Die Industrialisierungsfalle
Zur Rolle der Nationalbourgeoisie in der staatlich gelenkten Entwicklung
von Vivek Chibber
Stilisierte Fakten sind deskriptive Darstellungen „typischer Regularitäten“ wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse, lautet die Definition von Gustav A. Horn in Gablers Wirtschaftslexikon. Das bedeutet, dass ein stilisierter Fakt zwar empirische Zusammenhänge darstellt, aber selbst keine Erklärung solcher Zusammenhänge bietet.1
Auf solchen regelmäßig auftauchenden, aber erklärungsbedürftigen Fakten basieren auch die Darstellungen und Analysen von Entwicklungsstrategien, die mehrere Länder in Lateinamerika, Asiens und im Nahen Osten verfolgt haben. Der erste stilisierte Fakt besagt, dass diese Entwicklungsstrategien eine beschleunigte Industrialisierung betrieben, um die Industrieländer durch einen massiven Entwicklungsschub einzuholen.
Kernstück dieser Strategie war die „importsubstituierende Industrialisierung“ (ISI). Sie sollte das Wachstum der heimischen Unternehmen durch zwei Maßnahmen ankurbeln: Durch Begrenzung der Einfuhren mittels Zöllen und nichttarifären Handelshemmnissen. Und durch Wachstumsförderung mittels massiver Subventionen für die einheimischen Unternehmen. Zölle und Subventionen waren also die Hauptinstrumente, um der nationalen Kapitalistenklasse einen Freiraum zu schaffen, der sie vor der Konkurrenz der industriell weiter entwickelten Staaten schützen sollte.
Der zweite stilisierte Fakt war die Auffassung, dieser Industrialisierungsschub sei ein „gemeinsames Projekt“ der politischen Elite, der staatlichen Verwaltung und der nationalen Unternehmerschaft gewesen (zuweilen ergänzt durch eine begrenzte Beteiligung der Arbeiterklasse). Aber natürlich sah man als entscheidende Kräfte dieses Machtgebildes die neu entstandenen industriellen und politischen Eliten.
Die dritte nicht hinterfragte Annahme war, dass innerhalb dieses Bündnisses zwischen Staat und Unternehmern die Rolle des Seniorpartners dem Staat zukam. Deshalb wurde der Prozess der beschleunigten Industrialisierung meist auch als „staatlich gelenkte Entwicklung“ beschrieben. Begründet wurde diese starke Rolle des Staates mit Verweis auf den jungen und noch sehr kleinen lokalen Industriesektor, auf die lückenhafte Entwicklung der einheimischen Warenmärkte und auf die schwach entwickelten Finanzmärkte. Aufgrund dieser Schwächen sei die Führungsrolle bei der Industrialisierung dem Staat zugefallen.
Ineffizienter Privatsektor
Allerdings gibt es eine unbestreitbare Tatsache, die mit dieser Darstellung schwer vereinbar ist: Die betreffenden Staaten der developmentalistischen Phase hatten Schwierigkeiten, ihr zentrales Ziel zu erreichen, nämlich öffentliche wie private Investitionen in Bereiche mit hoher Sozialrendite zu lenken, also weg von Bereichen, in denen hohe private Gewinne zu erzielen waren, ohne dass sie einen gesellschaftlichen Mehrwert erbrachten.
Diese staatlich gelenkten Entwicklungsstrategien haben in Lateinamerika, im Nahen Osten und in Südasien durchaus für eine ökonomische Transformation in die gewünschte Richtung gesorgt. Der Prozess verlief jedoch nur stockend und war mit gigantischen Staatsausgaben verbunden. Die Hauptrolle fiel dabei den öffentlichen Unternehmen zu, während der Privatsektor häufig extrem ineffizient blieb.
Die enormen ökonomischen Kosten zeigten sich am klarsten in der wachsenden Belastung der Staatshaushalte, die einen Großteil der Verluste des Privatsektors zu kompensieren hatten, den sie aber weiterhin durch öffentliche Subventionen stützten. Zugleich mussten diese Staaten die wachsenden Handelsbilanzdefizite ausgleichen, weil dem massiven Import von Ausrüstungsgütern keine entsprechenden Investitionen in die Produktion exportfähiger Güter gegenüberstanden.
Warum ist diese Industrialisierungspolitik gescheitert? Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die meisten auf Entwicklung setzenden Staaten des Südens nicht über die nötige institutionelle Ausstattung verfügten. Daraus ergibt sich eine zweite Frage: Warum haben die politischen Eliten die nötigen Institutionen nicht geschaffen?
Meine Antwort lautet, dass der Widerstand gegen den Aufbau starker und zugleich elastischer Instrumente hauptsächlich von den nationalen Bourgeoisien ausging. Dieser traditionell marxistische Begriff bezeichnet Kapitalisten, die auf den nationalen Markt setzen, sich vom Einfluss der übermächtigen „Metropolen“ unabhängig machen wollen und sich im Interesse der Industrialisierung mit dem Staat verbünden.
Nach dieser Definition wäre es paradox, wenn sich nationale Kapitalisten der Konsolidierung des Staates widersetzen würden. Deshalb pflegen marxistische Traditionalisten die Schurkenrolle einer anderen Gruppe der Bourgeoisie zuzuschreiben: den Kompradoren.
Diese einheimischen Kapitalvertreter unterhielten enge Verbindungen zur früheren Metropole, also der Kolonialmacht. Diese basierten oft auf Handels- oder spekulativen Aktivitäten, zum Teil auch auf Agrarexporten. Die Kompradorenbourgeoisie stand stets im Verdacht, dass ihr die nationale Entwicklung egal sei. Die nationale Bourgeoisie dagegen wurde nicht unbedingt als Verbündete in sozialen Fragen angesehen, aber im Hinblick auf die Verwirklichung eines bürgerlichen Entwicklungsmodells galt sie als verlässlicher, wenn nicht sogar unentbehrlicher Partner.
Was die politischen Eliten Lateinamerikas, Indiens und bestimmter Regionen des Nahen Ostens nach 1945 antrieb, war der Wunsch nach rascher Industrialisierung. Frühere Erfahrungen hatten zu Genüge gezeigt, dass die Unternehmer von sich aus keine Neigung zeigten, in die Bereiche zu investieren, die für ein langfristiges Wachstum entscheidend sind. Produkte, die kurzfristige und hohe Profite versprachen, erbrachten oft eine geringe oder gar keine Sozialrendite.
Eine planvolle Industrialisierungspolitik war einesteils darauf angelegt, die Unternehmen in eine Richtung zu lenken, die eine kapitalistische und zugleich eine soziale Rendite abwarf. Die staatlichen Planer setzten zumeist auf die „sanfte Methode“, um die Firmen mittels Subventionen, zinsgünstigen Krediten oder steuerlichen Vorteilen in die gewünschte Richtung zu lenken. Aber sie behielten sich auch Zwangsmaßnahmen vor, um im Konfliktfall durchzusetzen, dass die öffentlichen Mittel tatsächlich für den angestrebten Zweck verwendet wurden. Man ging also davon aus, dass die Unternehmer über die Verwendung der gewährten Subventionen Rechenschaft ablegen müssen, dass sie also eine disziplinierende Aufsicht hinnehmen mussten.
Die Kapitalseite reagierte auf diese Anreizstruktur jedoch ganz anders. Sie war durch die importsubstituierende Industrialisierung vor ausländischer Konkurrenz geschützt. In vielen Branchen erlangten eine Handvoll Unternehmen rasch eine marktbeherrschende Position. Wer zuerst da war, beherrschte das Feld. Dieser Trend wurde noch durch die Wirtschaftsplaner verstärkt, die angesichts des geringen Marktvolumens eine ruinöse Konkurrenz befürchteten und die Zahl der Produzenten pro Branche administrativ begrenzten.
Da die Unternehmen ein Quasimonopol über ihre nationalen Märkte erlangt hatten, schwand der Anreiz für Innovation, Investition und Modernisierung. Also nutzten sie die Subventionen nicht zur Erneuerung ihrer vorhandenen Ausstattung. Es war günstiger, in andere Branchen zu investieren, um erneut das Feld zu beherrschen.
Für die nationalen Bourgeoisien bedeutete die ISI gigantische Profite, solange man die großzügig verteilten Subventionen nutzen und zugleich die Kontrolle über die Verwendung der Mittel abwehren konnte. Entsprechend galten die disziplinierenden Komponenten der ISI als inakzeptable Behinderung.
Auf den ersten Blick war dieser Konflikt zwischen der nationalen Bourgeoisie und den Wirtschaftsplanern nicht immer erkennbar, denn es gab immer wieder Unternehmer, die vom Staat eine bessere Wirtschaftsplanung forderten. Aber damit meinten sie im Grunde nur, dass die öffentlichen Gelder an sie selbst und nach ihren Vorstellungen verteilt werden sollten. Für sie bedeutete Planung schlicht die Vergesellschaftung des Risikos, ohne die private Aneignung des Profits anzutasten.
1 So der Soziologe Daniel Hirschmann, zitiert nach: de.wikipedia.org/wiki/Stilisierter_Fakt.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der Universität New York und Autor von „Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals“, Berlin (Dietz Verlag) 2018. Eine Fassung dieses Textes erschien in der Ausgabe 2005 der Zeitschrift Socialist Register.