12.09.2019

Das DDR-Geschäft

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Das DDR-Geschäft

Eine kurze Geschichte der Wiedervereinigung

von Ulrike Herrmann

Holger Niehaus, Ohne Titel, 2007, Farbfotografie, 127 x 104,8 cm
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Die Wiedervereinigung war ein großer Erfolg, doch in West und Ost überwiegt bis heute die Enttäuschung. Hartnäckig hält sich der Verdacht, dass die Treuhand versagt hätte. Dieser Irrtum verdeckt das eigentliche Problem: Die Einheit wurde zu einem guten Geschäft für die Vermögenden, während die Angestellten – in Ost und West – zu zahlen hatten. Es lohnt ein Blick zurück.

Die Westdeutschen waren vollkommen überrascht, als sich am 9. November 1989 die Mauer öffnete und wenig später die DDR zusammenbrach. Man hatte den Osten für ein stabiles Land gehalten – und ebenso erstaunlich wirkte, dass sich das einst allmächtige SED-Politbüro zu keinerlei Gegenwehr aufraffen konnte. Es fiel kein einziger Schuss. Die merkwürdige ­Resigna­tion der Parteispitze hatte einen guten Grund: Es gab nichts mehr zu verteidigen. Die Herren des Politbüros wussten, dass die DDR pleite war. Da konnte man auch gleich aufgeben.

Die zentrale Planwirtschaft war gescheitert: Betriebe standen oft still, weil Vorprodukte nicht rechtzeitig geliefert wurden, Maschinen überaltert waren und die nötigen Ersatzteile fehlten. Die DDR-Bürger hatten zwar einen Arbeitsplatz – aber häufig nichts zu tun.

So erging es auch dem Diplomchemiker Hubert Biebl, der im brandenburgischen Premnitz angestellt war. Biebl führte zwischen 1982 und 1984 ein geheimes Tagebuch, und seine Aufzeichnungen sind eine einzigartige Quelle über das Alltagsleben in der DDR. Sie kreisen um die Qual, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Am 17. Januar 1983 notierte der Diplomchemiker: „Eine neue Arbeitswoche beginnt. Vier Tage des Terminkalenders sind ohne jeden Vermerk. Nur für Dienstag ist eingetragen: 14.30 Uhr Schule der sozialistischen Arbeit. Es scheint mir das typische Wochenprogramm eines bezahlten Arbeitslosen zu sein.“

Eine Woche später schrieb Biebl auf: „Potz Blitz, heute wollte man etwas von mir in der Fabrik. Ich war ganz erschrocken! Es war nämlich das erste Mal in diesem Jahr, dass man etwas von mir verlangte. Zum Glück war es nichts Weltbewegendes. Man wollte nur eine Unterschrift unter eine Grußadresse.“

Während in den Fabriken weitgehend Stillstand herrschte, verbreitete die SED-Spitze noch hektische Betriebsamkeit. Die zentrale Planungskommission erstellte jährlich 2136 Bilanzen für Materialien und Halbfertigwaren, die etwa 76 Prozent des Industrie-Inputs erfassten. 133 Kombinate erarbeiteten dann 2400 weitere Bilanzen.

Doch trotz dieser Akribie gelang es nie, die Komplexität des Systems abzubilden. Es musste nur irgendwo ein einziges Vorprodukt fehlen, um alle Pläne zu torpedieren. Ein beliebiges Beispiel: Das Aluminiumwerk Fischbach in Thüringen sollte 1986 laut Plan 50 000 Frittiertöpfe herstellen, die in der ganzen DDR heiß begehrt waren und auch in den Export gehen sollten. Aber leider gab es nicht genug Draht für die Frittiersiebe. Also wurden am Ende nur 20 000 Frittiertöpfe produziert.

Der allgemeine Mangel war derart groß, dass Fabriken selbst dann noch pro­­duzierten, wenn es lebensgefährlich

wurde. Das Chemiewerk in Premnitz arbeitete mit giftigem Schwefelkohlenstoff, der in alten, verrosteten Kesseln gelagert wurde. „Man befürchtet eine Trinkwasserkatastrophe mit unübersehbaren Folgen für die Stadt Premnitz“, notierte Biebl am 14. Mai 1984. Ein neues Schwefelkohlenstofflager war daher seit zehn Jahren geplant – aber es fehlte das Geld, um diese Investition in die Sicherheit zu tätigen.

Überall in der DDR tickten chemische Zeitbomben. Sogar die Fleischerzeugung konnte zur Bedrohung werden: Der Schlachthof in Halle arbeitete mit einer Kühlanlage, die noch aus der Nazizeit stammte, inzwischen 53 Jahre alt und verrostet war. Zehn Tonnen Ammoniak konnten jederzeit auslaufen und Beschäftigte sowie Anwohner vergiften. Alle Experten waren sich einig, dass man den Betrieb so schnell wie möglich abreißen musste. Doch die SED-Spitze legte ein Veto ein: In Ostberlin fürchtete man, dass die Fleischversorgung in Teilen der DDR zusammenbrechen würde, falls der Schlachthof in Halle ausfiel.

Niemand wusste besser als das SED-Politbüro, dass die DDR nur noch eine Ruine war. Die Zahlen waren desaströs: In der Industrie betrug der „Verschleißgrad“ 53,8 Prozent, im Bauwesen 67 Prozent, im Verkehrswesen 52,1 Prozent und in der Landwirtschaft 61,3 Prozent. Überall bröckelte es, und in den Innenstädten waren die Altbauten vielerorts nicht mehr bewohnbar. Die DDR war ausgelaugt und bankrott.

Die meisten Ostdeutschen erkannten ab Herbst 1989 völlig richtig, dass es nur eine ökonomisch sinnvolle Lösung gab: die Wiedervereinigung. Anfangs hatten die Demonstranten noch „Wir sind das Volk!“ gerufen, um sich gegen die SED-Diktatur aufzulehnen. Doch schon bald ­verwandelte sich der Slogan in „Wir sind ein Volk“.

Die Westdeutschen waren durchaus offen für die Idee, aus zwei Staaten ein Deutschland zu machen, aber konkrete Vorstellungen hatten sie nicht. Umfragen ergaben 1986/87, dass für ein Drittel der Bundesbürger die DDR längst normales Ausland war. Bei den unter 30-Jährigen fand sogar die Hälfte, dass die DDR ein fremder Staat sei. Drei Viertel der Befragten bejahten zwar eine Wiedervereinigung – aber nur ganze 9 Prozent gingen davon aus, dass diese Wiedervereinigung zu ihren Lebzeiten stattfinden würde. Entsprechend überrascht waren die Westdeutschen, als plötzlich die Mauer fiel.

In Bonn gab es keinen Plan, wie eine Wiedervereinigung aussehen könnte, denn es wäre eine politische Unmöglichkeit gewesen, an einem Konzept zu arbeiten, solange die DDR noch existierte. Solche Pläne wären niemals geheim geblieben, da die Stasi stets bestens informiert war, was in westdeutschen Ministerien so passierte. Die Bundesregierung hätte also ihre eigene Entspannungspolitik torpediert, wenn sie offensiv über ein Ende der SED-Herrschaft nachgedacht hätte. Zudem hätten auch die Alliierten gegen Bonner Alleingänge protestiert, denn ein gesamtdeutscher Friedensvertrag stand noch immer aus. Deutschland stand also planlos vor einer Aufgabe, die historisch einmalig war: Wie verwandelt man eine kommunistische Industrienation in ein kapitalistisches Land? Dafür gab es weltweit kein Beispiel.

Während der Westen ratlos staunte, hatten viele Ostdeutsche klare Erwartungen, wie die Wiedervereinigung ablaufen sollte: Für jede Ostmark sollte es eine Westmark geben. Und mit diesem Wunsch haben sich die DDR-Bürger weitgehend durchgesetzt. Bundeskanzler Helmut Kohl handelte durchaus eigennützig, als er nachgab und eine Westmark für eine Ostmark versprach. Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Wahlen in der DDR statt, und Kohl wollte sicherstellen, dass die Ost-CDU möglichst gut abschnitt.

Der Kanzler war allerdings in der glücklichen Lage, dass er das Nützliche mit dem Richtigen verbinden konnte. Es gab gar keine Alternative, als mit der Westmark zu winken. Denn es fand eine „Abstimmung mit den Füßen“ statt: Allein zwischen November 1989 und Januar 1990 hatten rund 300 000 DDR-Bürger ihr Land verlassen und waren in den Westen umgezogen. Es war abzusehen, dass noch Millionen folgen würden, falls die D-Mark nicht auch im Osten gelten würde.

Zudem war unsicher, wie lange sich Gorbatschow noch an der Macht würde halten können. In der Sowjetunion war die wirtschaftliche Lage katastrophal, selbst Fleisch und Milch wurden knapp, und erste Teilrepubliken wie die baltischen Länder spalteten sich ab. Im sowjetischen Militär und unter den konservativen Kommunisten brodelte es; ein Putsch war jederzeit möglich. Es herrschte also Zeitdruck. Eine deutsche Wiedervereinigung, so schien es, konnte nur gelingen, wenn sie möglichst rasch durchgezogen wurde.

Die Währungsunion besiegelt den Bankrott

Die Währungsunion war daher alternativlos, so dass nur die Frage blieb, welcher Umtauschkurs gelten sollte. Viele Ökonomen orientierten sich an den ostdeutschen Realitäten: Die DDR musste im Inland eine Mark aufwenden, um im Westexport 0,25 Valutamark zu erzielen. Daraus ließ sich ziemlich sicher schließen, dass die ostdeutsche Produktivität nur bei einem Viertel des westdeutschen Standards lag. Es schien sich daher anzubieten, den Umtauschkurs bei 4:1 anzusetzen. Für vier Ostmark sollte es also eine D-Mark geben.

Dieser Umtauschkurs hätte jedoch bedeutet, dass ganz Ostdeutschland verarmt wäre. Die Nettolöhne in der DDR lagen im Juni 1990 bei durchschnittlich 1224 Mark. Ein Viertel wären also 306 D-Mark gewesen, und von diesem kümmerlichen Betrag hätte niemand leben können. Die Bundesbank schlug daher als Kompromiss vor, die Ostmark 2:1 umzutauschen.

Kaum wurde diese vertrauliche Idee publik, strömten die DDR-Bürger wieder auf die Straßen: 100 000 wütende Ostberliner versammelten sich vor dem Roten Rathaus, in Dresden protestierten 70 000. „Ein Neubeginn mit Wahlbetrug – mit uns nicht“, stand auf den Transparenten. „Ihr wolltet den totalen Kohl – jetzt habt ihr den Salat“, dichteten Ostdeutsche empört. Auch die Parole „Ohne 1:1 werden wir nicht eins“ machte schnell die Runde. Der Bundesregierung fiel ebenfalls bald auf, dass halbierte Löhne keine Lösung waren, denn sie hätten einen neuen ­Exodus gen Westen provoziert: Ostdeutsche hätten mit einem Vollzeitjob weniger verdient, als Sozialhilfeempfänger im Westen bekamen.

Zudem wollte Kohl nicht als „Wahlbetrüger“ und „Verräter“ in die Geschichte eingehen. Am Ende blieben die ostdeutschen Löhne auch in Westmark unverändert, und dieser Umtauschkurs von 1:1 galt für alle laufenden Posten – also auch für Renten, Mieten und Preise. Die Spar­einlagen hingegen wurden tatsächlich halbiert und zu einem Kurs von 2:1 in D-Mark gutgeschrieben.1

Die Bundesregierung erwartete damals, dass die Wiedervereinigung weitgehend kostenlos zu haben sei. Der Staatsvertrag zur Währungsunion sah vor, dass man 1990 lediglich 25 Milliarden D-Mark an die ostdeutschen Länder überweisen würde. 1991 sollten noch einmal 40 Milliarden folgen. Ansonsten aber sollte sich die Modernisierung der DDR selbst finanzieren, denn anfangs hatte man große Hoffnungen, dass sich die ostdeutschen Staatsbetriebe lukrativ verkaufen ließen. Manche Schätzungen gingen gar davon aus, dass das DDR-Vermögen etwa 600 Milliarden ­D-Mark wert sei.

Diese Luftbuchungen fielen jedoch schnell in sich zusammen. Es gab kein Vermögen, sondern nur Kosten, wie die Treuhand bald feststellten musste, die den staatlichen DDR-Besitz privatisieren sollte. Es gelang zwar, rund 10 000 ostdeutsche Betriebe zu retten. Aber es mussten auch 3700 Firmen geschlossen werden. Als die Treuhand Ende 1994 aufgelöst wurde, beliefen sich ihre Verluste auf 204 Milliarden D-Mark.

Es war kaum zu glauben, dass die ostdeutschen Firmen und Grundstücke weniger als nichts wert gewesen sein sollten. Hartnäckig hielt sich der Verdacht, dass die Treuhand wertvolles DDR-Vermögen zu Ramschpreisen verscherbelt haben könnte. Der Bundestag setzte zwei Untersuchungsausschüsse ein, um die Arbeit der Treuhand zu durchleuchten.

Auch der Bundesrechnungshof widmete sich der Treuhand und kritisierte unter anderem, dass man die DDR-Banken zu Schleuderpreisen an westdeutsche Kreditinstitute verkauft hatte. So erwarb die Deutsche Bank einen Teil der ehemaligen Deutschen Kreditbank für nur 310 Millionen D-Mark – und bekam dafür 112 Niederlassungen. „Ein unangemessen niedriger Kaufpreis“, wie der Bundesrechnungshof beanstandete.

Betrug, Korruption und Insidergeschäfte waren in der Treuhand kaum zu verhindern, weil niemand wirklich überwachte, was die 4000 Mitarbeiter tagtäglich so entschieden. Es herrschte ein enormer Zeitdruck, da die ostdeutschen Betriebe ihre Zukunft erst solide planen konnten, wenn die Privatisierung abgeschlossen war. Wie der Bundestag 1998 bilanzierte, dürften insgesamt 3 Milliarden bis 10 Milliarden D-Mark veruntreut worden sein. Das war viel Geld, machte aber trotzdem nur maximal 5 Prozent der Treuhand-Verluste aus.

Der endgültige Bankrott der ostdeutschen Wirtschaft wurde nicht durch die Treuhand besiegelt – sondern durch die Währungsunion. Die D-Mark bedeutete den Todesstoß, weil sich die DDR-Bürger kaum noch für heimische Produkte entschieden, sobald sie die westliche Währung in Händen hielten. Der Trabant beispielsweise entwickelte sich zum Ladenhüter, obwohl der „Sachsenporsche“ sogar mit einem VW-Viertaktmotor ausgestattet wurde. Aber 9110 D-Mark für einen neuen Trabant war den Ostdeutschen zu viel, da kauften sie lieber einen gebrauchten VW-Golf.

Ähnlich dachten die Osteuropäer: Auch sie verlangten Westqualität, wenn sie mit D-Mark zahlen sollten. Die ostdeutschen Betriebe verloren daher ihre angestammten Exportmärkte in den östlichen Nachbarländern.

Noch zu DDR-Zeiten begann ein beispiellos rasanter Verfall: Im Sommer 1990 sank die Indus­trie­produktion innerhalb weniger Wochen um die Hälfte. Wie stark der Einbruch war, hing allerdings auch von der jeweiligen Branche ab, denn nicht jeder Sektor war dem überregionalen Wettbewerb gleichermaßen ausgesetzt. Elektrizitätswerke, Wasserversorger, Gaststätten, Krankenhäuser, Kinos, Taxifahrer und Handwerker hatten weiterhin gut zu tun. Zudem drängten Westfirmen in den Osten, die neue Mitarbeiter benötigten: Dazu gehörten vor allem Banken, Versicherungen, Lebensmittelketten und Autohändler.

Dennoch verloren Millionen Menschen ihre Stellen: 1991 waren etwa eine Million offiziell als arbeitslos gemeldet, weitere 700 000 versahen Kurzarbeit, 800 000 bekamen eine Fortbildung oder Umschulung, und rund 100 000 befanden sich in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. 850 000 Ältere wurden frühverrentet.

Viele Menschen verließen den ostdeutschen Arbeitsmarkt für immer: 1,7 Millionen siedelten nach Westdeutschland über, und etwa eine halbe Million arbeitete als Pendler im Westen. Fast alle DDR-Bürger mussten sich neu orientieren. Nur 30 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten besaßen 1993 noch den gleichen Arbeitsplatz wie vor der Wiedervereinigung.

Ältere und Frauen waren von der Arbeitslosigkeit besonders betroffen: 80 Prozent der Generation 50 plus verlor ihre Stellen, und zwei Drittel aller Arbeitslosen waren weiblich. Wer einmal arbeitslos war, fand so schnell keine neue Tätigkeit mehr. 1993 war fast die Hälfte aller Erwerbslosen schon mindestens ein Jahr ohne Arbeit.

Die Treuhand versuchte, zumindest einige „industrielle Kerne“ zu retten, damit nicht ganze Landstriche verödeten. Mit Milliarden wurden Carl Zeiss Jena, die Werften an der Ostsee, das Stahlwerk in Eisenhüttenstadt und die Chemiekonzerne bei Merseburg gestützt. Allein für die ostdeutsche Leuna-Raffinerie und das DDR-Tankstellennetz Minol stellte die Treuhand fast 2,3 Milliarden D-Mark zur Verfügung – um am Ende ganze 5000 Arbeitsplätze zu sichern. Im Durchschnitt hat also jede einzelne Stelle etwa 460 000 D-Mark gekostet.

Von der Einheit profitieren ausgerechnet die Reichen

Schon diese enormen Ausgaben zeigen, dass es unmöglich gewesen wäre, alle industriellen Arbeitsplätze der DDR zu retten – zumal viele Betriebe hoffnungslos veraltet waren. Vor allem moderne, innovative Branchen fehlten, da die SED viele Jahre lang kaum noch in die Wirtschaft investiert hatte. Stattdessen dominierten noch immer jene Sektoren, die in Westdeutschland schon in den 1970er Jahren weitgehend verschwunden waren, weil sie gegen die Billigkonkurrenz aus den Schwellenländern nicht bestehen konnten: also Textilbetriebe, Werften, Stahlerzeuger und die Hersteller einfacher Konsumgüter. Diese Unternehmen brachen nun auch in Ostdeutschland zusammen – sie konnten dem internationalen Wettbewerb nicht mehr standhalten.

Trotzdem war die Sanierung der Firmen langfristig ein Erfolg: Heute produziert die ostdeutsche Industrie weit mehr Waren als zu DDR-Zeiten – allerdings mit viel weniger Beschäftigten. Wie im Westen erledigen nun vor allem Maschinen und Computer die Arbeit in den Werkhallen.

Der Osten hat aufgeholt, aber die Spuren der Geschichte sind noch immer tief. Auch dreißig Jahre nach der Einheit verdienen ostdeutsche Vollzeitbeschäftigte 21 Prozent weniger als die Westdeutschen. Zudem sind die regionalen Unterschiede enorm: In Görlitz beträgt der Lohnabstand zum Westen 35 Prozent, während es in Jena nur 8 Prozent sind. Diese Differenzen sind allerdings nicht ganz so dramatisch, sofern auch die Preise berücksichtigt werden, die im Westen meist deutlich höher liegen als im Osten. In Görlitz sind 48 Quadratmeter im Altbau derzeit für eine Miete von 250 Euro zu haben. In Stuttgart kostet eine ähnliche Wohnung bis zu 1500 Euro.

Die materiellen Unterschiede sind jedoch nicht das einzige Problem, das Ost und West noch immer trennt. Viele Ostdeutsche kränkt bis heute, dass ihre Lebensleistung nicht gewürdigt wird. Nicht nur die DDR verschwand, auch die eigene Biografie schien plötzlich wie ausradiert. Zudem benahmen sich viele Westdeutsche, als hätten sie ganz persönlich das „Wirtschaftswunder“ erfunden und als wären sie nun die Sieger der Geschichte. Für diesen ignoranten Dünkel prägten die Ostdeutschen bald den Begriff „Besserwessi“, der es zum „Wort des Jahres“ 1991 brachte.

Viele Westdeutsche wiederum waren empört, dass sich die „Jammerossis“ ständig beschwerten, obwohl Milliarden nach Ostdeutschland gepumpt wurden. Es wurde nicht wahrgenommen, dass die Belastungen durch die Wiedervereinigung längst nicht so groß waren wie gedacht.

Bis heute ist unklar, wie viel die Einheit genau gekostet hat. Denn die Zahlungsströme von West nach Ost waren komplex: Es gab die Treuhand, den Fonds Deutscher Einheit, den Solidarpakt, den Länderfinanzausgleich, EU-Fördermittel sowie Aufwendungen der Rentenkasse, der Kranken- und der Arbeitslosenversicherung. Der ehemalige Finanzminister Theo Waigel schätzt, dass in den vergangenen dreißig Jahren etwa 2,5 Billionen Euro vom Westen in den Osten geflossen sind.

2500 Milliarden sind sehr viel Geld – und dennoch war die Einheit letztlich kostenlos. 2018 lag die Staatsverschuldung in Deutschland bei 60,9 Prozent der Wirtschaftsleistung, während Frankreich auf 98,6 Prozent und Großbritan­nien auf 86,9 Prozent kamen, obwohl beide Länder keine teure Wiedervereinigung zu stemmen hatten. Auch die Steuer- und Abgabenlast ist in Deutschland nicht höher als in anderen europäischen Staaten und liegt im „oberen Mittelfeld“. Die deutsche Einheit hat sich weitgehend selbst finanziert, weil der Umbruch im Osten einen Wachstumsschub ausgelöst hat, von dem die gesamte deutsche Wirtschaft profitiert hat.

Die deutsche Einheit war sogar so mühelos zu bewältigen, dass 1996 schon wieder Steuergeschenke verteilt wurden und die Vermögensteuer faktisch entfiel. Der deutsche Staat hatte also genug Geld, um die Wohlhabenden zu entlasten. Sonnig bekennt Waigel in seinen Memoiren: „Nur größere Unternehmen und der sehr gehobene Mittelstand profitierten davon.“

Die Vermögensteuer ist nur ein Detail, symbolisierte aber bestens die soziale Unwucht, die die Politik im neuen Einheitsdeutschland kennzeichnete. Es profitierten vor allem die höheren Schichten. Die Folgen sind bis heute zu spüren: Die Wiedervereinigung war eigentlich ein großer Erfolg, aber trotzdem hatten hinterher viele Bürger das Gefühl, dass sie zu den Opfern gehörten. In Ostdeutschland ist die Bitterkeit besonders groß, wie Umfragen immer wieder zeigen.

Im Frühjahr 1990 waren noch 77 Prozent der DDR-Bürger überzeugt, dass eine „soziale Marktwirtschaft“ anzustreben sei. 1995 glaubten dies nur noch ganze 26 Prozent. Stattdessen meinten jetzt drei Viertel der Ostdeutschen, dass der Sozialismus eigentlich eine gute Idee gewesen sei – nur leider schlecht ausgeführt. Westdeutsche konnten oft gar nicht nachvollziehen, dass viele Ostdeutsche so enttäuscht waren. Aber der Instinkt trog die Ostdeutschen nicht. Die „soziale Marktwirtschaft“ erwies sich als längst nicht so sozial, wie gern behauptet wurde. Denn die Lasten der Einheit wurden einseitig bei den Angestellten abgeladen.

Kaum war die Bundestagswahl 1990 gewonnen, gab auch Kohl zu, dass die „blühenden Landschaften“ im Osten keinesfalls von allein erblühen würden. Um die Einheit zu finanzieren, bediente sich die Regierung vor allem bei den Sozialkassen. Bereits zum 1. April 1991 stieg der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 auf 6,8 Prozent, und der Beitrag zur gesetzlichen Rente nahm bis 1997 schrittweise von 17,7 auf 20,3 Prozent des Bruttolohns zu. Die Angestellten mussten also eine Art Sondersteuer aufbringen – während Beamte und Selbstständige geschont wurden, weil sie gar nicht in die gesetzlichen Kassen einzahlten.

Unfair war zudem, dass die Angestellten diese Sonderzahlungen für die Einheit auch noch voll versteuern mussten: Bei der Einkommensteuer wurde damals nur der Bruttolohn zugrunde gelegt, so dass die abgeführten Sozialbeiträge keine Rolle spielten. Das Netto vom Brutto schrumpfte also deutlich – wenn man Angestellter war.

Um die Einheit zu finanzieren, stiegen zudem die indirekten Steuern: Bereits 1991 wurden die Tabak-, Versicherungs- und Mineralölsteuern erhöht; bis 1998 stieg auch die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte. Konsumsteuern treffen die unteren Einkommensgruppen aber immer besonders hart, weil sie ihr ganzes Geld ausgeben müssen, um über die Runden zu kommen, während die Wohlhabenden große Teile sparen können.

Die oberen Schichten wurden vor allem durch den „Solidaritätszuschlag“ belastet, der am 1. Juli 1991 eingeführt wurde. Trotzdem war die Wiedervereinigung gerade für die Vermögenden ein äußerst lukratives Geschäft: Sie profitierten von enormen Steuervergünstigungen, die die Investitionen in Ostdeutschland ankurbeln sollten. Diese Subventionen erreichten oft abenteuerliche Ausmaße, weil sich direkte Zuschüsse vom Staat mit diversen Steuernachlässen höchst gewinnbringend kombinieren ließen. Trotz Soli zahlten viele Gutsituierte nicht etwa mehr Steuern, sondern sparten sogar noch. Ausgerechnet die Reichen wurden gefördert, als es galt, die Einheit zu finanzieren.

1 Ein Teil der Sparguthaben wurde allerdings ebenfalls 1:1 umgetauscht. Die Obergrenze variierte nach Alter: Bis zum 14. Lebensjahr waren es 2000 Mark, vom 15. bis 59. Lebensjahr 4000 Mark, und bei Älteren waren es 6000 Mark.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem neuesten Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind“, Frankfurt am Main (Westend Verlag), September 2019. Wir danken dem Westend Verlag für die Abdruckgenehmigung.

© Westend Verlag, Frankfurt am Main

Le Monde diplomatique vom 12.09.2019, von Ulrike Herrmann