12.09.2019

Mobilmachung des Wissens

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Mobilmachung des Wissens

Soziologie und Psychologie im Dienst der Aufstandsbekämpfung

von Olivier Koch

Holger Niehaus, ohne Titel, 2004, Farbfotografie, 51,5 x 70,1 cm
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Hinter einem Bildschirm sitzt ein Soldat und steuert eine Drohne. Tausende Kilometer vom Einsatzgebiet entfernt eröffnet er das Feuer auf Personen am Boden – ein mittlerweile übliches Szenario im Irak, im Jemen und in Afrika, etwa im Kampf gegen al-Qaida oder Boko Haram.

Doch wie erkennt man den Feind? Die Militärs zielen inzwischen nicht mehr auf Individuen, die zuvor von Aufklärungseinheiten vor Ort identifiziert worden sind. Vielmehr nehmen sie eine bestimmte Datenstruktur, die auf abweichendes Auftreten hinweist, ins Visier. Stufen die Analysten jemanden, der sich deviant gebärdet, als gefährlich ein, können Sie seine „Neutralisierung“ ins Auge fassen. Das geschieht häufig sogar, ohne dass die Identität des Betroffenen vor seiner Tötung bekannt ist. Entscheidend sind vor allem die gesammelten Spuren und Big Data, die zu einer Verhaltenssignatur zusammengesetzt werden: Was macht die Person? Wen trifft sie?

Die Computerisierung des Schlachtfelds begann in den 1940er Jahren mit der Entstehung der Kybernetik. In den USA wurde sie während des Vietnamkriegs (1955–1975) durch die Darpa (Defense Advanced Research Projects Agency) weiterentwickelt, eine auf Verteidigung spezialisierte Forschungsagentur. Seitdem setzt die Armee Computer und Big Data ein, um Waffen zu lenken und Raketen fernzusteuern. Die Besetzung des Irak markierte jedoch einen Wendepunkt. Erstmals steuerte das Pentagon mit komplexen Computersystemen Armeeeinheiten auf „menschlichem Terrain“. Mit diesem Euphemismus bezeichnet das Militär schlicht die Bevölkerung.

2003, nach dem Sturz Saddam Husseins, mündete der Krieg in einen asymmetrischen Konflikt zwischen den Streitkräften der internationalen Koalition und bewaffneten Milizen. Die US-Armee besinnt sich seitdem auf die Kunst der Aufstandsbekämpfung, die sie schon in Vietnam praktiziert hat. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund: Kämpfer von Zivilisten zu unterscheiden und die Unterstützung der Zivilbevölkerung für die bewaffneten Gruppen zu unterbinden.

Im Rahmen dieser bevölkerungszentrierten Kriegslogik verwenden die Besatzungstruppen eine neue Kartografie: Berge, Ebenen und Flüsse sind darin nicht verzeichnet. Stattdessen ortet sie „Aufständische“ in einer sozialen Umgebung. Verhaltensweisen, Ortswechsel und Interaktionen mit anderen werden registriert und auf Kon­troll­bildschirmen visualisiert. Der Feind erscheint auf diesen Karten als Knotenpunkt eines Netzwerks.

Die bei der Aufstandsbekämpfung eingesetzte Software greift auf sozialwissenschaftliche Verhaltensmodelle zurück. Damit das System funktioniert, muss die Gesellschaft engmaschig überwacht werden. 2008 brachte das Pentagon das Human Socio-Cultural Behavior Modeling Program (HSCB) auf den Weg, in dessen Rahmen wurde auch das Projekt „Social Radar“ vorangetrieben. Die unter diesem Namen entwickelte Software verarbeitet große Datenmengen aus Medien und sozialen Netzwerken sowie nachrichtendienstliche Erkenntnisse. Mit ihrer Hilfe sollen zum Beispiel Sympathien unter der Bevölkerung für eine Protestbewegung gemessen werden.

Dafür kombiniert der Radar die Analyse der Onlinekommunikation mit einer Gefühlsanalyse. Er ermittelt, welche Themen die Internetnutzer hauptsächlich diskutieren, und verknüpft sie mit den zum Ausdruck gebrachten Emotionen. Auf dieser Grundlage zeichnen sich „sentiment-target constellations“1 ab, die dann von der Besatzungsmacht zur psychologischen Kriegsführung genutzt werden. Dienen Radargeräte an Bord von Flugzeugen und Schiffen dazu, Objekte im Kampfgebiet zu orten, verfolgt „Social Radar“ das Ziel, die psychosozialen Tiefen der Gesellschaften zu durchdringen, um relevante Veränderungen aufzuspüren.

Der Feind erscheint als digitale Datenstruktur

Im 19. und 20. Jahrhundert bildete die Zivilmoral den Mittelpunkt der Staatspropaganda. Ein Krieg ließe sich nur schwer ohne Unterstützung der Bevölkerung gewinnen, so die Erkenntnis. Regelmäßig wurden Sozial- und Geisteswissenschaften mobilisiert, um Überzeugungstechniken zu perfektionieren und so zum Sieg beizutragen.

Die Instrumente der „sozialen Radiografie“ stehen in dieser Tradition, unterscheiden sich von ihren Vorgängern aber mindestens in zwei Punkten. Zum einen liegt ihnen der Wunsch zugrunde, das Aufflammen von Unruhen automatisch zu registrieren. Zum anderen soll das alles in Echtzeit geschehen, ohne langwierige Observierungen und Interpretationsprozesse. Vergangen sind die Zeiten, in denen Experten dem Kriegsherrn widersprüchliche Ansichten einflüsterten.

Eine solche Automatisierung der Prognose ist erstmals zur Aufstandsbekämpfung im Irak zum Zug gekommen. Im Rahmen des HSCB-Programms finanziert das Pentagon das Integrated Crisis Early Warning System (ICEWS). Dieses Krisen-Frühwarnsystem wertet Daten zu unterschiedlichen Ländern und ihrer Bevölkerung aus. Auch dieses moderne Orakel bezieht seine Daten aus Medien und sozialen Netzwerken. Soziale Bewegungen werden von ihm lediglich als Sicherheitsrisiko betrachtet. Die Frage nach Gerechtigkeit spielt eine untergeordnete Rolle.

Doch trotz der technologischen Potenz, die im ICEWS und in „Social Radar“ steckt, funktionieren die Prognosetools mehr schlecht als recht. Die Vorhersage von Unruhen erfolgt ja auf Grundlage von Äußerungen in den Medien und sozialen Netzwerken. So ist zu erklären, dass die Algorithmen 2011 und 2012 beim Arabischen Frühling keinen Alarm schlugen.

Offenbar haben die Programmierer nicht verstanden, dass Revolten ihren Anfang weder auf Facebook noch auf Twitter nehmen, sondern offline. Das war in den armen Regionen Ägyptens oder Tunesiens der Fall. Eine weitere Schwäche: Die gescannten Medien bilden die Realität nicht immer verlässlich ab, vor allem nicht, wenn sie vom herrschenden Regime oder von Wirtschaftsinteressen gelenkt werden.

Das Pentagon hat mehrere Projekte angestoßen, um die angewandte Forschung im Bereich der bevölkerungszentrierten Kriegsführung voranzutreiben. Unter der Ägide der Minerva Research Initiative wurden Studien über die Soziologie und Psychologie „terroristischer“ Netzwerke oder über stereotype Verhaltensweisen von „Rebellen“ finanziert. Angezogen vom Reiz des Geldes, hat die Wissenschaft hingenommen, dass Terror- und Aufstandsbekämpfung – eigentlich eine hoheitliche Aufgabe par excellence – zum akademischen Gegenstand wurde.

Doch nicht nur innerhalb der Universitäten ist die Mobilmachung des Wissens zu beobachten. 2011 wurde das Cultural Knowledge Consortium (CKC) gegründet, um öffentliche mit privater Forschung zu verknüpfen. Das Konsortium förderte die Zusammenarbeit zwischen Akademikern und Experten aus Verbänden, Privatfirmen oder dem Verteidigungsministerium. Das zusammengetragene Wissen soll für alle Mitglieder des Konsortiums über ein Onlineportal zugänglich gemacht werden.

Das Projekt 2013 lief aus, 2014 wurde es durch das Global Cultural Knowledge Network (GCKN) ersetzt. Dieses möchte „sämtliche geistigen Fähigkeiten der Vereinigten Staaten für künftige Armeeeinsätze bündeln und soziokulturelles Wissen zur Entscheidungsfindung nutzbar machen“.2

Über den militärischen Antiterror-Komplex hinaus interessieren sich mittlerweile Experten aus dem Sicherheitssektor für die automatische Erkennung sozialer Instabilität. 2013 entwickelte etwa die US-Firma Navanti das Programm „Native Prospector“, um Untersuchungen über die Bevölkerungen Nord- und Ostafrikas anzustellen – mit dem Ziel, die Ausbreitung von al-Qaida in der Region einzudämmen.

2017 bot Navanti seine Dienste dann unter Verwendung derselben Technologie Unternehmen an, die ihre Geschäfte in der Region oder im Nahen Osten ausbauen wollten. Andere Akteure nutzen Tools, die ursprünglich zur Terrorismusbekämpfung entwickelt wurden, gar als Marketinginstrumente. Offenbar lässt sich mit ihnen auch Konsumverhalten erforschen.

1 Barry Costa und John Boiney, „Social radar“, Mitre Corporation, McLean (Virginia), 2012, www.mitre.org.

2 Global Cultural Knowledge Network, www.community.apan.org.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Olivier Koch ist IT-Ingenieur und Forscher.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2019, von Olivier Koch