08.08.2019

Wir alle sind Michelle

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Wir alle sind Michelle

Wie die ehemalige First Lady ihre Weisheiten vermarktet

von Mona Chollet

Obama auf Buchtour, London 2018 YUI MOK/picture alliance/empics
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Eine Kaffeetasse mit der Aufschrift Find your voice, ein Tagebuch, ein rosa oder blauer Babystrampler mit dem Schriftzug Becoming me.

Diese und viele andere Artikel kann man in Michelle Obamas Onlineboutique bestellen, die mit der Publikation ihrer Memoiren eröffnet wurde.1 Allein das schon zeigt, dass die frühere First Lady der USA zur Königin der Selbstvermarktung geworden ist. Kann man sich eine Frau vorstellen, die vertrauenswürdiger und inspirierender wäre als diese Michelle Robinson, die aus „einfachen Verhältnissen“ an die Spitze der Welt aufgestiegen ist.

„Becoming“, der Titel ihrer Auto­bio­grafie, ist darauf angelegt, dass sich jede und jeder wiederfinden soll.2 Nach Erscheinen des Buchs im November 2018 ging Michelle Obama auf Welttournee. Wie ein Popstar. In Paris sprach sie am 15. April in der Accor­Hotels-Arena in Bercy. Vor ihrem Auftritt wurde auf riesige Leinwänden projiziert, was völlig unbekannte Leute halb im Scherz, halb im Ernst über ihr eigenes „Werden“ sagen.

Michelle Obama wechselt sehr geschickt zwischen Distanz und Nähe. Sie gibt sich mal als einzigartig, mal als ganz normal, was Bewunderung auslöst, aber auch für Identifikation sorgt. Witzig und charismatisch pflegt sie das Bild ihrer idealen Familie, erzählt aber auch, dass sie ihren Mann zur Eheberatung überredet hat, ihn ab und zu aber auch, bei aller Liebe, am liebsten an die Wand klatschen würde.

In ihren Reden wie in ihren Memoiren taucht immer wieder das Wort „Geschichte“ auf. „Ich war nie davon ausgegangen, dass es leicht sein würde, einen Studienplatz zu bekommen, aber ich lernte, mich zu konzentrieren und auf meine eigene Geschichte zu vertrauen“, heißt es in „Becoming“.

In ihrem Buch beschreibt sie auch ihre Erfahrung, wie sie im Wahlkampf für die Präsidentenwahl 2008 über ihr Leben sprach: „Ich mochte meine Geschichte. Ich erzählte sie gern.“ Einmal organisierte der junge Barack Oba­ma als Community Organizer eine Versammlung mit Bewohnern eines Armenviertels in Chicago: „Er wollte sie davon überzeugen, dass unsere Geschichten uns einander näherbringen und dass es durch diese Verbindung möglich ist, Unzufriedenheit zu verhindern und stattdessen etwas Nützliches zu bewirken.“

Das offenbar unbegrenzte Vertrauen in Storytelling ist nicht verwunderlich. Ihre eigene Geschichte ist zweifellos faszinierend, und sie hat es geschafft, sie in ein Kapital zu verwandeln, das fortlaufend Gewinne abwirft: Von „Becoming“ wurden weltweit in den ersten sechs Monaten 10 Millionen Exemplare verkauft, ein einmaliger Erfolg für Memoiren.

Es ist die Geschichte von Michelle Robinson, Nachfahrin von Sklaven, aufgewachsen in der armen Chicagoer South Side, die es durch Arbeit und Zähigkeit nach Princeton und Harvard schafft, Anwältin wird und einem brillanten Kollegen mit einer großen Zukunft begegnet. Bei ihrer Hochzeit 1992 singt eine Freundin das Lied von Stevie Wonder „You and I (We Can Conquer the World)“.

Vor dem Hintergrund ihres Aufstiegs zur ersten schwarzen First Lady im Weißen Haus ist der Bericht über ihre jungen Jahre geradezu aufregend. In Princeton verlangte die Mutter einer Kommilitonin, ihre Tochter müsse ein anderes Zimmer bekommen, weil sie nicht mit einer Schwarzen zusammenwohnen sollte (womit die Frau ihrer Tochter verwehrt hat, das Zimmer mit einer späteren Präsidentengattin zu teilen).

Michelle Obama schildert auch sehr genau die Mechanismen sozialer und rassistischer Diskriminierung. Fast vierzig Jahre später ist sie immer noch tief verletzt vom Urteil einer Berufs­beraterin in der High School, die ihr mitteilte, sie sei wohl nicht für Princeton geeignet. „Das Scheitern ist ein Gefühl, lange bevor es wirklich eintritt“, resümiert Michelle Obama. Das entspricht genau dem, was Angehörige von Minderheiten und Kinder einfacher Leute ständig erleben.

„Wenn man will, kann man auch.“ Das ist eigentlich nicht die Botschaft, die sie mit ihrem Buch verbreiten möchte. Sie hat selbst gesehen, wie viele Mitglieder ihrer Familie ihre Träume trotz aller Anstrengungen nicht verwirklichen konnten. Ihr Bruder und sie haben es am Ende dagegen geschafft: Unsere Eltern „fuhren nie an den Strand und gingen nie essen. Sie besaßen kein Haus. Sie investierten in uns, in Craig und mich. Alles, was sie hatten, ging an uns.“ Dramen in ihrem Umfeld haben sie gelehrt, wie ungerecht das Leben sein kann und dass Leistung nicht immer belohnt wird.

Ein Buchvorschuss von 65 Millionen Dollar

Wir erfahren auch, wie gleichgültig ihrem Mann am Anfang ihrer Beziehung materielle Güter waren, als wollte sie andeuten, dass sich Tugend am Ende doch noch auszahlt. „Mir kam zu dem Zeitpunkt auch in den Sinn, dass dieser Mann möglicherweise niemals Geld verdienen würde.“ Bald kam ihr in dieser Beziehung auch die Einsicht: „Es war eine Sache, einen Ort hinter sich zu lassen, an dem man nicht weiterkam. Doch es war etwas ganz anderes, zu versuchen, diesen Ort so zu verändern, dass dort auch niemand anderes mehr steckenblieb.“ Einmal starrte ihr künftiger Mann nachts im Bett an die Decke, und als sie ihn fragte, woran er denke, antwortete er: „Ach, ich musste nur gerade an die Einkommensunterschiede denken.“

Früher hat es diesen idealistischen Asketen offenbar tatsächlich gegeben. Heute kann der ehemalige Präsident 400 000 Dollar für eine Rede vor Wall-Street-Bankern kassieren. Penguin Random House hat einen Vorschuss von insgesamt 65 Millionen Dollar für die Autobiografien der beiden gezahlt (die von Obama wird gerade noch geschrieben). Seit dem Einzug ins Weiße Haus 2009 hat das Paar sein Vermögen verdreißigfacht.

„Mit viel Arbeit und einer guten Ausbildung ist alles möglich“, sagte Mi­chelle Obama in Paris, „sogar Präsident zu werden.“ Das klingt so, als sei „Präsident“ ein Karriereziel wie Popstar oder Konzerngründer. Dass man gewählt wird, um das Schicksal von Menschen zu verbessern, zumindest dem Ideal nach, ist offenbar in Vergessenheit geraten.

Natürlich spricht die frühere First Lady manchmal immer noch davon, man müsse „eine Welt schaffen, wie sie sein sollte“ (das Sweatshirt mit der Aufschrift „Work to create the world as it should be“ gibt es in ihrem Onlineshop für 60 Dollar). Aber auf der Bühne wie in ihrem Buch widmet sie der Bilanz der Präsidentschaft Obama nur wenige Sätze, wobei sie sämtliche Misserfolge ihres Mannes dem Widerstand der Republikaner zuschreibt.

Zu ihrer Entlastung muss man sagen, dass sie nie behauptet hat, eine politische Ader zu haben. Michelle sagt, dass sie die Welt, in die sie ungewollt hineingezogen wurde, nicht mag. Die Kluft zwischen Demokraten und Republikanern empfindet sie als unnötige Spaltung. Trotz ihrer riesigen Popularität denkt sie nicht an eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2020. Früher wurde sie vom konservativen Establishment als die „Frau mit den wütenden Augenbrauen“ verteufelt, heute gilt sie als extrem konsensfähig. Sie verhehlt nicht ihrer Sympathie für George W. Bush, der dafür verantwortlich war, dass die schwarzen und armen Bewohner von New Orleans 2005 beim Hurrikan „Katrina“ im Stich gelassen wurden.

Ihr Steckenpferd ist die Bildung, doch sie begnügt sich mit Appellen an den eigenen Willen. Ihre Initiative „Reach Higher“, die sie noch im Weißen Haus angestoßen hatte, soll den Zugang zum Studium für viele erleichtern, stellt aber die aberwitzigen Stu­dien­gebühren in den USA nicht infrage. Was aber ist mit denen, die nicht auf die Universität gehen können?

Einen ganz anderen Sinne bekommt die Aufforderung, „die eigene Geschichte zu schätzen“, bei Alexan­dria Ocasio-Cortez. Die neue Hoffnung der linken Demokraten hat ebenfalls einen Weg hinter sich, der einem Traum gleicht: von der Kellnerin in einer Bar zur Kongressabgeordneten für New York. Die charismatische Frau nutzt diese Erfahrungen, um ihre Landsleute bei Versammlungen oder in den sozialen Netzwerken in die Geheimnisse der US-Demokratie einzuführen.

Im Mai stand sie wieder einen Abend lang hinter einem Kneipentresen, um den Gesetzentwurf für allgemeine Lohnerhöhungen (Raise the ­Wage Act) zu unterstützen, der auf eine Forderung der Beschäftigten von Fast-Food-Restaurants zurückgeht und die schrittweise Einführung eines Mindestlohns von 15 Dollar pro Stunde (bisher 7,25 Dollar) bis 2025 vorsieht.3

So hinreißend Michelle Obama und ihr Mann auch sein mögen, die Demokratische Partei dürfte eine interessantere Entwicklung nehmen, wenn die radikalere Linie von Ocasio-Cortez, Bernie Sanders und den anderen Linken an Einfluss gewinnt. Die Obamas erzählen ihren Bewunderern vom Einstieg in den Klub der Gewinner; Ocasio-Cortez und ihre Verbündeten kämpfen dafür, dass es keine Verlierer mehr gibt. Gewiss eine überzeugendere Art, „eine Welt zu schaffen, wie sie sein sollte“.

1 becomingmichelleobamashop.com.

2 Michelle Obama, „Becoming: Meine Geschichte“, München (Goldmann) 2018. Alle nachfolgenden Zitate stammen aus der deutschen Übersetzung.

3 Der Gesetzentwurf wurde im Juli von Repräsentantenhaus beschlossen, dürfte aber im Senat scheitern.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 08.08.2019, von Mona Chollet