12.08.2005

Der Körper des Che

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Der Körper des Che

Das Ende des bolivianischen Revolutionsführers – ein Augenzeugenbericht von Richard Gott

Im Jahre 1967 lebte ich in Santiago de Chile. Ich arbeitete damals an der Universität und schrieb ab und zu für die Londoner Zeitung The Guardian. Im Januar desselben Jahres erfuhr ich von befreundeten linken Chilenen, dass sich Che Guevara in Bolivien aufhalte. Im März tauchten die ersten Meldungen auf über das Entstehen einer Guerillabewegung. Mehrere Journalisten spürten das verlassene Guerillalager in Nancahuazú auf, das im Osten Boliviens in der Nähe der Ölförderstadt Camiri lag. Eine Gruppe, die von diesem Lager aus weitergezogen war – zu ihr gehörte auch der französische Schriftsteller Régis Debray1 –, wurde im April von der bolivianischen Armee gefasst und in Camiri interniert. Zur selben Zeit veröffentlichten die Kubaner in Havanna Ches letzten Text: Sein Aufruf „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“ richtete sich an die internationale Linke.

Ich beschloss, nach Bolivien zu reisen, um herauszufinden, ob das Land tatsächlich als geeignetes Terrain für „ein weiteres Vietnam“ betrachtet werden und man wirklich von einer vorrevolutionären Situation sprechen konnte. Denn aus der internationalen Presse erfuhr man kaum etwas über den Krieg in Bolivien. In der chilenischen Hafenstadt Antofagasta bestieg ich den Zug nach La Paz. Bolivien war damals eine Militärdiktatur, an deren Spitze Luftwaffengeneral René Barrientos stand. Zwei Jahre zuvor war er an die Macht gekommen und hatte bei den ersten Anzeichen einer Guerillatätigkeit das Kriegsrecht ausgerufen.

Ich hatte alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Da ich mit dem Zug eintraf, entging ich den strengeren Kontrollen auf den Flughäfen. Und weil man als Mann mit Bart unweigerlich Verdacht erregte, hatte ich mich rasiert. Ich wollte als einfacher Tourist durchs Land reisen, mich also nicht als ausländischer Korrespondent akkreditieren. Aber das war unmöglich: Denn ohne schriftliche Genehmigung von Oberbefehlshaber General Alfredo Ovando, der sich zwei Jahre später an die Macht putschte, durfte man nicht außerhalb der Städte reisen.

Also ließ ich mich wie andere ausländische Journalisten in La Paz akkreditieren. Unter diesen Kollegen war auch ein Freund, der für die Londoner Times arbeitete. Der erzählte mir vom merkwürdigen Verhalten eines dänischen Kollegen, der zwei Stunden täglich ausführliche Telexberichte nach Kopenhagen schicke, die jede noch so kleine Meldung aus den bolivianischen Zeitungen enthielten. Mein Freund fragte sich irritiert, ob in Dänemark das Interesse an Bolivien tatsächlich so groß sein könne. Auch ich war ziemlich verwundert. Erst Jahre später erfuhr ich, dass der Däne ein bekannter linker Journalist war, der Berichte für die kubanische Nachrichtenagentur Prensa schrieb, die er über Dänemark nach Havanna sandte.

Mehrere Wochen lang reiste ich durch Bolivien und berichtete über die laufenden Ereignisse. In den Zinnbergwerken von Oruro, Siglo Veinte und Potosi standen an jedem Schachteingang bewaffnete Soldaten – sämtliche Minen waren vom Militär besetzt. Alle Gewerkschaftsführer waren verhaftet worden, und die Bergleute trauten sich nicht, mit mir zu reden.

Außerdem wollte ich wissen, wie die Situation der Bauern auf dem Land war. Nach der Revolution von 1952 hatte es zwar eine radikale Agrarreform gegeben, durch die in weiten Teilen des Landes die Grundbesitzeroligarchie entmachtet worden war. Doch jetzt stellte ich fest, dass viele Bauern mit der Entwicklung unzufrieden waren. Ich fuhr zunächst mit einigen Agrarexperten einer UN-Agentur durch das bolivianische Hochland und dann in den äußersten Südosten nach Tarij. Überall klagten die Bauern, dass die Großgrundbesitzer zurückgekommen waren und sich ihr Land wieder genommen hatten.

Dann fuhr ich nach La Paz zurück, um ein Interview mit US-Botschafter Douglas Henderson zu machen. Der hatte natürlich den berühmten Artikel von Che in der kubanischen Zeitschrift Tricontinental gelesen. Henderson bestätigte zwar, dass die USA die bolivianische Armee durch militärische Ausbilder unterstützten, versicherte aber, es bestünde keinerlei Absicht, US-Soldaten für Kampfeinsätze abzustellen.

Ende August machte ich in Camiri ein Interview mit Régis Debray, den man dort verhaftet und im Offiziersklub festgesetzt hatte. Ich sprach auch mit Offizieren der 4. Division der bolivianischen Armee, die mir erzählten, die Guerillas hätten sich aus dem Gebiet um Camiri zurückgezogen und operierten jetzt weiter nördlich in dem schwierigen Gelände westlich der Straße nach Santa Cruz. Um herauszufinden, was dort ablief, müsse ich mich nach Vallegrande begeben, einem Städtchen an den östlichen Ausläufern der Anden, wo die 8. Division ihr Hauptquartier hatte.

Anfang September traf ich in Vallegrande Oberst Joaquín Zenteno Anaya, den Dienst habenden Offizier der Militärbasis, der einige Jahre später in Europa ermordet wurde. Der meinte, die Guerillas hätten kaum noch eine Chance, zu entkommen, man habe sie umzingelt und ihnen nur einen einzigen Fluchtweg offen gelassen. Die bolivianische Armee habe die Soldaten in dieser Region als Bauern verkleidet, die das Hauptquartier alarmieren sollten, wenn sie auf Guerillas trafen. Berichte von den Einwohnern eines Dorfes, in dem die Gesuchten ein paar Tage zuvor durchgekommen waren, wie auch die Aussagen von Gefangenen, die ich interviewen durfte, ließen keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem Anführer der Guerillas um Che Guevara handelte. Und Oberst Zenteno versicherte mir: „Innerhalb weniger Wochen wird es Neuigkeiten geben.“

Ich fuhr dann weiter von Vallegrande nach Santa Cruz. Dort war das Lager La Esperanza, die Militärbasis der US-amerikanischen Special Forces: In einer verlassenen Zuckermühle kampierten etwa 20 US-Soldaten. Die hatten hochmoderne Funkgeräte, über die sie mit dem Hauptquartier in Vallegrande und dem Guerillagebiet verbunden waren, aber auch mit ihrer Befehlszentrale im US Southern Command, das in der Panamakanalzone stationiert war. In La Esperanza begrüßte mich Oberst Robert „Pappy“ Shelton und erzählte mir, dass gerade 600 „Rangers“, die Special Forces der bolivianischen Armee, ihr Training durch US-Ausbilder beendet und den Antiguerillastützpunkt von Vallegrande verstärkt hatten.

Am Abend des 8. Oktober 1967 lief ich mit Brian Moser, der für die Fernsehgesellschaft Granada drehte, über den Hauptplatz von Santa Cruz. An einem der Cafétische saß ein Mann, der uns herbeiwinkte; es war einer der US-Offiziere von La Esperanza. „Es gibt Neuigkeiten für euch“, sagte er. „Über Che?“, fragten wir, denn die ganzen Wochen über hatten wir uns gefragt, ob seine Festnahme wohl bevorstehe. „Che ist gefangen“, antwortete er. „Er ist schwer verwundet und wird die Nacht vielleicht nicht überstehen. Die anderen Guerillas wehren sich erbittert, sie wollen ihn wieder herausholen. Und unser Kompanieführer hat über Funk einen Helikopter angefordert, damit wir ihn ausfliegen können.“ Der Kommandeur sei dabei so aufgeregt gewesen, dass sich seine Worte fast überschlugen: „Wir haben ihn, wir haben ihn!“

Unser Kontaktmann schlug vor, wir sollten einen Hubschrauber mieten, um sofort in das Guerillagebiet zu fliegen. Er wusste nicht, ob Che überhaupt noch am Leben war, hielt es jedenfalls für äußerst unwahrscheinlich, dass er noch lange leben würde. Wir hätten ohnehin nicht das Geld gehabt, um einen Hubschrauber zu chartern, selbst wenn es einen gegeben hätte. Auch war es schon halb neun Uhr abends, und nach Einbruch der Dunkelheit konnten wir nicht mehr losfliegen. Also mieteten wir stattdessen einen Jeep. Am nächsten Morgen, es war Montag, der 9. Oktober, brachen wir um vier Uhr morgens auf, in Richtung Vallegrande.

Nach fünfeinhalb Stunden kamen wir an und wurden von Soldaten gestoppt. Da kein Weiterkommen möglich war, fuhren wir direkt zum Flugplatz, einer ziemlich primitiven Piste. Hier war offenbar schon die halbe Stadt versammelt, einschließlich Kindern in weißen Schuluniformen und Amateurfotografen. Für die Einwohner von Vallegrande war das militärische Aufgebot nichts Neues. Am aufgeregtesten waren die Kinder, die herumsprangen und zum Horizont zeigten. Nach einigen Minuten sah man am Himmel einen Punkt auftauchen. Es war ein Hubschrauber. An den Landekufen waren die Leichen von zwei Soldaten festgebunden. Sie wurden abgeschnallt und sofort in einem Lastwagen verstaut, der sie in die Stadt karrte. Als sich die Menschenmenge verlaufen hatte, machten wir noch Aufnahmen von den Kisten mit Napalm, die am Rand des Flugplatzes herumlagen und aus Beständen der brasilianischen Armee stammten. Mit einem Teleobjektiv gelang uns auch die Aufnahme eines Mannes in olivgrüner Uniform, aber ohne militärische Rangabzeichen, der sich hinterher als CIA-Agent entpuppte.

Solch vorwitziges Benehmen von Ausländern kam nicht gut an, zumal wir die ersten Journalisten waren, die es bis nach Villegrande geschafft hatten. Der CIA-Agent, in Begleitung bolivianischer Offiziere, wollte uns aus der Stadt weisen lassen. Aber wir konnten unsere Akkreditierungen vorlegen, die uns glaubwürdig als Journalisten auswiesen. Nach langem Hin und Her durften wir dann doch bleiben.

Dann flog der Hubschrauber wieder in die Kampfzone zurück, die etwa 30 Kilometer weiter südwestlich lag. Mit an Bord war Oberst Zenteno. Kurz nach ein Uhr mittags kehrte er zurück – triumphierend und nur mit Mühe ein breites Grinsen unterdrückend. „Che ist tot“, verkündete er. Er hatte die Leiche gesehen, es gab keinen Zweifel. Wir hatten keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Also rannten wir zu dem winzigen Telegrafenbüro und übergaben einem erschrocken und ungläubig dreinblickenden Angestellten unsere Meldung für die Außenwelt. Doch wir glaubten beide nicht so recht, dass sie unsere Adressaten je erreichen würde.

Vier Stunden später, exakt um fünf Uhr, kehrte der Hubschrauber zurück. Diesmal trug er an einer Kufe nur einen schmalen Körper. Und er landete nicht wie zuvor in unserer Nähe, sondern in der Mitte der Piste, in gebührendem Abstand von den neugierigen Journalisten. So sahen wir nur von fern, wie der Leichnam hastig in einen Chevrolet-Lieferwagen geschoben wurde, der auf der Landebahn davonraste.

Auch wir sprangen in unseren Jeep, und unser Fahrer nahm die waghalsige Verfolgung auf. Nach etwa einem Kilometer bog der Chevrolet scharf ab und steuerte auf ein kleines Krankenhausgebäude zu. Die Soldaten versuchten, das Tor zu schließen, bevor wir noch schnell hinter ihnen herfahren konnten, aber wir waren nah genug an der Stoßstange des Lieferwagens dran. Der fuhr einen steilen Hang hinauf, wo eine Hütte stand, deren Bambusdach an einer Giebelseite offen war. Der Chevrolet fuhr rückwärts an die Hütte heran, wir sprangen aus dem Jeep und schafften es zur hinteren Tür des Lieferwagens, die noch geschlossen war. Als sie aufging, kam der CIA-Agent heraus und schrie auf Englisch in den Laderaum: „All right, let’s get the hell out of here.“ Der arme Mann konnte ja nicht wissen, dass draußen ein britischer Journalist auf ihn wartete.

In dem Lieferwagen lag auf einer Trage die Leiche von Che Guevara. Dass er es war, wusste ich nach dem ersten Blick. Ich hatte ihn nur einmal gesehen, fast genau vier Jahre zuvor in Havanna, und er war jemand, den man nicht leicht vergisst. Als sie ihn hinaustrugen und in der Hütte, die in friedlicheren Zeiten wahrscheinlich als Waschküche diente, auf einen improvisierten Tisch legten, wurde mir endgültig klar, dass Che Guevara tot war.

Er trug einen olivgrünen Kampfanzug, mit Reißverschlussjacke, ausgeblichene grüne Socken und ein Paar offensichtlich selbst gefertigte Mokassins. Da er vollständig angezogen war, konnte man nur schwer erkennen, wo er verwundet war. Unten am Hals waren zwei Einschüsse zu erkennen. Später, als sie seinen Körper wuschen, sah ich eine weitere Wunde im Bauch. Zweifellos hatte er auch Verletzungen an den Beinen und in der Herzgegend, aber die habe ich nicht gesehen.

Die beiden Ärzte machten sich an den Halswunden zu schaffen, und zunächst kam mir der Gedanke, dass sie nach den Kugeln suchten, aber tatsächlich waren sie nur damit beschäftigt, den Schlauch für das Formalin einzuführen, das seinen Körper vor der Verwesung bewahren sollte. Einer der Ärzte begann, die blutverklebten Hände des toten Che Guevara zu waschen. Sein Körper hatte nichts Abstoßendes. Er sah erstaunlich lebendig aus. Seine Augen standen offen, und als sie einen Arm aus seiner Jacke zogen, ging das ganz leicht. Ich glaube, dass er erst wenige Stunden tot war, und nichts deutete darauf hin, dass man ihn nach seiner Gefangennahme getötet hat. Wir gingen alle davon aus, dass er aufgrund seiner Verletzungen und mangelnder medizinischer Versorgung gestorben war, irgendwann am frühen Morgen jenes Montags.

Abstoßend waren eher die Menschen, die um die Leiche herumstanden. Die Nonne, die sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte und ab und zu laut auflachte; die Offiziere, die hereinkamen und Fotos mit ihren teuren Kameras schossen; und natürlich der Agent der CIA. Er leitete offenbar die ganze Operation und blickte finster drein, wann immer eine Kamera sich auf ihn richtete. „Wo kommen Sie her?!“, fragten wir ihn auf Englisch und witzelten dann: „Aus Kuba? Aus Puerto Rico?“ Er fand das gar nicht komisch und antwortete nur knapp: „From nowhere.“

Als wir ihn später noch mal fragten, reagierte er auf Spanisch: „Que dice?“ Und tat so, als hätte er uns nicht verstanden. Er war klein und untersetzt, etwa Mitte dreißig, mit kleinen Schweinsäuglein und schütterem Haar. Man hätte kaum sagen können, ob er ein Nordamerikaner oder ein Exilkubaner war, denn er sprach Englisch und Spanisch gleichermaßen akzentfrei und fließend. Später fand ich heraus, dass er Gustavo Villoldo heißt und heute noch in Miami lebt.

Nachdem wir uns eine halbe Stunde in der Hütte aufgehalten hatten, fuhren wir nach Santa Cruz zurück, um unsere Berichte zu schreiben und abzuschicken. Die Nacht war schon angebrochen, und so kamen wir erst in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages an. Aber es gab kein Telegrafenbüro, und so musste ich nach La Paz fliegen, von wo ich meinen Bericht über den Tod des Che nach London übermitteln konnte. Der Text erschien noch am selben Tag, am 10. Oktober, auf der Titelseite des Guardian.

Im Flugzeug hatte ich Major „Pappy“ Shelton getroffen, der nur zwei Worte sprach: „Mission accomplished.“

Fußnote: 1 Régis Debray hatte Che Guevara von Kuba nach Bolivien begleitet. Auf internationalen Druck wurde Débray nach seiner Verhaftung begnadigt und kehrte Anfang der 1970er-Jahre nach Frankreich zurück. Zwischen 1981 und 1988 wirkte er als Conseiller d’État und persönlicher Berater von Präsident François Mitterrand. Vor einigen Jahren musste sich Debray gegen den Vorwurf wehren, er sei es gewesen, der damals das Versteck der Guerilleros verraten habe. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke Richard Gott schreibt für den Guardian; er ist Autor des Buches: „Cuba – a New History“, New Haven (Yale University Press) 2004.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2005, von Richard Gott