Um den eigenen Transformationsprozess nicht zu gefährden, einigte sich die Volksrepublik mit den USA darauf, potenziellen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Im UN-Sicherheitsrat sah China bewusst davon ab, die außenpolitischen Interventionen der Vereinigten Staaten zu durchkreuzen.3 Und die USA versuchten ihrerseits China in die Institutionen und Handelsstrukturen der westlich dominierten Weltwirtschaft einzuführen, deren Regeln in Washington festgelegt wurden. So definierten die USA die strengen Vorgaben für Chinas Beitritt zur WTO, der erst am 11. Dezember 2001 in Kraft trat.
Die Führungskräfte in den USA hielten wirtschaftliche und politische Freiheiten für voneinander untrennbar und handelten aus einer Position der Stärke heraus. Sie meinten auf diese Weise sowohl den ökonomischen als auch den politischen Kurs Chinas mitbestimmen zu können.
Je mehr sich China öffnete, desto mehr ausländische Direktinvestitionen flossen ins Land. Zwischen 1984 und 1989 betrugen die Mittelzuflüsse netto (zu laufenden Wechselkursen des Internationalen Dollars) durchschnittlich 2,2 Milliarden US-Dollar, zwischen 1992 und 2000 30,8 Milliarden US-Dollar und zwischen 2000 und 2013 170 Milliarden US-Dollar. Die Volksrepublik wollte diese Mittel einsetzen, um Technologien und Know-how zu erwerben.
Zunächst floss der größte Teil dieser Investitionen jedoch in Sektoren mit niedriger Wertschöpfung. Hierzu zählten unter anderem die Textilbranche sowie die Verarbeitungsindustrie, deren Beschäftigte zum Beispiel Elektro- und Elektronikgeräte aus Bauteilen montierten, die außerhalb Chinas hergestellt worden waren. Als Auftraggeber traten globale Unternehmen auf, die die geistigen Eigentumsrechte an den jeweiligen Produkten besaßen.
Beobachter bezifferten damals den technologischen Vorsprung der Investor-Staaten vor China auf etwa 20 Jahre.4 Die Gewinne Chinas innerhalb der Wertschöpfungsketten fielen mager aus, während die der transnationalen Unternehmen enorm waren. Das Land schien in einer strukturellen Abhängigkeit gefangen. Diese Situation änderte sich ab den späten 2000er Jahren und stellt sich heute völlig anders dar.5
China eignete sich durch die für die ausländischen Investoren verpflichtenden Transfers technologisches Wissen an und forcierte die Modernisierung der Industrie sektorenübergreifend. Dadurch gelang es dem Land, in zahlreichen Industriebranchen stetig voranzuschreiten und einen zunehmenden Teil des Mehrwerts abzuschöpfen.
Chinas Fortschritte und sein wirtschaftliches wie politisches Gewicht in Ostasien bereiteten den Verantwortlichen in Washington und anderen westlichen Hauptstädten immer größeres Kopfzerbrechen. 2011 verkündete US-Präsident Barack Obama eine neue Handelsstrategie („Pivot to Asia“) und erklärte Asien zum künftigen Dreh- und Angelpunkt der US-Außenpolitik. „China möchte die Regeln für die Weltregion mit dem höchsten Wachstum festschreiben. Weshalb sollten wir das zulassen? Wir sind es, die diese Regeln festlegen müssen“, stellte Obama 2015 in seiner Rede zur Lage der Nation klar.
Um Chinas Aufstieg zu bremsen, geht die aktuelle US-Administration indes noch wesentlich weiter und entledigt sich schlichtweg aller Regeln. Aus Sicht der USA ist China zu schnell zu reich geworden. In der Tat stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner von 194 US-Dollar im Jahr 1980 auf 9174 US-Dollar im Jahr 2015.
Die USA sehen sich mit einem starken Staat konfrontiert, der die Entwicklung nationaler Industriekonglomerate in den Bereichen Telekommunikation, Schifffahrt und Bahn (Hochgeschwindigkeitszüge) stark vorangetrieben hat und einen wachsenden Anteil seines BIPs in die Forschung steckt (2 Prozent 2016 gegenüber 0,6 Prozent 1996; in den USA beläuft sich die Quote auf 2,7 Prozent).
China modernisiert seine Marine und expandiert international mit der sogenannten Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI), für deren Seewege die Volksrepublik bereits 42 Häfen in 34 Ländern gekauft oder gebaut hat beziehungsweise aktuell betreibt. Die US-Amerikaner wissen zwar, dass China ihnen in den meisten sensiblen technischen Bereichen qualitativ immer noch deutlich unterlegen ist. Doch dass die Volksrepublik – wie Japan in den 1970er Jahren und Anfang der 1980er Jahre – rasch aufholt, verunsichert sie zutiefst.
In dem Handelskrieg, den Trump China erklärt hat, werden chinesische Unternehmen gezielt vom US-Markt für Hochtechnologie ausgeschlossen. Selbst Pekings Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer werden von den USA mit dem Argument zurückgewiesen, der Zugriff Chinas auf die Inseln dieses Meeres stelle eine „Bedrohung für die Weltwirtschaft“ dar, wie etwa der frühere Vorstandschef von ExxonMobil, Rex Tillerson, bei seiner Bewerbungsrede für das Außenministeramt am 11. Januar 2017 vor dem US-Senat erklärte. Außerdem müssen sich mittlerweile alle chinesischen Universitätsabsolventen in den USA verschärften Sicherheitschecks unterziehen.
Erste Schritte in Richtung Handelskrieg stellen die drastischen juristischen und ordnungspolitischen Maßnahmen Washingtons gegenüber dem Telekommunikationskonzern Huawei dar, dem weltweit größten Anbieter drahtloser Netzwerkausrüstung. Mit gemischten Erfolgen betreiben die USA den weltweiten Ausschluss Huaweis vom 5G-Netzausbau. Am 1. Dezember 2018 ließ Kanada auf Verlangen der USA die Finanzchefin von Huawei verhaften. Meng Wanzhou wird Bankbetrug, eine Verschwörung zur Verletzung der US-Sanktionen gegen Iran und Ausspähung von Geschäftsgeheimnissen vorgeworfen. Aktuell wehrt sie sich juristisch gegen eine Auslieferung an die USA.
In der Financial Times ist schon von einem „Kalten Krieg“ die Rede. Die Wirtschaftszeitung warnt in ihrer Ausgabe vom 20. Mai 2019 vor einer Aufspaltung der globalen Technologiebranche: „Die Entscheidung Amerikas, das Flaggschiff der chinesischen Telekommunikationskonzerne auf die Liste der Unternehmen zu setzen, mit denen amerikanische Firmen nur nach Erteilung einer staatlichen Lizenz Geschäfte treiben dürfen, markiert einen Schlüsselmoment.“
Trumps Handelskrieg richtet sich nicht nur gegen Peking, sondern gleichermaßen gegen jene Unternehmen, die China zu einer Montage- und Produktionsplattform gemacht haben. Die US-Behörden sind der Meinung, dass „zu große Teile der Lieferkette nach China verlagert werden“6 und dass die transnationalen Konzerne, die in der Volksrepublik investiert haben, Teil des Problems sind. Trump bezeichnet die Aktivitäten dieser Unternehmen als „unpatriotisch“ – ein Argument, das in nationalistischen Kreisen seit langem Konjunktur hat. Der für seine Theorie vom „Kampf der Kulturen“ bekannt gewordene Politikprofessor Samuel Huntington warf schon 1999 den „Liberalen, Akademikern und Wirtschaftseliten“ vor, „antinationale Gefühle“ zu schüren, und forderte einen „robusten Nationalismus“.
Nicht nur die US-Regierung, auch einflussreiche Oppositionspolitiker, wie der demokratische Fraktionsführer im Senat, Chuck Schumer, setzen darauf, dass ein anhaltender, auf strengen Sicherheitsvorschriften beruhender Handelskonflikt derart hohe Kosten für die transnationalen Konzerne zur Folge hat, dass diese ihr Kapital aus China abziehen.7 Damit würde, so das Kalkül, dem Technologietransfer und anderen Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wie etwa dem Verkauf von Computerchips der US-Firmen Intel und Micron an Huawei, ein Ende gesetzt werden.
Der harte Kurs betrifft selbst Unternehmen mit Sitz außerhalb der USA. Die Washingtoner Vorschriften gelten für sämtliche Produkte und Prozesse, die Komponenten aus US-amerikanischer Herstellung enthalten oder integrierte geistige Eigentumsrechte nutzen. Künftig könnten die US-Regeln auch all jene Firmen binden, die den Dollar in Handelsgeschäften einsetzen, wie die aktuelle Blockade Irans durch Washington zeigt.
Die Reaktionen global agierender Wirtschaftsakteure auf den Handelskrieg ließen auch nicht lange auf sich warten: Im Februar 2019 begannen 66 taiwanesische Unternehmen mit Unterstützung der Regierung in Taipeh ihre Produktion von Kontinentalchina nach Taiwan zu verlegen. Im April 2019 verkündete der taiwanesische Großkonzern Foxconn, der in China für Apple und andere große Elektronikunternehmen produziert, er werde seine Herstellung nach Indien und Vietnam verlagern, um sich gegen künftige Turbulenzen innerhalb der asiatischen Lieferketten zu wappnen.8
Außerdem ziehen sich dutzende US-amerikanische und japanische Firmen aus China zurück und gehen nach Mexiko, Indien und Vietnam. Von den 200 wichtigsten in China aktiven US-Unternehmen lassen bereits 120 ihre Lieferketten überprüfen.9 Dieser Prozess wird sich noch beschleunigen, wenn die US-Regierung den Konflikt weiter anheizt. Laut der Bank Morgan Stanley würde sich das iPhone XS um 160 US-Dollar verteuern, sollten die USA alle „chinesischen“ Exporte mit Strafzöllen belegen.10
Konzernflucht aus China
Doch um einen Teil der Produktionskette wieder in die USA zurückzuholen, wie es die US-Regierung ohne Unterlass fordert, müsste man Unternehmen wie Apple oder Nike, die keine eigenen Fabrikationsstätten besitzen, schon erhebliche Anreize bieten. Die Zerschlagung ihrer chinesischen Plattformen wäre für sie mit großen Kosten und Schwierigkeiten verbunden. Außerdem würde die Verlagerung der Produktion in die USA ihre Gewinnmargen erheblich schmälern.
So schöpft Apple als Systemplaner und Inhaber der geistigen Eigentumsrechte fast die Hälfte vom Gesamtwert des Endprodukts ab (dessen Bestandteile und Rohstoffe von mehr als 200 Lieferanten aus Dutzenden von Ländern stammen), während auf die Montage in China nur 2 Prozent entfallen.
Trumps Wille scheint indes unerschütterlich zu sein. So kritisierte er die US-Handelskammer Anfang Juni in einem Interview dafür, dass sie sich für eine Aufrechterhaltung der Handelsbeziehungen mit China ausgesprochen hat und erklärte bei dieser Gelegenheit, er werde alle chinesischen Importe mit einem 25-prozentigen Zoll belegen, sollte Peking nicht auf seine Forderungen eingehen.11 Aktuell wird etwa die Hälfte der Einfuhren zu diesem neuen Tarif verzollt.
Im Gegensatz zur Sowjetunion, die nie Teil der kapitalistischen Weltordnung war, bewegt China sich schon lange im „Obergeschoss“ der ökonomischen Aktivitäten, wie der Sozialhistoriker und Mitbegründer der „École des Annales“, Fernand Braudel (1902–1985), einmal den Kapitalismus genannt hat. Und dieses Obergeschoss ist im Gegensatz zu den lokalen Märkten im „Erdgeschoss“ auf eine offene Weltwirtschaft mit ungehindertem Kapitalverkehr angewiesen. Abgesehen von einigen bedeutenden Ausnahmen wie dem Verteidigungssektor und der Energiebranche, in die der Staat eingreift, agieren alle wichtigen Wirtschaftsbranchen global.
Die aktuelle Situation nährt nicht nur Zweifel an der liberalen Hypothese, wonach das Ende des 20. Jahrhunderts erreichte Maß an gegenseitiger Abhängigkeit einen unumkehrbaren Wandel in den internationalen Beziehungen eingeleitet habe. Auch die neomarxistische Annahme, dass eine „transnationale Klasse“ die Herrschaft übernimmt und die Grenzen der Politik und des Staats überschreiten wird, erscheint gerade wenig wahrscheinlich.12
Es wäre naiv zu glauben, China gäbe dem Druck der USA nach. China sei auf einen langfristigen Handelskrieg mit den USA vorbereitet, verkündete jedenfalls das englischsprachige Parteiorgan Global Times am 30. Mai. Die öffentliche Meinung würde harte Gegenmaßnahmen Pekings befürworten. Immer mehr Chinesen seien mittlerweile der Auffassung, einige Washingtoner Eliten legten es in Wahrheit darauf an, die Entwicklungsfähigkeit Chinas zu zerstören, schreibt das Blatt.
Auf beiden Seiten scheint das Macht- dem Gewinnstreben den Rang abzulaufen. Und es könnte sein, dass der Schlagabtausch zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Nationalismus der Globalisierung, wie wir sie bislang kannten, ein Ende setzt.
5 Siehe Philip S. Golub, „China und der Rest der Welt“, LMd, Dezember 2017.
11 Interview von Joe Kernen mit Donald Trump, CNBC, 10. Juni 2019.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Philip S. Golub ist Professor für Internationale Beziehungen an der Amerikanischen Universität von Paris und Autor von „East Asia’s Reemergence“, Cambridge (Polity Press) 2016.