12.09.2019

Das Tuch und die Nation

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Das Tuch und die Nation

In Iran dient der Körper der Frau als Mittel zur Selbstbehauptung gegenüber dem Westen. Das hat eine lange Geschichte

von Charlotte Wiedemann

Zwei Frauen von Schah Naser ad-Din Fotosammlung von Schah Naser ad-Din (1831–1896)
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Es ist schon ein wenig verwunderlich, wie sich der iranische Staat inmitten von Sanktionsdruck und Kriegsbedrohung um das Kopftuch sorgt. Gaststätten sollen Kameras installieren, um weibliche Gäste zu überwachen, und Autofahrerinnen werden per Textnachricht verwarnt, wenn sie unverschleiert am Lenkrad abgelichtet wurden.

Manches hat skurrile Züge, wenn etwa eine Behörde alle per SMS Verwarnten einbestellt und sich dann eine solche Menge aufgebrachter Frauen einfindet, dass man sie lieber umgehend nach Hause schickt: Haut ab, es hat sich erledigt. Doch ein Verstoß gegen die gesetzliche Pflicht, Haar und Hals zu bedecken, kann immer noch Gefängnis bedeuten – und die international bekannte Anwältin Nasrin Sotudeh, die Kopftuchrebellinnen verteidigte, bekam eine lange Strafe.

Warum das alles? Warum hat, nach so vielen Veränderungen in vier Jahrzehnten Islamischer Republik, ausgerechnet der Kopftuchzwang überlebt? Eine Antwort lässt sich nur in der iranischen Geschichte finden, in deren Verlauf immer wieder nationale Fragen am Körper der Frau ausgetragen wurden.

Eine kurze Treppe führt hinunter in das Tiefgeschoss des Teheraner Golestan-Palasts, wo sich die private Fotosammlung von Schah Naser ad-Din befindet. Er beherrschte Iran von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für nahezu fünf Jahrzehnte, die prägende Figur der Kadscharen-Dynastie. Auf einer Europareise fand der Kaiser Gefallen an den Kostümen von Pariser Balletttänzerinnen; daheim in Teheran zwang er nun den Frauen seines Harems, die eher korpulent waren, eine kindische Bekleidung auf: zu einem kurzen bestickten Jäckchen ein über den Knien endendes wallendes Röckchen, dazu weiße Kniestrümpfe.1

Der Schah bewunderte Europa; die Fotos aus dem Harem, meist von Naser ad-Din selbst aufgenommen, zeugen nicht etwa nur von der Laune eines Autokraten, sondern sind frühes Zeugnis einer Anpassung an den Westen, exekutiert am weiblichen Körper. Diese beiden Elemente, das Verhältnis zum Westen und das Bild der Frau, haben sich ein Jahrhundert lang immer wieder verzahnt. Das gilt mit Abstrichen gleichfalls für andere muslimische Gesellschaften, die vom europäischen Kolonialismus unter der Fahne der Aufklärung bedrängt wurden. In Iran, niemals formell kolonisiert, ist daraus ein Dauerkonflikt geworden, der bis in die Gegenwart wirkt. Deshalb wird heute nicht zufällig zeitgleich um den Nuklearvertrag und um die Kopftuchpflicht gerungen. In beiden Fällen geht es aus Sicht der Teheraner Nomenklatura um Souveränität und um Widerstand gegen westliche Dominanz.

Auf den Fotos aus der Kadscharen­zeit fällt noch etwas anderes auf: Die Haremsdamen, untenherum so lächerlich mädchenhaft kostümiert, schauen eher männlich-grimmig drein: Ihre Augenbrauen sind in der Mitte zu einem dunklen Balken zusammengewachsen, und einige Frauen tragen einen Anflug von Schnurrbart. Auf höfischen Gemälden derselben Ära werden Prinzen mit zarter Gestalt und femininen Gesichtszügen dargestellt. Für den heutigen Blick, ans Binäre gewöhnt, ist beides verwirrend.

Der schwarze Augenbrauen-Balken galt damals schlicht als schön: Auf einer ikonischen Darstellung iranisch-armenischer Herkunft ziert ihn die Maria genauso wie das Jesuskind. Was die weiblichen Schnurrbärte betrifft, lautet eine Deutung, Frauen hätten damals mit Jünglingen um die Gunst von Männern konkurrieren müssen: Es war bei Iranern der Oberschicht verbreitet, sich eine männliche Konkubine zu halten, einen Heranwachsenden mit einem allerersten zarten Anflug von Bart.

Augenbrauen-Balken als Schönheitsideal

In der Mitte des 19. Jahrhunderts seien weibliche und männliche Schönheitsideale noch erstaunlich ähnlich gewesen, meint die US-iranische Historikerin und Gender-Theoretikerin Afsaneh Najmabadi und zieht dafür auch Belege aus der Dichtung heran. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe sich das zugunsten europäischer (und christlich-homophober) Haltungen geändert. Homosexualität wurde nun als rückschrittlich gebrandmarkt und war nicht länger gesellschaftsfähig. „Die iranische Modernität hat einiges an kultureller Energie aufgewandt, um die Erinnerung an diese Seite männlicher Sexualität auszulöschen“, schreibt Najmabadi.2

Allerdings darf die Ambiguität, die sich in den idealisierten Darstellungen findet, nicht mit den realen gesellschaftlichen Rollen der Geschlechter verwechselt werden. Der Schnurrbart verlieh den Haremsdamen keinerlei Macht. Welche sexuellen Beziehungen sie untereinander pflegten, darüber schweigt die Geschichte.

Iranische Intellektuelle sind heutzutage uneins, ob die lange Epoche der Kadscharen-Dynastie für Iran mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirkt hat. Jedenfalls zeigte sich bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert eine politische Gleichzeitigkeit, die sich durch Irans weitere Geschichte zieht: einerseits ein kämpferischer Argwohn gegenüber dem Westen; andererseits die Furcht, in den Augen der Westler nicht zu bestehen.

Schah Naser ad-Din, der seine Frauen mit westlichen Attributen ausstaffierte, ließ sich von europäischen Staaten und Unternehmen Handelsmonopole abnötigen, die ihn bei seinen Untertanen zunehmend unbeliebt machten. Die Konflikte kulminierten in der Tabakrevolte von 1890: Der Schah hatte den Briten das Monopol auf Ernte und Vertrieb sämtlichen in Iran angebauten Tabaks zugesprochen, dagegen erhob sich ein landesweiter Protest, der in einen Tabakboykott mündete, von Geistlichen angeführt; es ist die erste Massenbewegung in der Geschichte Irans. Sogar die Frauen im Harem beteiligten sich am Boykott und verzichteten auf ihr geliebtes Pfeifchen. Der Schah musste den Monopolvertrag rückgängig machen, gegen eine hohe Strafzahlung an die Briten.

Die Tabakrevolte war ein Menetekel für vieles, was kommen sollte, im Verhältnis von König und Klerus, von Iran und Westen, und sie markierte auch eine Zäsur in der Geschichte der Frauen. Um ihren Patriotismus zu bezeugen, verließen viele Iranerinnen während der Revolte zum ersten Mal ihre Häuser und Höfe, betraten als Akteurinnen öffentlichen Raum. Sie hatten dafür keine einheimischen sozialen Vorbilder; noch gab es weder Mädchenschulen noch irgendeine weibliche Repräsentanz. „Früher war eine Frau in Iran nahezu gar ­keine Iranerin“, schreibt später die Dichterin Parvin E’tesami, 1907 geboren.

Erste Frauenvereine operierten im frühen 20. Jahrhundert wie Geheimgesellschaften; Treffen fanden zur Vorsicht außerhalb der Hauptstadt statt. Männer hatten nur Zutritt, wenn sie von einer weiblichen Verwandten begleitet wurden. Versuche, Frauenblätter herauszubringen, scheiterten am patriarchalen Widerstand, meist vonseiten der Geistlichkeit.

Doch was in der Tabakrevolte begonnen hatte, fand bald Fortsetzung in der Verfassungsrevolution, einem jahrelangen, turbulenten Ringen, die Monarchie konstitutionell zu bändigen.3 Frauen beteiligten sich an den Kämpfen aus patriotischen Motiven und um als Bürgerinnen Anerkennung zu finden. Als 1906 mit der iranischen „Beratenden Nationalversammlung“ das erste Parlament im Nahen und Mittleren Osten entstand, beschränkte die Verfassung das Wahlrecht auf Männer mit einem gewissen Einkommen.4

Gleichwohl verteidigten Frauen die revolutionären Errungenschaften gegen deren reaktionäre Gegner sogar mit der Waffe in der Hand; sie trugen Gewehre unter dem Tschador versteckt, ähnlich wie später ihre Enkelinnen in den Jahren 1978/79, stellten sich als menschliche Schutzschilder vor Parlamentarier und opferten ihren Schmuck für die Gründung einer Nationalbank, damit die Ausgabe iranischer Geldscheine nicht länger von den Briten kontrolliert wurde.

Mit dem Rückenwind der Konstitutionellen Revolution gründete Bibi Chanum Astarabi 1907 in ihrem Privathaus die erste Schule für muslimische Mädchen.5 Astarabi, deren Mutter Kinder am Hof unterrichtete, war eine frühe Feministin mit beißendem Humor. Vor der Jahrhundertwende hatte sie bereits Furore gemacht, als sie das anonym veröffentlichte Pamphlet eines Prinzen über die geistige Minderwertigkeit von Frauen mit einem satirischen Buch über „männliche Unzulänglichkeiten“ beantwortete.

Immer wieder verknüpfte nun eine Avantgarde von Frauenrechtlerinnen ihr Anliegen mit Fragen der natio­nalen Souveränität. Eine „Nationale Damen-Gesellschaft“ wendete sich gegen die Abhängigkeit der Kadscharen-Monarchie vom Ausland und verglich den würdelosen Status der Nation mit jenem der Frauen. Eine „Patriotische Frauenliga“ kritisierte 1922 die Frühverheiratung von Mädchen und warb zugleich nach antikolonialem indischem Vorbild für einen Boykott westlicher Waren.6

Wäre den Pionierinnen Zeit für eine allmähliche Verbreitung ihrer Ideen geblieben, hätte Irans spätere Geschichte vermutlich anders ausgesehen. Doch bald schon wurden die Iranerinnen, zum allergrößten Teil noch Analphabetinnen, zum Objekt einer gewaltsamen Modernisierung. 1935 verbot ihnen Schah Reza, ein Kavallerieoffizier, der sich selbst zum Kaiser aufgeschwungen hatte, von einem Tag auf den anderen, sich öffentlich mit Tschador zu zeigen. Seine Begründung lautete: „Wegen der Sitte unserer Frauen, den Schleier zu tragen, wegen dieser Ignoranz und des Analphabetentums haben die Europäer uns immer verachtet.“7

Stand vorher eine weibliche Avantgarde gegen die Allmacht des Hofs, wurde sie nun zu dessen Instrument gemacht. Der Hof lenkte die bis dahin unabhängige Frauenbewegung in staatliche Bahnen; im einzigen „Frauenzentrum“ des Landes führten zwei Töchter des Schahs das Wort. Auf traditionell eingestellte Iranerinnen wirkte das Schleierverbot, als zwänge man sie, nackt auf die Straße zu gehen; manche verließen das Haus nicht mehr. Es wurden sogar Busfahrer bestraft, wenn sie es wagten, eine Frau im Tschador zu befördern. Lehrerinnen, derer das Land so dringend bedurfte, wurde gekündigt, wenn sie sich nicht ent­schleierten.

Frauenkorps in Stewardesskostümen

Als sich 1935 die ersten Studentinnen an der neuen Universität Teheran einschreiben durften, proklamierte die Universitätsleitung, Bildung für Mädchen werde „Iran auf den Weg zu Verwestlichung und Fortschritt führen“.8 Zu diesem Zeitpunkt hatte das Land allerdings bei 15 Millionen Einwohnern nur 35 000 Schülerinnen, meist in den Städten.

Soziale Spaltung wurde zum Kennzeichen des Frauenfortschritts: Die staatlichen Dekrete katapultierten eine privilegierte Schicht in die Zukunft, während die Massen von Frauen, die der Tradition verhaftet waren oder sich von ihr behütet fühlten, den Eindruck gewinnen mussten, ihnen solle ein ausländischer Lebensstil aufgezwungen werden. Das Tschadorverbot wurde später fallen gelassen, doch seine Folgen haben sich in Irans politische Kultur tief eingegraben. Religiöse Iranerinnen waren nun überzeugt, das westliche Frauenbild versage ihnen Respekt, stigmatisiere sie als unzivilisiert. Manche sehen es heute noch so.

Unter dem letzten Schah Mohammad Reza Pahlavi rückten in den 1960er Jahren Alphabetisierungskorps in die Dörfer ein: Männerkorps in europäischen Militäruniformen, Frauenkorps in einer Art Stewardessen-Kostüm. Illustrationen in Schulbüchern zeigten Sohn und Tochter beim gemeinsamen Geschirrspülen in amerikanisch anmutenden Küchen, wie sie die meisten Iranerinnen noch nie gesehen hatten.

Die Anthropologin Erika Friedl, die in den Jahren vor und nach der Revolution von 1979 in einem iranischen Dorf lebte, beschreibt den verächtlichen Blick der wohlhabenden städtischen Iranerinnen auf die Landfrauen: die seien „schmutzig, dumm, unterdrückt, abergläubisch und dringend aufklärungsbedürftig“.9

Eine Polizistin auf dem Motorrad, eine Marineoffizierin, eine Pilotin – solche Symbolfotos aus den letzten Jahren der Schahzeit gelten Nostalgikerinnen heute als Beweis für den damals erreichten Grad an Emanzipation. Tatsächlich hatte am Vorabend der islamischen Revolution, als eine Mehrheit der Bevölkerung noch auf dem Land lebte, jede Frau im Schnitt sechs bis sieben Kinder und jede zweite konnte nicht lesen und schreiben. Der verklärende Blick zurück macht sie unsichtbar. Zur Schahzeit hätten alle Frauen Bikini getragen, wurde mir gegenüber schon steif und fest behauptet.

Diese Sichtweise verdrängt, warum so viele Iranerinnen 1978/79 die Revolution mitgetragen haben. Nachdem Chomeini sie aufgerufen hatte, sich am Kampf zu beteiligen, empfanden sich arme und religiöse Frauen zum ersten Mal als gleichwertige Bürgerinnen. Sie wurden für den Sturz der Monarchie gebraucht, und für diesen Moment konnten sie selbst bestimmen, was sie unter Gerechtigkeit und Freiheit verstehen wollten – und unter Weiblichkeit.

Eben nicht jene von der Schah-Familie propagierte Kombination von perfekter Schönheit und politischer Abstinenz. Das Pahlavi-Regime habe die Iranerinnen zu „westlichen Puppen“ machen wollen, so argumentierte vor Chomeini bereits der Soziologe Ali Schariati, der in den frühen 1970er Jahren die säkulare studentische Jugend für ­einen revolutionären Islam gewann.

Wie selbstverständlich dann auch gebildete Städterinnen für den Sturz der Monarchie eintraten, kann man heute in einem früheren Geheimdienstgefängnis sehen, das als Museum fungiert: Eine ganze Wand ist bedeckt von Porträts der Frauen, die hier zu Tode kamen: ihr Haar oft unbedeckt, die Frisuren modisch. Einige säkulare Iranerinnen warfen sich damals auf Demonstrationen sogar einen Tschador über, als Fanal des Protests. Sie ahnten nicht, dass der weibliche Körper bald erneut einem politischen Programm unterworfen werden sollte.

Die schiitische Geistlichkeit hat nie einheitlich hinter dem gesetzlichen Kopftuchgebot gestanden, das wie die gesamte Rechtskonstruktion der Islamischen Republik – Theokratie plus Demokratie – eine singuläre Neuerfindung war, ohne Vorbild in der muslimischen Welt und später ohne Nachahmer. Es wäre auch ein Missverständnis, den Tuchzwang hauptsächlich auf Religion zurückzuführen. Bei anderen Diskriminierungen, die sich noch eher auf klassische Rechtsauffassungen der Scharia zurückführen lassen, war die iranische Justiz langsam und widerstrebend zu Korrekturen bereit. Etwa beim sogenannten Blutgeld, wo früher die Angehörigen eines weiblichen Unfallopfers nur die Hälfte der Entschädigung bekamen, die für ein männliches Todesopfer gezahlt wurde; dies wurde jüngst zugunsten der Frauen abgeschafft.

Das Kopftuch aber hat nationale Bedeutung für das Image der Islamischen Republik, und zwar gerade weil sie sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr säkularisiert hat. Der drastisch gesunkene Anteil von Geistlichen im Parlament, von anfänglichen 60 Prozent auf nunmehr 6 Prozent, ist dafür neben vielem anderem ein Indikator. Wo die Islamische Republik reüssiert, ist es auf weltlichem Gebiet: militärisch, technologisch, wissenschaftlich. Die Kleidung der Frauen muss gewissermaßen verbergen, was an religiöser Substanz fehlt. Das Tuch – ein Feigenblatt.

Deshalb ist dem Staat so wichtig, dass Nationalspielerinnen und berühmte Schauspielerinnen auch im Ausland ihr Haar bedecken. Mit Tuch sind sie Flaggschiffe der Islamischen Republik, beweisen deren Modernität und Respektabilität; ohne Tuch wären sie in aller Augen bloß Teil der weltweiten iranischen Community – oder wie der Emigrant und US-Iranist Hamid Dabashi böse formuliert, eines „Iran without borders“, denn die Landesgrenzen Irans seien rein fiktiv.

In jüngster Zeit gelangten staatsnahe Studien10 zu dem Ergebnis, eine Mehrheit der Frauen wie der Bevölkerung insgesamt lehne den Kopftuchzwang ab. Überraschend ist, dass diese Erkenntnis trotz Zensur publiziert wird. Gemeinhin ist der Islamischen Republik am Eindruck gelegen, sie werde von einer Mehrheit im Land gestützt. Was die Frauen betrifft, geben führende Juristen neuerdings zu bedenken, Zwang und Strafen seien nicht länger wirksam. Es handelt sich also offenkundig um einen sensiblen Moment, mit dem das System nicht eindeutig umzugehen weiß.

Doch immer noch stehen die Iranerinnen an einem unseligen Kreuzungspunkt von antiwestlichen und prowestlichen Obsessionen. Die Hardliner der Nomenklatura argwöhnen hinter Bestrebungen nach Gleichberechtigung und einem freieren Lebensstil stets US-amerikanische Softpower. Und wie bestellt applaudieren westliche Medien seit Jahren jedem Zentimeter, den das Kopftuch rutscht, und lesen daran ab, wie porös das Systems ist.

Es ist höchste Zeit, den Blick von dieser binären Sichtweise zu befreien, die nun schon seit vielen Jahrzehnten als Last auf den Schultern der Frauen liegt. Gewiss, Iranerinnen aller Schichten haben mit ihrem Bedürfnis nach Bildung, Berufstätigkeit und Teilhabe das heutige Gesicht der Gesellschaft vorteilhaft geprägt. Und viele haben am Exempel der Kleidung vorgemacht, wie sich staatliche Anordnungen subtil und hartnäckig unterlaufen lassen, was im Persischen die Metapher hervorbrachte, sie führen wie ein unbeleuchtetes Auto durch die Nacht.

Doch hat das Gebot der Ver­schleie­rung anfänglich den weiblichen Aufstieg durchaus begünstigt: Konservativen Eltern fiel es nun leichter, ihre Mädchen nicht nur zur Schule, sondern auch zur Universität gehen zu lassen. Millionen junge Iranerinnen machten sich auf in eine Welt, die ihnen vorher verschlossen war. Schon 1998 gab es mehr weibliche als männliche Studienanfänger. Und damals war die Zahl der Kinder pro Frau bereits so stark gefallen, dass die Islamische Republik von den Vereinten Nationen ausgezeichnet wurde. Heute ist die Geburtenrate niedriger als in Frankreich.

Tschador nicht gleich Regimetreue

In ihrer frühen Phase sei die Islamische Republik patriarchal, aber auch puritanisch gewesen, während die heutige Gesellschaft „liberale Attitüden mit männlich dominierten Konzepten von Moral verbindet“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Fatemeh Sadeghi. Von der sexuellen Libertinage profitierten die Geschlechter keineswegs gleichermaßen. Junge Liebespaare fänden zwar häufig Zuflucht in elterlichen Wohnungen, doch müsse das Mädchen in der Regel in die Wohnung des Jungen gehen und gerate so schnell in neue Abhängigkeiten. Diese „patriarchalische Modernität“ sei für Frauen ebenso eine Falle wie rückschrittliche Traditionen.

Sadeghi, Tochter eines Mitbegründers der Islamischen Republik, ist bekannt für einen klaren und an Sozialdaten orientierten Blick auf die Geschlechterbeziehungen. Einer verbreiteten Idealisierung der vorislamischen Ära, in der sich vermeintlich das Beste des „Persertums“ auch gegenüber Frauen gezeigt habe, widerspricht sie wissenschaftlich fundiert: Der Zoroastrismus habe mit seinen Vorstellungen von weiblicher Unreinheit und Sündhaftigkeit dem frühen Islam gerade misogyne Züge vererbt.11

Ihren eigenen Protest gegen den Kopftuchzwang bezahlt Sadeghi mit einem Lehrverbot. Dennoch warnt sie davor, die nachlässige Verschleierung mit politischer Systemkritik gleichzusetzen oder den Tschador mit Regimetreue. Bei jungen Mädchen, die den Tschador trügen, sei ein wesentliches Motiv, sexueller Belästigung zu entgehen. Auch die chadori girls seien eingeklemmt zwischen Tradition und patriarchaler Moderne.

Während in der Diaspora Irans Gesellschaft gern als leuchtende Widerpart zum düsteren Staatsapparat gezeichnet wird, richten Frauen innerhalb Irans ihre Kritik ebenso gegen die Männer wie gegen den Staat. Auch Iraner aus liberalen und säkularen Milieus stellen sich gern stur, wenn sie Frauen Rechte gewähren sollen. Etwa das Recht auf Scheidung, das in einem Ehevertrag vereinbart werden kann. Die Möglichkeiten, staatliche Diskriminierung zivilrechtlich abzumildern, werden auch auf anderen Feldern, etwa der Reisefreiheit, längst nicht ausgeschöpft. Und bei den Teheraner Superreichen, die ihren dekadenten Lebensstil auf Instagram ausstellen, präsentieren manche jungen Iraner Frauen so krass als Sexpuppen, wie es sich ein Ali Schariati nie hätte vorstellen können.

Die Iranerinnen haben mehr für die Gesellschaft getan als die Gesellschaft für sie. Es ist deshalb kein Zufall, dass nach zwei Jahrzehnten massiver Regelverletzungen in so vielen anderen Bereichen, vom Benutzen des verbotenen Satellitenfernsehens bis zu Alkohol- und Drogenkonsum, erst jetzt die Phase anbricht, da auch gegen das Kopftuchgesetz nicht nur subtil, sondern ostentativ verstoßen wird, indem Frauen ganz darauf verzichten.

Dennoch wird an Iran aus hiesiger Warte gern ein Feminismus der kleinen Münze angelegt: Der Feind ist klar (Staat und Islam), weiteres Wissen nicht erforderlich. Postkoloniales Gedankengut und Kritik an Eurozen­tris­mus sind beim Thema Iran seltsam abwesend. Doch ohne eine solche Sensibilität kann man sich kaum der Frage nähern, was weibliche Emanzipation in einem westasiatischen, muslimischen Land bedeutet. Oder muss sie aussehen wie in Hamburg?

Selbst Wortführerinnen der iranischen Frauenbewegung im In- und Ausland vergleichen die Situation der Iranerinnen ungern mit der anderer Frauen in der Region: als seien Türkinnen, Araberinnen, Afghaninnen und Pakistanerinnen das nicht wert, trotz vieler kultureller und teilweise ethnischer Überschneidungen. Was zählt, ist der Westen.

Die Iranerinnen werden sich erst selbst gehören, wenn sie ihre Varianten von Frau-Sein und ihre Selbstdefinitionen in einem so weiten Spektrum entwickeln können, wie es der Diversität der heutigen Gesellschaft entspricht. Naturgemäß muss das die Religiösen einbeziehen. Es zählt nämlich zum westlichen Irrglauben, alle Frauen würden das Tuch wegwerfen, sobald sie dürften. Viele werden es mit größerer Freude tragen, wenn der Zwang entfällt.

Es gibt bei uns wenig Interesse und noch weniger Respekt für jenen Prozentsatz von Iranerinnen, die sich nicht an westlich definierten Freiheiten orientieren und an der Bedeutung von Religion für ihr Leben festhalten, sogar theologisch Karriere machen wollen. Eine steigende Zahl von Frauen studiert an religiösen Seminaren, 2016 waren es rund 70 000, und etwa 90 000 haben bereits einen Abschluss als Theologinnen. Sie sind in der Praxis männlichen Gelehrten nicht gleichgestellt, doch ihr Status wäre für Katholikinnen geradezu traumhaft.

Wie das Tauziehen um den Kopftuchzwang ausgehen wird, ist schwerlich zu prognostizieren. Facebook-Kampagnen popularisieren nun den Protest und vernetzen ihn. Aber sie verstärken auch die Fixierung auf den Westen als Befreier oder Feindbild, wenn sich deren bekannteste Protagonistin, die Journalistin Masih Alinejad, in den USA von Anti-Iran-Falken wie Mike Pompeo feiern lässt. Manche Kopftuchrebellinnen filmen nach der Methode „My Camera is my weapon“ mit dem Smart­phone ein bevormundendes Gegenüber und stellen harsche Wortwechsel, manchmal Raufereien online. Die Szenen zeigen, wie schwer sich die iranische Gesellschaft weiterhin damit tut, ihre inneren Differenzen konstruktiv auszutragen. Auch darum hält sich das System.

Ein wirklich neues Phänomen ist es, dass junge Mädchen ohne Tuch ihr kurzes Strubbelhaar zeigen und mit klobigen Schnürstiefeln und burschikosem Gang demonstrativ aus der permanenten Schönheitskonkurrenz aussteigen, die so viele Iranerinnen beschäftigt.

Oder die Unaufgeregtheit, mit der männliche und weibliche Passanten auf einem Bahnsteig der Teheraner Metro einer Frau ohne Kopftuch begegnen. Alle betrachten sie und schweigen. Als könnten sie sich noch keinen Reim darauf machen, was in diesem Moment eigentlich geschieht und was daraus folgt. Solche stillen Momente sind vielleicht die ehrlichsten. Denn viele Iraner und Iranerinnen wissen noch nicht, was für eine Gesellschaft sie in Zukunft sein wollen.

1 Der königliche Harem war groß, Naser ad-Din hatte zwei Dutzend Ehefrauen sowie unzählig viele Töchter.

2 Afsaneh Najmabadi, „Women with Moustaches and Men without Beards. Gender and Sexual Anxieties of Iranian Modernity“, Berkeley (University of California Press) 2005.

3 Die Kämpfe zogen sich von 1905 bis 1911 hin.

4 Frauen erhielten das Wahlrecht 1963.

5 Für Christinnen und Jüdinnen gab es vereinzelte Mis­sions­schulen, von Franzosen oder Amerikanern eingerichtet.

6 Christopher de Bellaigue, „Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft“, Frankfurt am Main (S. Fischer Verlag) 2018.

7 Nach Nina Ansari, „Jewels of Allah. The Untold Story of Women in Iran“, Los Angeles (Revela Press) 2018.

8 Ansari, siehe Anmerkung 7.

9 Erika Friedl, „Die Frauen von Deh Koh. Geschichten aus einem iranischen Dorf“, München (Knesebeck und Schuler) 1991.

10 2018 wurden Ergebnisse von Umfragen bekannt, die vom Zentrum für Strategische Studien beim Staatspräsidenten, vom Parlamentarischen Forschungszentrum und vom Ministerium für Kultur und Islamische Führung veranlasst worden waren. In den neuesten Umfragen lehnen bis zu 90 Prozent der Befragten den Kopftuchzwang ab, auch weit entfernt von Teheran.

11 Fatemeh Sadeghi, „The Sin of the Woman. Interrelations of Religious Judgments in Zoroastrianism and Islam“, Berlin (Klaus Schwarz Verlag) 2018.

Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Zuletzt erschien 2019 in aktualisierter Ausgabe „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“, München (dtv).

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.09.2019, von Charlotte Wiedemann