Israels Rückzug aus Gaza
Scharons Kalkül und die Siedlerproteste von Meron Rapoport
Es ist ein sehr heißer Tag. Am Bekaot Checkpoint, auf halbem Weg zwischen dem Jordan und Nablus, steht eine Gruppe von Palästinensern. Sie kommen aus dem Jordantal, wo sie als Landarbeiter bei einer reichen israelischen Siedlung beschäftigt sind, für 50 Schekel, also 9 Euro, pro Tag. Ihr Arbeitstag beginnt frühmorgens um vier, jetzt sind sie auf dem Rückweg zu ihren Dörfern in der Nähe von Nablus. Doch die Soldaten am Checkpoint lassen sie nicht durch und geben keine Begründung. Die einzigen arabischen Worte, die den Soldaten geläufig sind, lauten tasrikh (Erlaubnis) und ruch min hon (geht weg). Die ganze Stunde, in der wir den Checkpoint beobachten, warten die Palästinenser in der glühenden Sonne, wahrscheinlich warten sie schon viel länger.
Alle Soldaten an diesem Bekaot-Checkpoint gehören zum so genannten Orthodoxen Regiment (Nahal Haredi). In dieser Einheit dienen extremere Elemente der Siedlerjugend und andere religiöse Jugendliche aus ganz Israel, ein paar orthodoxe Juden aus den USA sind auch darunter. An einem über dem Checkpoint aufragenden Wachturm flattert eine orange Fahne im Wind. Orange ist die offizielle Farbe der Antiabzugsbewegung. Die Siedler und ihre Anhänger haben ihre Autos mit orangefarbenen Flaggen ausstaffiert, ihre T-Shirts sind ebenso orange wie die Bonbons, die sie essen. „Was hat die orange Fahne bei der Armee zu suchen?“, frage ich einen der Soldaten. „Wir sind ein Antiabzugsregiment“, lautet seine Antwort, „wenn man uns auffordert, an der Evakuierung der Siedlungen mitzuwirken, werden 98 Prozent von uns den Befehl verweigern, auch der Regimentskommandant. Aber ich werde mich nicht nur weigern, ich werde noch mehr tun.“ Genauer will er sich nicht äußern. Andere Soldaten dieses Regiments hat man sagen hören, sie wollten bei Beginn einer Evakuierung aus der Armee ausscheiden und sich mit ihren Waffen dem Kampf der Siedler von Gusch Katif im Gaza-Streifen anschließen.
Steht Israel ein Bürgerkrieg bevor, wenn Mitte August der Abzug aus dem Gaza-Streifen beginnt? Wird die geplante Evakuierung und der darauf folgende Abriss von allen 20 israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen und von vier Siedlungen im Norden des Westjordanlandes die israelische Gesellschaft vor eine Zerreißprobe stellen? Könnte sich womöglich aus Elementen des Orthodoxen Regiments und anderer Einheiten der Armee, die einen hohen Anteil von religiösen und rechtsgerichteten Soldaten aufweisen, eine Art israelischer OAS formieren, also eine nationalistische Kampfgruppe nach dem Vorbild der extremistischen Algerienfranzosen? Diese Fragen würden die meisten Politiker und politischen Kommentatoren eindeutig verneinen: Nein, die Armee wird sich nicht gegen die Regierung erheben. Nein, eine israelische OAS wird es nicht geben. Nein, zu einem Bürgerkrieg wird es in Israel nicht kommen. Das mag stimmen. Doch die negative Antwort hängt in hohem Maße davon ab, wie wir den Begriff „Bürgerkrieg“ definieren und – wichtiger noch – wie es um die Definition und die tatsächliche Bedeutung des Abzugsplans bestellt ist.
Der Abzugsplan war das Ergebnis zum einen des inneren und äußeren Drucks auf die Regierung Scharon, zum anderen der Entschlossenheit des Ministerpräsidenten, große Teile des Westjordanlands (zwischen 45 und 55 Prozent) in israelischem Besitz zu behalten. Das hat Dov Weisglass, der Berater Scharons, der als Architekt des Abzugsplans gilt, in einem Interview mit der Zeitung Ha’aretz vom 8. Oktober 2004 klar zum Ausdruck gebracht: „Im Herbst 2003 haben wir begriffen, dass die Lage völlig verfahren war. […] Da gibt es die internationale Erosion [der israelischen Position: M. R.] sowie die innere Erosion. Alles bricht zusammen, die Wirtschaft ist in einem katastrophalen Zustand. Und als dann die Genfer Initiative zustande kam, erfuhr sie breite Unterstützung. Anschließend kamen noch die Briefe der Offiziere, die Briefe der Piloten [die sich weigerten, Einsätze in den besetzten Gebieten zu fliegen; M. R.].“ Laut Weisglass entschloss sich Scharon nach all diesen Entwicklungen, den Gaza-Streifen aufzugeben (dessen Besitz er nie als „nationales Interesse“ ausgegeben habe), um die Siedlungen im Westjordanland zu retten und – was ihm noch wichtiger war – um zu verhindern, dass irgendeine Verhandlungslösung mit den Palästinensern zustande kommt: „Was wir taten, diente dem Ziel, den Verhandlungsprozess einzufrieren. Und indem man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Schaffung eines palästinensischen Staates und die Diskussion über die Flüchtlingsfrage. […] Der Abzug bietet die richtige Dosis Formalin, die man braucht, damit es zu keinen Verhandlungen mit den Palästinensern kommt.“
So und nicht anders lautet Scharons Credo. Das ist das Fundament, auf dem sein Abzugsplan errichtet ist. Dieser Plan funktioniert bislang ganz wunderbar. Denn trotz des Todes von Arafat, in dem die Amerikaner wie die Europäer ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden sahen, und obwohl zu seinem Nachfolger Mahmud Abbas, also ein Protegé der USA, gewählt wurde, ist es Scharon gelungen, eine Wiederaufnahme des politischen Dialogs mit den Palästinensern zu verhindern. Die Roadmap, die ursprünglich zu Verhandlungen über einen palästinensischen Staat führen sollte, liegt noch immer auf Eis, ganz so, wie es Weisglass vorausgesehen hat. Auch wird die Trennmauer, die für Israel eine große politische Belastung zu werden schien, nachdem der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Forderung nach ihrem Abriss positiv beschieden hat, tief innerhalb des Westjordanlands im Eiltempo hochgezogen. Und die Welt schaut weg. Bis Ende 2005 werden in Ostjerusalem rund 100 Quadratkilometer besetztes Territorium, auf dem etwa 200 000 Palästinenser leben, von der bis zu neun Meter hohen Betonmauer umgeben sein.
Der Bau von Siedlungen im Westjordanland geht in atemberaubendem Tempo weiter, vor allem in dem Gebiet zwischen der Mauer und der Grünen Linie, der Grenze von 1967. Vor einigen Wochen hat die Zentrale Statistikbehörde einen Bericht veröffentlicht, wonach die Bautätigkeit im Westjordanland im ersten Quartal 2005 um 83 Prozent zugenommen hat, während sie im übrigen Israel im selben Zeitraum um 25 Prozent zurückgegangen ist.1 US-Außenministerin Condoleezza Rice hat bei ihrem letzten Besuch in Israel die Regierung Scharon – wenn auch nur milde – kritisiert. Dabei äußerte sie sich zwar nicht direkt, doch ihre Mitarbeiter ließen durchsickern, sie habe ungenannten „israelischen Vertretern“ klar gemacht, die USA wollten nicht, dass der Bau der Mauer und der Siedlungen „zu einem Problem wird“. Dabei soll sie hinzugefügt haben: „Aber er wird ein Problem, wenn er weitergeht.“2 Eine derart dezente Warnung muss Scharon und Weisglass keine größeren Kopfschmerzen bereiten.
In dieser Situation stehen die Siedler vor einem Dilemma. Sie fühlen sich gezwungen, gegen den Abzugsplan zu kämpfen, weil die Evakuierung jüdischer Siedlungen ein gefährlicher Präzedenzfall sein könnte; diese würde schließlich das Tabu brechen, das in der israelischen Gesellschaft bezüglich der Aufhebung von Siedlungen bestand. Zugleich aber wollen sie die Siedlungen im Westjordanland halten, wo die allermeisten von ihnen wohnen. In Gusch Katif im Gaza-Streifen leben nur 7 000 Menschen, in den übrigen besetzten Gebieten 240 000. Die Siedler würden Scharon das Versprechen, dass er die Siedlungstätigkeit im Westjordanland intensivieren will, gerne abnehmen. Doch sie können nicht vergessen, dass derselbe Scharon gleich nach seiner Wiederwahl Ende Januar 2003 gesagt hat, das Schicksal der Siedlung Netzarim in der Nähe von Gaza-Stadt sei ihm nicht weniger wichtig als das von Tel Aviv. Aber jetzt schickt er die Armee los, um Netzarim von der Landkarte zu löschen.
Scharons ambivalente Haltung gibt dem Gerücht Nahrung, zwischen dem Regierungschef und den Siedlern gebe es einen geheimen Deal oder eine ungeschriebene Vereinbarung, die etwa so lautet: Wir, die Siedler, werden gegen den Abzugsplan demonstrieren, aber wir werden deine Rechtsregierung nicht zu Fall bringen; dafür wirst du, Scharon, im Westjordanland die Trennmauer vollenden und die Siedlungen ausbauen. Interessant ist in dieser Hinsicht die Aussage von Benni Kaschriel, dem Bürgermeister von Maale Adomim, einer großen Siedlung 15 Kilometer östlich von Jerusalem: „Wenn sich Scharon den Amerikanern beugt und die Bautätigkeit im Westjordanland stoppt, wird er erleben, dass sich alle 240 000 Siedler dem Kampf gegen den Abzug anschließen.“ Das klingt teils wie ein Deal, teils wie eine versteckte Drohung. Wobei sich der Jescha-Rat, das offizielle Leitungsgremium der Siedler, im Kampf gegen den Abzug aus dem Gaza-Streifen bislang auffällig zurückhält.
Doch dieser Kampf wird immer heftiger. Täglich gibt es Demonstrationen, und sämtliche Fraktionen der Siedlerbewegung fordern die Soldaten für den Fall der Räumung von Gusch Katif zur Befehlsverweigerung auf. Der erste Soldat, der es ablehnte, an einer solchen Aktion teilzunehmen, und dessen Erklärung im Fernsehen gesendet wurde, ist zu einem wahren Helden geworden. Aber noch lässt sich nicht sagen, ob die Siedler auf die totale Konfrontation mit der Armee und dem Staatsapparat aus sind, oder ob sie nur die Muskeln spielen lassen – in der Hoffnung, den Abzug noch stoppen oder zumindest dafür sorgen zu können, dass er zu einem öffentlichen Trauma wird. Mit der Wirkung, dass keine Regierung es künftig wird wagen können, weitere Siedlungen im Westjordanland abzureißen. Immer mehr israelische Beobachter gehen – je näher der Tag des Abzugs rückt – davon aus, dass es den Siedlern hauptsächlich um eine Kraftdemonstration geht. Als Beispiel führen sie an, was vor zwei Wochen in Kfar Maimon geschah. Das Dorf liegt auf israelischem Gebiet, unweit der Grenze zum Gaza-Streifen. Die Polizei hatte angekündigt, sie werde alles tun, um zu verhindern, dass die demonstrierenden Siedler in das Dorf gelangen könnten, und notfalls auch vor den Kameras der Weltöffentlichkeit die Busse stoppen, die die Siedler in das Dorf bringen sollten. Dennoch gelang es etwa 15 000 Demonstranten, in das Dorf zu kommen, um von dort aus – notfalls mit Gewalt – zu den Siedlungen von Gusch Katif im Gaza-Streifen durchzubrechen. Die Siedler waren zu allem entschlossen, und für einen Moment sah es so aus, als sei eine massive Konfrontation mit der Polizei und der Armee unvermeidlich. Wenn aber zehntausende Demonstranten den Ring um Kfar Maimon durchbrochen und Gusch Katif erreicht hätten, wäre der Abzugsplan stark gefährdet gewesen. Eine solche Aktion hätte man als offene Kriegserklärung an den Staat interpretieren müssen.
Doch dann kam alles anders. Obwohl die Siedler in der Offensive waren und ihre „Armee in Orange“ aufbruchbereit war, beschlossen ihre Anführer im letzten Moment, die Aktion abzublasen. Die Demonstranten folgten dieser Anweisung, und selbst die so genannten Hardliner trollten sich nach Hause. Später meinte Pinchas Valerstein, einer der radikalsten Führer der Siedler, wenn man nach Gusch Katif marschiert wäre, hätte die Regierung den Abzugsplan abgesagt. Deshalb sei der Rückzugsbefehl „ein Fehler“ gewesen.
Aber warum haben die Siedler dann diese goldene Gelegenheit aus der Hand gegeben? Die beste Erklärung ist die oben genannte: Die Siedler wollen ihre Stärke demonstrieren, wollen den Abzug zu einem nationalen Trauma machen, aber sie wollen keinen offenen Krieg mit der Polizei und der Armee.
Es stimmt zwar, dass Scharon inzwischen von vielen Leuten aus der äußersten politischen Rechten gehasst wird. Valerstein und andere Führer des radikalen Lagers sprechen nur von „der Polizei der Familie Scharon“, womit sie auf die vielen Korruptionsaffären anspielen, in die Scharon und seine Söhne verwickelt sind. Doch andererseits hat Scharon erst vor zwei Wochen in der größten Siedlung im Westjordanland, in Ariel, eine Rede gehalten. Dabei gab er das Versprechen, die Siedlung weiter auszubauen und auszuweiten, und auch die Trennmauer um Ariel herumzuziehen. In der Siedlung wurde er von Bürgermeister Ron Nahman willkommen geheißen, der selbst als führendes Mitglied des Jescha-Rates dem höchsten Gremium der Siedler angehört, das die militante Demonstration gegen Scharon organisiert hatte.
Wer also ist der wahre Scharon
Wer also ist der wahre Scharon? Der Ministerpräsident, der seine Truppen gegen die Siedler einsetzt, oder der Ministerpräsident, der auch weiterhin die Siedlungen im Westjordanland ausbauen will? Es fällt nicht schwer, auf die zweite dieser Varianten zu setzen.
Dass die Siedler zögern, sich frontal gegen die Scharon-Regierung zu stellen, rührt auch von der Tatsache her, dass sie und das nationalreligiöse Lager im israelischen Staatsapparat verankert sind.3 Ihr tatsächlicher Einfluss auf die Entscheidungen der verschiedenen staatlichen Organe ist also weitaus größer als ihr politisches Gewicht in der Knesset, wo sie nur über 15 von 120 Sitzen verfügen. Ihre Vertreter besetzen hohe Positionen im Erziehungs-, im Justiz- und im Wohnungsbauministerium. Besonders spürbar ist der Einfluss der Siedlerkreise in jenen Behörden, die für den Gaza-Streifen und das Westjordanland zuständig sind.
Die Zivilverwaltung zum Beispiel, eine Abteilung innerhalb der israelischen Armee, ist für die zivilen Angelegenheiten in den besetzten Gebieten verantwortlich. Diese Behörde hat – unter anderem – die Aufgabe, neuen (jüdischen) Siedlungen das nötige Land zuzuteilen und – jedenfalls theoretisch – die illegale Bautätigkeit von israelischer wie von palästinensischer Seite zu überwachen; und diese überaus wichtige Instanz, die mit der überaus heiklen Frage des Landbesitzes befasst ist, ist fast vollständig unter der Kontrolle der Siedler. Das beeinflusst natürlich die Politik dieser Behörde erheblich. So hat ein hoher Offizier dieser Abteilung enthüllt, dass von den 2 500 amtlichen Anordnungen, die den Abriss illegaler Häuser in den Siedlungen verfügten, nicht eine einzige umgesetzt wurde. Andererseits lässt diese Behörde Jahr für Jahr etwa 300 palästinensische Häuser zerstören. Ein ehemaliger Offizier der Zivilverwaltung gibt folgende Auskunft: „Die Inspektionsabteilung ist sehr ideologisch, sehr stark von Rechten besetzt; der Leiter dieser Abteilung stammt aus einer Siedlung bei Ramallah. Die machen den Palästinensern das Leben zur Hölle, und über den illegalen Siedlungsbau sehen sie einfach hinweg.“ Aus einem vor kurzem veröffentlichten Bericht geht hervor, dass es ein Netz von Siedlern in verschiedenen Behörden und Ministerien gibt, denen es zwischen 1998 und heute gelungen ist, den Bau von mehr als 110 illegalen jüdischen Außenposten zu befördern.4
Kopfzerbrechen bereitet der Armeeführung derzeit die Tatsache, dass gerade in den Eliteeinheiten der Anteil von Siedlern und nationalreligiösen Soldaten sehr hoch ist. Der Soziologe Yagil Levi von der Universität Tel Aviv, Autor eines Buches über die israelische Armee,5 geht davon aus, dass etwa 15 Prozent der Soldaten, die in den Kampfeinheiten dienen, nationalreligiös eingestellt sind. Bei den unteren und mittleren Offizieren schätzt er ihren Anteil sogar auf 50 Prozent.
Levi führt dies auf eine Entwicklung zurück, die sich nach dem Krieg im Libanon vollzogen hat: Die jungen Leute aus der liberal eingestellten Mittelschicht aschkenasischer (also ostjüdischer) Abstammung, die traditionell die Mehrheit der Soldaten in den Kampfeinheiten stellten, haben ihr Interesse an der Armee verloren, sodass viel weniger als früher die Offizierslaufbahn einschlagen. An ihrer Stelle treten jetzt junge Leute aus dem nationalreligiösen Lager. Laut Levi haben die kommandierenden Offiziere festgestellt, dass diese Soldaten gerade bei Einsätzen in den besetzten Gebieten die loyalsten und verlässlichsten sind.
Dass die israelische Armee (oder Zahal) heute auf diese nationalreligiösen Soldaten angewiesen ist, stellt für sie ein Problem dar. Viele Soldaten geben zu erkennen, dass sie sich weigern werden, an der Evakuierung jüdischer Siedlungen teilzunehmen. Angesichts dessen hat die Zahal-Führung beschlossen, dass zwei wichtige Regimenter (Golani und Givati) an dieser Operation nicht beteiligt werden, weil bei ihnen besonders viele nationalreligiöse Soldaten Dienst tun.
Yagil Levi glaubt, dass der Abzug nicht zu einer größeren Refusnik-Bewegung in der Armee führen wird und erst recht nicht zu einer umfassenden Meuterei. Sorgen macht er sich jedoch über die Zeit danach. Wenn größere Teile der Armee beim Abzug aus dem Gaza-Streifen den Befehl verweigern und wenn sich die Beziehungen zwischen den religiösen Soldaten und ihren Offizieren zu einer größeren Belastung entwickeln sollten, dann könnte der Generalstab die Regierung darum bitten, nicht noch mehr Truppen zur Evakuierung weiterer Siedlungen einsetzen zu müssen. Die Folge wäre, dass die Regierung für eine geplante „Abzugsphase 2“ nicht genügend Truppen zur Verfügung hätte, wenn es überhaupt so weit kommt. Im Falle einer „Phase 2“, meint Levi, könnte es auch in den Siedlungen des Westjordanlands bewaffneten Widerstand geben. Denn dort stehen einige Zahal-Einheiten, in denen ausschließlich Siedler dienen, und auch in privaten Haushalten sind riesige Waffenmengen gelagert.
Dror Etkes kennt die Welt der nationalreligiösen Israelis von innen. Etkes ist in Jerusalem geboren, ging dort auf eine nationalreligiöse Schule und war Mitglied in der Jugendorganisation Bnei Akiva, die bei der Entstehung der Siedlerbewegung eine große Rolle spielte. Heute gehört Etkes zu deren heftigsten Gegnern. Er ist einer der führenden Köpfe der Peace-now-Bewegung im Westjordanland und hat unter anderem die Aufgabe, jedes neu errichtete Haus zu registrieren und diese Informationen an die Presse oder an US-amerikanische und andere interessierte Kreise weiterzugeben. Während einer Rundreise, die ich mit ihm in den besetzten Gebieten machte, trafen wir in Ofra, einer jüdischen Siedlung nördlich von Ramallah, auf einen jungen Rabbi, der ganz offen sagte, er bete für den Tod von Leuten wie Etkes, die das jüdische Volk „ausspionieren“. Einer wie Etkes weiß natürlich, dass die Siedler die Armee und andere Staatsorgane unterwandert haben. Aber er ist überzeugt, dass ihre große Macht zugleich auch ihre größte Schwäche ist.
Scharon nutzt die WIdersprüche der Siedler
„Die Siedler sind auf dem absteigenden Ast, ihre Tage sind gezählt, und der Abzugsplan ist ein Beweis dafür. Sie haben Widersprüche produziert, die sich nicht lösen lassen. Wenn sie ihre Macht in der Armee ausnutzen, also ihre Beteiligung an der Evakuierung der Siedlungen verweigern und damit den Abzugsplan zum Scheitern bringen, werden sie bei der israelischen Öffentlichkeit ihre so mühsam erworbene Legitimation einbüßen. Wenn sie aber in der Armee bleiben und die Evakuierungsbefehle befolgen, werden sie sich am Niederreißen der Siedlungen beteiligen, die sie für ihre heiligste Sache halten.“
Scharon sei sehr clever, meint Etkes, und nutze diesen Widerspruch aus. So hat er vor einigen Monaten General Yair Nave, den höchsten Offizier des religiösen Lagers, zum Kommandanten der Zentralen Front ernannt, zu der auch das Westjordanland gehört: „Scharon zwingt einen Man wie Nave, sich zu entscheiden; damit treibt er einen Keil zwischen die extremistischen und die gemäßigten Kräfte innerhalb des nationalreligiösen Lagers.“
Etkes glaubt, dass die Siedler durch den Abzug nur verlieren könnten. Ihre Bewegung sei zum Scheitern verurteilt und der Abzug sei nur der erste Schritt auf diesem Weg. Aber wird Israel die Stärke aufbringen, große Siedlungen wie das seit dreißig Jahren existierende Ofra abzureißen? Die Antwort von Etkes lautet: „Nach dem Philosophen Maimonides kann es für die Existenz Gottes keine positiven Beweise geben, sondern nur negative. Man kann nur sagen, was er nicht ist. Ich kann nicht positiv sagen, wie Israel die Siedlung niederreißen wird, ich weiß nur, dass Ofra nicht weiter bestehen kann.“
Professor Zeev Sternhal von der Hebrew University in Jerusalem hat mit der religiösen Tradition nichts am Hut, er will sich also nicht auf das Schicksal verlassen. Doch er ist sich, wie Levi und Etkes, ziemlich sicher, dass die Präsenz so vieler nationalreligiöser Soldaten in der Armee die Aussichten auf die Umsetzung des Rückzugsplans nicht wesentlich beeinträchtigt: „Auf jeden Siedler kommen zehn Soldaten, es gibt also genug Leute, um die Sache durchzuziehen. Die Armee wird die Politik der Regierung umsetzen, sie ist sogar in der Lage, eine noch radikalere Linie durchzuziehen.“
Aber etwas anderes bereitet Professor Sternhal echte Sorgen: „Diese Siedlerelemente in Armee und Regierung werden sich nur durchsetzen, wenn sie das Gefühl haben, dass die Regierung nicht entschlossen genug handelt. Die Siedler werden mit allen Mitteln versuchen, die Öffentlichkeit negativ zu beeinflussen, nur um Zeit zu gewinnen. Sollte es ihnen gelingen, den Abzug auch nur für kurze Zeit aufzuschieben, wird das ganze Vorhaben wahrscheinlich scheitern. Wenn die Armee das Gefühl hat, dass die Regierung es nicht ernst meint, wird sie kalte Füße bekommen. Und in unserem System gibt es kein Primat der zivilen Politik, das die Armee zur Räson bringen könnte.“
Vor wenigen Monaten haben die israelischen Journalisten Akiva Eldar und Idith Zertal eine umfassende Untersuchung über das Siedlungsprogramm vorgelegt. Sie beschreiben darin detailliert, welch unglaublich expansive Dimensionen dieses Projekt angenommen hat, das sie für kriminell und politisch gefährlich halten. Dennoch schlagen sie in ihrem Vorwort ziemlich optimistische Töne an: „Die meisten Siedlungen […] sind offenbar ziemlich fragil. An dem Tag, an dem die israelische Gesellschaft in sich selbst die Kraft finden wird, den Abzug aus den Gebieten zu beschließen, die sie in einem Krieg besetzt hat […], an diesem Tag werden auch die Siedlungen fallen, eine nach der anderen.“6
Das ist gewiss nicht das, was Scharon und Weisglass vorschwebte, als sie sich auf den Abzugsplan eingelassen haben. Aber vielleicht wird die Geschichte sie zu einem Ziel führen, das sie gar nicht angestrebt haben. Erst dann werden wir sehen, ob Israel sein „Algerien“ erleben wird.