12.09.2019

Die Macht des tiefen Staats im Sudan

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Die Macht des tiefen Staats im Sudan

Die Demokratiebewegung muss sich gegen alte islamistische Seilschaften zur Wehr setzen

von Gérard Prunier

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Khartum, 3. Juni 2019. Bewaffnete, angeblich in staatlichem Auftrag, treiben die Demonstranten auseinander, die sich seit fast zwei Monaten vor dem Hauptquartier der sudanesischen Streitkräfte (SAF) versammelt haben. Die brutale Räumungsaktion, bei der zwischen 130 und 150 Demonstranten ums Leben kommen, ist aufgrund ihres Ausmaßes ein Schock für den arabischen Teil Afrikas, der ohnehin nicht zur Ruhe kommt.1

Seit 1989 herrschten im Sudan, dem Bindeglied zwischen Afrika und dem Nahen Osten, Islamisten, die durch einen Militärputsch an die Macht gelangt waren. Als der Staatsstreich erfolgte, litt der größte Flächenstaat des Kontinents (bis zur Abspaltung des Südsudan 2011) noch unter den Folgen des Kalten Kriegs.

Schon damals ging durch die sudanesische Bevölkerung ein tiefer kultureller Riss. Jahrelang versuchte die islamistische Regierung unter Omar al-­Bashir eine fundamentalistisch-revolutionäre Agenda voranzutreiben, die den „Glaubenskrieg“ zwischen dem (mehrheitlich muslimischen) Norden und dem (mehrheitlich christlichen) Süden beenden sollte. Die Autonomiebestrebungen des Südens hatten seit der sudanesischen Unabhängigkeitserklärung 1956 zu einer lange andauernden militärischen Konfrontation geführt.

Al-Bashir musste, nachdem seine Strategie eklatant gescheitert war, 2011 die Abspaltung des rund 600 000 Quadratkilometer großen, südlichen Landesteils hinnehmen. Südsudan wurde das 193. Mitglied der Vereinten Natio­nen. Khartum konnte fortan nicht mehr auf seine enge Allianz mit China bauen, denn deren Geschäftsgrundlage war die Erdölproduktion, die nun von der Regierung in der südsudanesischen Hauptstadt Juba kontrolliert wurde.

Die Militärjunta hatte darüber hinaus den Fehler gemacht, den am Boden liegenden Agrarsektor sträflich zu vernachlässigen. Zugleich wollte sie der Bevölkerung, die bis dahin eine tolerante Variante des Islam praktiziert hatte, eine rigide und ethnifizierte Les­art ihrer Religion verordnen. Auch dies stellte sich als ein Schlag ins Wasser heraus: In der Region Darfur beschwor die forcierte künstliche Arabisierung 2003 einen Bürgerkrieg herauf, der bis heute andauert.

Ein weiteres Versagen der Führung in Khartum war ihr brutaler Umgang mit den schwarzen muslimischen Kombattanten, die im Süden aufseiten der unterlegenen Separationsgegner gekämpft hatten und sich nach Kriegsende in den Norden zurückziehen mussten. Die Kämpfer revoltierten und ließen dabei auch die ethnische und soziale Dimension der innersudanesischen Konflikte erkennbar werden.

Das islamistische Regime hatte nach 25 Jahren Diktatur außer einer spektakulären Serie von Fehlschlägen und der wachsenden Korruption nichts vorzuweisen. Die wirtschaftliche Misere brachte schließlich das Fass zum Überlaufen und führte zur direkten Konfrontation zwischen Junta und Bevölkerung. Nach den blutig niedergeschlagenen Demonstrationen von 2013 mussten sich die Verfechter einer Liberalisierung des Regimes im Untergrund neu formieren. 2019 meldeten sie sich als Allianz für Freiheit und Wandel (ALC) mit der „Erklärung für Freiheit und Wandel“ (DLC) auf der öffentlichen Bühne zurück.

Allerdings machen drei Schwachpunkte der Demokratiebewegung zu schaffen: Erstens ist diese selbst in der Provinz stark städtisch geprägt. Zweitens gehört ein Großteil ihrer Mitglieder zur arabischstämmigen Bevölkerungsgruppe der Awlad al-Balad aus den Zentralprovinzen, und drittens ist die Bewegung – abgesehen von der oppositionellen Gewerkschaft SPA (Sudanese Professionals Association) – in sich tief gespalten.

So war es dann auch der militärische Übergangsrat, in dessen Händen de facto die Macht lag, nachdem die Armee Präsident Omar al-Bashir am 11. April 2019 abgesetzt hatte. Glich das nicht eher einem Militärputsch als einer demokratischen Revolution? Bis Mitte August herrschte der Übergangsrat ohne jedes Mandat durch die enorm breite Protestbewegung, die aus den Demonstrationen vom 19. Dezember 2018 hervorging. Im Gegensatz zu früheren Aufständen (1964 und 1985) nahm diese Bewegung, die schon bald für ihre Sit-ins bekannt war, ihren Anfang in der Peripherie und erfasste rasch das ganze Land. Die Demonstranten und ihre Organisationen machten sich auf den Weg in die Hauptstadt. Eine halbe Million Menschen campierten wochenlang auf der Straße.

Es entstand eine Art festliches Protestlager, eine Art Dauerdemo, bei der sich alle Beteiligten von ihrer solidarischen Seite zeigten. Die zahlreich anwesenden Kinder wurden von allen gemeinschaftlich betreut; überall waren Frauen zu sehen, die ihre Stimme erhoben, und die Menschen aus der Provinz entdeckten die Hauptstadt für sich. Ihre Slogans waren friedlich: „Silmiya“ (Keine Gewalt), „Hurriya“ (Freiheit), „Thawra“ (Revolution), „Dhidd al-haramiyya“ (Nieder mit den Dieben), „Madaniya“ (Zivilisten an die Macht).

In Darfur zeigte das mafiose Regime sein wahres Gesicht

Während des Ramadans bestimmten die Demonstranten individuell, ob sie sich bei fast 50 Grad im Schatten an die Fastengebote hielten oder nicht, und das in einem Land, in dem seit 30 Jahren Islamisten regiert hatten. Die Händler – auch die Christen unter ihnen – versorgten die Menge mit allem Lebensnotwendigen. Reihum wurde eine Art Müllabfuhr organisiert. Die Kleinen spielten zwischen den Beinen der Erwachsenen und den Gewehren der Soldaten, die sich mit den Demons­tran­ten solidarisiert hatten.

Doch dort, wo es weder Kameras noch Augenzeugen gab, wurden Aufständische brutal misshandelt oder umgebracht. Die Schüsse auf die Demonstranten kamen nicht aus den Gewehren der regulären Armee, die im Gegenteil ihr Bestes tat, um die Protestierenden zu schützen. Die Schützen waren aus Darfur stammende Söldner der „schnellen Eingreiftruppe“ RSF (Rapid Support Force) und Einheiten des sudanesischen Geheimdienstes Niss (National Intelligence and Security Service). Sie sind Teil des „tiefen Staats“, den eine schrumpfende, aber nach wie vor mächtige Gruppe von Islamisten in den 30 Jahren, in denen sie an der Macht war, errichtet hatte.

Der Aufstand in Darfur 2003 hatte das Bild eines unter dem Banner eines radikalen Islam geeinten Volks zerstört und ließ das wahre Gesicht eines mafiosen Regimes sichtbar werden, das über Jahre in den illegalen Ölhandel verwickelt war. Die Abspaltung des Südens nahm den Herrschenden den letzten Rest ihres nationalistischen Nimbus. Und mit dem wirtschaftlichen Bankrott 2018 war ihre Legitimation vollends dahin. An die Stelle der Hinterzimmerpolitik des traditionellen sudanesischen Staats traten nun mächtige Seilschaften, dominiert von einer Handvoll islamistischer Akteure.

Eine der Paradoxien des großen revolutionären Volksfests, das Anfang 2019 stattfand, war sein zutiefst konservativer Charakter. Die nostalgische Erinnerung an die Aufbruchstimmung nach der Unabhängigkeit prägte die Stimmung. Man schwenkte die Flaggen früherer Tage und stimmte die Lieder von einst an. „Wir waren von Anfang an auf einem Irrweg“, sagte ein Demonstrant im Mai. „Wir sind keine Araber, sondern vielmehr islamisierte Afrikaner. Wir brauchen eine neue Sprache. Wir sollten künftig Englisch sprechen.“ Ein in Khartum stationierter französischer Diplomat berichtete, in der Zeit vom 6. April (dem Beginn der Platzbesetzung vor dem Sitz der SAF) bis zum 3. Juni (dem Tag des Massakers) habe man „den Eindruck gehabt, dass der Sudan wieder auflebt“.

Es gab nur wenige ausländische Beobachter, die diese nostalgische Revolution richtig einordnen konnten. Die Parallelen zum Arabischen Frühling sind rasch erschöpft. Zwar bekundete die Bewegung die gleiche Abscheu vor der Diktatur und war vom gleichen Streben nach Demokratie beseelt, aber auf der anderen Seite machte sie sich keine Illusionen über den politischen Islam. Nach 30 Jahren Machtmissbrauch und Korruption eines Regimes, das sich genau auf diese Ideologie berief, hätte schon deren bloße Erwähnung die latenten Gewaltpotenziale der Protestler wecken können.

Die Revolution musste sich auch dem „Problem des inneren Kolonialismus“ stellen. General Mohammed Hamdane Daglo alias „Hemetti“, der bei der blutigen Niederschlagung der Proteste die Fäden zog, stammt aus der Provinz Darfur. Der General, der sich heute als Befreier feiern lässt, hatte jahrelang dem arabisch dominierten Regime in Khartum geholfen, in den Provinzen die Bedrohung durch andere Ethnien abzuwehren – zunächst im Süden (bis zur Abspaltung) und dann in Darfur.

Er holte zahlreiche Veteranen, die in den Kriegen in der Sahelregion gekämpft hatten, in die Eingreifgruppe RSF – darunter Tschader (sein Cousin ist der Stabschef der tschadischen Armee), Nigerianer, Zentralafrikaner und sogar Deserteure von Boko Haram. Zuweilen fühlt sich Khartum an wie unter fremder Besatzung.

Auch Abu Dhabi und Riad mischen mit

Dies erklärt auch, warum Saudi-Ara­bien und die Vereinigten Arabischen Emirate die „koloniale“ Niederschlagung der Proteste unterstützt haben: Beide Länder wollen wieder ein islamisches Regime installieren, ohne Muslimbrüder und ohne breiten Rückhalt in der Bevölkerung; ein Regime, das sich auf einen tiefen Staat stützt, der mittellos und somit auf Hilfe von außen angewiesen ist – unter anderem von ihren US-amerikanischen Verbündeten.

Für Riad und Abu Dhabi, die sich in ihrer Bewertung der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des Arabischen Frühlings von 2011 einig sind, sieht das Wunschszenario so aus: autoritäre Islamisierung der Institutionen bei gleichzeitiger Unterbindung unkontrollierter radikaler Revolutionen, Sicherung der arabischen Vormachtstellung in der muslimischen Welt (inklusive Marginalisierung der Türkei und Irans) und Monopolisierung der islamischen Finanzkanäle unter Ausbootung Katars.

Nehmen die politischen Veränderungen im Sudan – unterstützt durch Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi – einen solchen Weg, würden sie an die Geschichte des ägyptischen Imperialismus im Niltal anknüpfen. Für das islamisch-konservative Lager, das seit 2011 für die Durchsetzung seines Hegemonialanspruchs kämpft, stehen sie für die Hoffnung auf einen endgültigen Sieg. „Hemetti“ hat im Auftrag der Emirate sudanesische Truppen nach Libyen und in den Jemen geschickt.

Dieser komplizierten Gemengelage hat die „internationale Gemeinschaft“, die vor allem die „Stabilität“ des Sudan wahren möchte, den Anschein der Legitimität zu geben versucht, indem sie ein erstes Abkommen unterstützte, das der militärische Übergangsrat und die oppositionelle Allianz für Freiheit und Wandel am 5. Juli unterzeichneten. Auch die zweite Übereinkunft vom 3. August fand ihr Wohlwollen.

Die darin getroffenen Vereinbarungen wurden am 17. August ratifiziert, womit ein auf 39 Monate angelegter institutioneller Prozess eingeleitet wurde, an dessen Ende eine neue Verfassung und eine zivile Regierung stehen sollen. Am 21. August wurde der Militärische Übergangsrat durch einen „Souveränen Rat“ aus fünf Vertretern der Militärs und sechs Zivilisten ersetzt.

Dieser Rat, dem auch „Hemetti“ angehört, beauftragte den Ökonomen Abdallah Hamdok mit der Regierungsbildung. Innerhalb von 90 Tagen muss ein Parlament gebildet werden. Trotz dieser historischen Einigung bleiben offene Fragen: Wer wird die Militärs und die Nachrichtendienste kontrollieren? Wie lassen sich die drei Regionen (Darfur, Blauer Nil und Südkordofan), die von bewaffneten Aufständen erschüttert werden, dauerhaft befrieden?

Dass die internationale Gemeinschaft den eingeschlagenen Weg mit Wohlwollen betrachtet, begründet Tibor Nagy, Staatssekretär für afrikanische Angelegenheiten im US-Außenministerium, mit der Sorge, der Sudan könnte wie Somalia oder Libyen im Chaos versinken. Allerdings haben Letztere trotz ihrer geografischen Nähe zum Sudan nicht viel mit dem Land gemein, in dem eine fest verwurzelte demokratische Tradition existiert.

Hinzu kommt, dass im Sudan der radikale Islamismus nicht mit der revolutionären Bewegung, sondern mit den Trümmern der Diktatur assoziiert wird. „Wir wollen einen für das sudanesische Volk verträglichen Übergang erreichen“, erläutert Nagy, der mit den Zusammenhängen vor Ort offenbar nur sehr oberflächlich vertraut ist, „In die konkrete Umsetzung werden wir uns nicht einmischen.“2

Der strukturelle Schwachpunkt des Übergangsabkommens ist nicht zu übersehen: Der sudanesische tiefe Staat behält dank seiner mächtigen Schutzherren in Saudi-Arabien und den Emiraten die Oberhand. Den Kampf gegen die islamistische Militärjunta hat die Opposition zwar gewonnen, aber angesichts der geopolitischen Neuordnung der arabischen Welt hat ein solcher Sieg wenig Gewicht.

Die wichtigsten Akteure der Protestbewegung – die bewaffneten Bewegungen in Kordofan, die Gewerkschaft SPA – winken einer nach dem anderen ab, wenn es darum geht, sich an der zukünftigen nationalen Regierung zu beteiligen, die zunehmend als Angelegenheit der Emirate und der Saudis erscheint. Auch wenn der Sudan die Diktatur überwinden konnte, hat das Land den Weg zu neuer Stabilität noch nicht gefunden, und die Gleichgültigkeit der US-Amerikaner macht eine wirkliche Festigung immer unwahrscheinlicher.

1 Siehe Giovanna Lelli, „Friedliche Revolution im Sudan“, LMd, Mai 2019.

2 Adrienne Klasa, „US backs Sudan transition deal for fear of state collapse“, Financial Times, London, 11. Juni 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Gérard Prunier ist unabhängiger Berater und Mitglied des Atlantic Council.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2019, von Gérard Prunier