10.10.2019

Erdoğans Poker

zurück

Erdoğans Poker

Die Türkei brüskiert immer wieder ihre Nato-Partner. Ein Ausscheiden aus dem Bündnis ist dennoch wenig wahrscheinlich

von Didier Billion

Amoako Boafo, Aketch Joy Winne, 2019, Öl auf Leinwand, 99 x 84 cm Nick Ash
Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 12. Juli trafen die ersten Komponenten des russischen Luftabwehrsystems S-400 in der Türkei ein. Ankara und Moskau hatten den Vertrag über das Rüstungsgeschäft im April 2017 abgeschlossen. Diese Lieferung, der im August und im September weitere folgten, hat für erhebliche Spannungen zwischen Ankara und Washington gesorgt.

Nach Auffassung des Pentagon ist das S-400 mit den Systemen der ­Nato, der die Türkei seit 1952 angehört, nicht kompatibel. Um Ankara unter Druck zu setzen, beschloss die Regierung Trump, die von der Türkei gekauften F-35-Kampfjets nicht auszuliefern und die türkische Beteiligung an dem Rüstungsprojekt aufzukündigen. Das löste die Befürchtung aus, die Türkei könnte aus der Nato ausgeschlossen werden, und die Beziehungen zu den USA, die bereits durch Differenzen in Syrien strapaziert sind, könnten sich weiter verschlechtern.

Die Dynamik der türkischen Außenpolitik ist nur zu verstehen, wenn man das sogenannte Sèvres-Syndrom im Kopf hat. Der Begriff spielt auf den Vertrag an, der am 10. August 1920 in dem Pariser Vorort auf Druck der Siegermächte des Ersten Weltkriegs unterzeichnet wurde und die Zerschlagung des Osmanischen Reichs besiegelte. Dieses Ereignis steht für alle türkischen Existenzängste. Und tatsächlich ist der leicht zu verletzende Nationalstolz eine wichtige Triebfeder der türkischen Außenpolitik. In der Region selbst ist weiterhin die Kurdenfrage von zentraler Bedeutung. Ankara ist geradezu obsessiv darauf bedacht, die Bildung eines irgendwie gearteten kurdischen Staats zu verhindern.

Anfang der 2000er Jahre gab es einen ersten Versuch, diese Wahrnehmungsmuster zu überwinden. Der Anstoß kam von Ahmet Davutoğlu. Der spätere Außenminister (2009–2014) und Ministerpräsident (2014–2016) erfand damals das Motto „Null Probleme mit den Nachbarn“.1

Diesen Vorstoß könnte man angesichts der turbulenten Beziehungen der Türkei zu ihren unmittelbaren Nachbarn nur lächerlich finden. Doch Da­vut­oğlu drückte damit den ehrlichen Wunsch aus, mit einem Grundprinzip der türkischen Außenpolitik zu brechen, das seit Jahrzehnten lautete: „Der einzige Freund des Türken ist der Türke.“ Doch die Erschütterungen im geopolitischen Umfeld, insbesondere der Bürgerkrieg in Syrien und seine Folgen, machten diese Bestrebungen zunichte. Die alten Ängste und Obsessionen gewannen erneut die Oberhand.

Die Türkei ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eng mit den westlichen Mächten verbunden, aber sie war nie ein einfacher Verbündeter. Insbesondere im Verhältnis mit den USA traten immer wieder Differenzen zutage. Nach der türkischen Invasion in Nordzypern im Juli 1974 verhängte Washington ein mehrmonatiges Waf­fen­em­bargo gegen Ankara. 2003 wurden die bilateralen Beziehungen empfindlich gestört, als das türkische Parlament ein Gesuch von Präsident George W. Bush ablehnte, 62 000 GIs über türkisches Territorium in den Krieg gegen den irakischen Machthaber Saddam Hussein ziehen zu lassen.

Seit den 1960er Jahren hat sich die Türkei mehrmals bemüht, ihre Beziehungen zum Ausland neu zu ordnen. Zum Verzicht auf ihre traditionellen Bündnisbeziehungen war sie jedoch nie bereit. Das bezeugen drei Ereignisse aus jüngster Vergangenheit.

Beim Nato-Gipfel in Lissabon 2010 stimmte Ankara im Rahmen eines gemeinsamen Raketenschutzschilds der Installation einer Frühwarn-Radarstation auf türkischem Boden zu. Im Januar 2013 verlegte die Nato auf Bitte der Türkei US-amerikanische Patriot-Raketen an die türkisch-syrische Grenze, um den Bündnispartner vor Luftangriffen aus Syrien zu schützen.2 Und als am 24. November 2015 die türkische Luftabwehr einen russischen Kampfjet abgeschossen hatte, erfüllten die Nato-Botschafter die türkische Forderung nach einer Sondersitzung binnen weniger Minuten.

Obwohl Erdoğan die Spannungen mit Washington durch eine nationalistische Instrumentalisierung der Differenzen weiter verschärft, hat die Türkei nicht ernsthaft vor, die Brücken abzubrechen. Vielmehr versucht sie im Wissen um die eigene Stärke, ihre Machtinteressen rigoros durchzusetzen.

Was macht diese Stärke aus? Die türkischen Streitkräfte sind personell die zweitgrößten der Nato. Sie ermöglicht ihren Bündnispartnern die Nutzung der Luftwaffenbasis Incirlik, wo die USA sogar Atomwaffen lagern. Sie kontrolliert die strategisch wichtigen Meer­en­gen (Bosporus und Dardanellen). Überdies ist die Türkei der einzige muslimische Staat im atlantischen Bündnis. Aus all diesen Gründen ist das Land noch immer ein wichtiges, für die US-Politik unentbehrliches Scharnier zwischen Europa und Vorderasien.

Das Vertrauensverhältnis zwischen Nato und Türkei wurde durch Ankaras Entscheidung zum Kauf des Systems S-400 unbestreitbar beschädigt. Dieses Waffensystem ist mit den Normen des Nordatlantikvertrags in der Tat unvereinbar. Washington befürchtet, dass Ankara die S-400-Raketen mit seinen westlichen Waffensystemen vernetzen könnte, was diese für russische Spionage anfällig machen würde.

Dennoch sind die gemeinsamen Interessen nach wie vor stark. Deshalb wird die Türkei auch in der Nato bleiben, selbst wenn Erdoğan zuweilen den Störenfried spielt wie in früheren Zeiten General de Gaulle.

In Ankara weiß man, dass kein anderes Land oder Bündnis ihr vergleichbare Sicherheitsgarantien bieten kann wie die Nato. Tatsächlich ist die Türkei an diversen westlichen Rüstungsprojekten beteiligt und über weitere wird bereits verhandelt. Damit demonstriert sie aber auch ihre Entschlossenheit, die eigenen Verteidigungskapazitäten auszubauen. Die auf dem Stützpunkt Incirlik stationierten Patriot-Systeme reichen nicht aus, um die gesamte ­türkische Ost- und Südgrenze abzudecken.

US-Präsident Trump weigert sich explizit, der Türkei den Kauf der S-400 anzulasten. Er sieht die Schuld vielmehr bei seinem Vorgänger Obama, der Ankara den Kauf von Patriot-Raketen verwehrt habe.

Opportunistische Allianz mit Russland

Dennoch reagierte Trump auf die Lieferung der ersten S-400-Teile an die Türkei mit Vergeltungsmaßnahmen: Ankara wurde aus dem F-35-Kampfjet-Programm ausgeschlossen, was bedeutet: keine Auslieferung der Flugzeuge und keine weitere Beteiligung an der Produktion sowie die Ausweisung aller türkischen Piloten und Techniker, die in den USA am F-35-Ausbildungsprogramm teilnehmen.

Im Gegensatz dazu stellte sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg eher auf die Seite Ankaras, als er am 17. Juli 2019 erklärte: „Die Rolle der Türkei in der Nato geht weit über die F-35 und S-400 hinaus.“3

Und wie steht es um Ankaras Beziehungen zu Moskau, die derzeit einigermaßen harmonisch erscheinen? Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen, dass diese sich stets auf einem schmalen Grat bewegen, wobei es in der Realität weder zu einer strategischen Allianz noch zu einem totalen Bruch kommen wird.

Die bisweilen geäußerte Befürchtung, Ankara und Moskau könnten eine antiwestliche Allianz schmieden, beruhen auf einer falschen Einschätzung der Möglichkeiten wie der Ziele beider Länder auf der internationalen Bühne. Diese haben zwar auf den ersten Blick einiges gemeinsam: Beide gehören zu den „Schwellenländern“; beide sind autoritäre Staaten mit personalisierter Machtstruktur; beide haben ein angespanntes Verhältnis zur EU und den USA; beide pflegen einen nostalgischen Blick auf die glorreiche Vergangenheit und streben nach mehr Einfluss auf internationaler Ebene.

Jenseits dieser Gemeinsamkeiten gibt es jedoch grundlegende Unterschiede. Während Russland dabei ist, seinen Platz auf der Weltbühne zurückzugewinnen, hat die Türkei den ihren nie richtig gefunden. Diese ständige Asymmetrie führt zu Spannungen, die trotz der gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Interessen beider Länder immer wieder sichtbar werden.

Ein Beispiel: Die Rückkehr Russlands in den Kreis der Großmächte steht dem türkischen Ehrgeiz im Wege, sich als regionale Führungsmacht zu etablieren. Mit seinem Eingreifen in den Syrien-Krieg stärkt Moskau seine Position im Nahen und Mittleren Osten und besetzt damit die zentrale Rolle, die nach der Davutoğlu-Doktrin eigentlich Ankara zustehen würde.

Dabei liegt es auch an Erdoğans Unberechenbarkeit und an seiner Unfähigkeit, eine klare Perspektive zu formulieren, dass die Türkei in den Verhandlungen über die Zukunft Syriens keine starke Position hat. Allerdings ist eine Lösung des Konflikts ohne die Türkei auch nicht vorstellbar.

Begriffe wie Allianz oder Partnerschaft, die eine Reihe von wechselseitigen Pflichten und politischen Zwängen beinhalten, sind ohnehin ungeeignet, den im Prinzip pragmatischen Charakter der russisch-türkischen Beziehungen zu erfassen. Man darf die ideologische, politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit, die geopolitisch geboten ist, nicht mit einer strategischen Annäherung im Sinne einer Blockbildung verwechseln. Auch darf man nicht vergessen, dass beide Länder ihre Interessen immer wieder neu abwägen. Feststeht allerdings, dass die Türkei – anders als ihre westlichen Verbündeten – Russland nicht als Feind oder Bedrohung wahrnehmen.

Wladimir Putin hat offenbar erkannt, dass er auf die Türkei angewiesen ist, wenn er seine Ziele in Syrien erreichen und seine weltpolitischen Ambitionen realisieren will. Im Gegenzug gewährt er der Türkei im Nordosten Syriens einen gewissen Spielraum bei deren Vorgehen gegen die kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und die ihr nahestehende YPG-Miliz. Dasselbe gilt für die Region Idlib, wo Ankara nach wie vor Einfluss auf einige Rebellengruppen hat.

Aus Sicht Erdoğans ist die Zusammenarbeit mit Russland also ein Mittel, um in der Kurdenfrage das letzte Wort zu behalten. Zwar sind taktische Kurswechsel nicht auszuschließen, aber für die Türkei ist klar, dass die Politik Moskaus in der Region für ihre Interessen deutlich weniger gefährlich ist als die Politik Washingtons.

Kurzfristig hängt das russisch-türkische Verhältnis vor allem davon ab, wie es im Syrien-Konflikt und bei den Verhandlungen über eine langfristige Lösung weitergehen wird. Außerdem wird entscheidend sein, wie sich die Beziehungen der beiden Länder zur EU und zu den USA entwickeln.

Die türkische Außenpolitik wird letztendlich von zwei Entwicklungen bestimmt: Zum einen von der langwierigen, nunmehr schon 50 Jahre andauernden Suche nach einer eigenen Identität; zum anderen von dem in letzter Zeit ausgeprägten Willen, all jene neuen Entwicklungen zu berücksichtigen, die heute die internationalen Beziehungen strukturieren. Zum Beispiel die Tatsache, dass die Werte, die im Westen noch immer – mehr oder weniger vage – als universell gültig gesehen werden, künftig weder mit militärischen noch mit politischen noch mit kulturellen Mitteln durchgesetzt werden können.

Die sogenannten Schwellenländer drängen immer selbstbewusster auf die internationale Bühne und bringen damit die traditionellen Gleichgewichte ins Wanken. Die Türkei ist dafür ein gutes Beispiel. Erdoğan hat wiederholt proklamiert, dass er eine Weltordnung ablehnt, in der die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats das Sagen haben. Bei der abschließenden Sitzung der Parlamentarischen Versammlung der Nato erklärte er am 21. November 2016 in Istanbul: „Der UN-Sicherheitsrat muss reformiert werden, damit er der heutigen Welt besser entspricht. Die Welt ist größer als diese fünf.“4

1 So in seinem Buch „Stratejik Derinlik“ („Strategische Tiefe“), das 2001 in der Türkei veröffentlicht wurde und von dem noch keine Übersetzung vorliegt.

2 Der Einsatz, an dem auch Soldaten der Bundeswehr beteiligt waren, wurde im Oktober 2015 nicht verlängert; die Patriot-Systeme wurden Anfang 2016 abgezogen.

3 Jens Stoltenberg, „Nato is good for Europe and for North America“, Aspen Security Forum, 17. Juli 2019, www.nato.int.

4 Anadolu, Istanbul, 21. November 2016.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Didier Billion ist stellvertretender Direktor des französischen Instituts für internationale und strategische Beziehungen (Iris).

Le Monde diplomatique vom 10.10.2019, von Didier Billion