Orientalismus gestern und heute
von Adam Shatz
Edward Saids Buch „Orientalismus”1 zählt nicht nur zu einem der einflussreichsten ideengeschichtlichen Werke nach 1945; es gehört auch zu denjenigen, die am häufigsten missverstanden wurden. Besonders verbreitet dürfte der Irrtum sein, Said habe eine Studie „über“ den Nahen Osten verfasst. Denn sein Thema ist vielmehr die westliche Darstellung der arabisch-islamischen Welt.
Konservative Kritiker haben Saids Buch fälschlicherweise als nativistische Verurteilung der westlichen Orientalisten schlechthin gelesen und dabei sein Lob für Forscher wie Louis Massignon, Jacques Berque und Clifford Geertz übersehen. Demselben Missverständnis unterlagen aber auch einige Islamisten, die in ihrer Begeisterung übersahen, dass der Autor ein Verfechter der Säkularisierung ist.
Seit der Veröffentlichung des Buchs im Jahr 1978 hat sich „Orientalismus“ zu einem jener Begriffe entwickelt, mit denen man an progressiven Uni-Fakultäten jede Diskussion abwürgen kann. Denn der Vorwurf, ein „Orientalist“ zu sein, wiegt dort genauso schwer wie Rassismus, Sexismus oder Homo- und Transphobie.
Dass „orientalistisch“ heute ein allgemein verbreitetes Schimpfwort ist, zeugt von der argumentativen Kraft dieses Buchs, zugleich aber auch von seiner vulgarisierenden Rezeption. Said wollte eine Diskussion eröffnen über die spezifische Wahrnehmung der arabisch-islamischen Welt durch den Westen – und verweigerte sich keineswegs einem kritischen Blick auf die Probleme der Region, die ihm nur allzu schmerzlich bewusst waren. Ebenso war sich Said darüber im Klaren, dass sein Buch – wie vergleichbare historische Werke – selbst zu einem historischen Dokument werden musste, das die Zwänge und Ängste seiner Entstehungsbedingungen in gebrochener Form widerspiegelt.
Als „Orientalism“ erschien, war der Nahe Osten im Umbruch. 1978 wurde das Camp-David-Abkommen zwischen Israel und Ägypten abgeschlossen und im Libanon tobte ein Bürgerkrieg; ein Jahr später folgte die islamische Revolution in Iran; 1982 ließ Ariel Scharon die israelische Armee im Libanon einmarschieren, und ermöglichte so das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Edward Said war damals Mitglied des Palästinensischen Nationalrats und wollte mit seinem Buch, ganz im Geiste Foucaults, eine „Geschichte der Gegenwart“ schreiben. Einer (längst vergangenen) Gegenwart allerdings, die sich von unserer heutigen stark unterscheidet.
Für seine ideengeschichtliche Untersuchung hat Said literarische und wissenschaftliche Texte von einer ungeheuren Bandbreite verarbeitet. Auf dieser Grundlage definiert Said „Orientalismus“ als eine „Denkweise, die sich auf eine ontologische und epistemologische Unterscheidung zwischen ‚dem Orient‘ und (in den meisten Fällen zumindest) ‚dem Okzident‘ stützt“.2
Dabei behauptet er nicht, dass die Darstellungen des „Orients“ als „das Andere“ des Westens lediglich Fiktionen waren. Wären sie nur das, könnte man sie viel leichter dekonstruieren und verwerfen. Der klassische Orientalismus verarbeitete vielmehr Elemente positivistischer Erkenntnis und Forschung, die häufig einer Bewunderung bis hin zur Besessenheit für ihren Gegenstand entsprangen.
Problematisch war an diesem Orientalismus also nicht, dass er irgendwie „falsch“ im empirischen Sinn gewesen wäre, sondern dass er Teil eines umfassenderen „Macht-Wissen-Komplexes“ (im Foucault’schen Sinne) war. Der Orientalismus als ein solches Deutungssystem diente dem zuweilen expliziten, häufiger aber impliziten Zweck, ein „Anderes“ zu konstruieren, um die Stabilität und Überlegenheit des westlichen „Wir“ zu unterstreichen.
Vom Orientforscher zum Terrorismusexperten
Said beschreibt den Orientalismus als Diskurs der Mächtigen über die Machtlosen und damit als Ausdruck eines „Machtwissens“ wie auch eines westlichen Narzissmus. Dieses Syndrom ist heute allenthalben zu beobachten. Orientalismus ist, wenn ein westlicher Botschafter in einer arabischen Hauptstadt die Sympathie der Bevölkerung für die Palästinenser herunterspielt oder „die Araber“ als willfährige Masse darstellt, die erst 2011 im „Arabischen Frühling“ aufgewacht ist, nur um dann schnell wieder zur Enttäuschung für einen wohlwollenden Westen zu werden, der doch nur ihr guter Tutor sein will.
Orientalismus ist, wenn ein westlicher „Experte“ den islamistischen Terrorismus in Europa auf „Ressentiments“ reduziert, ohne eine Antwort auf die Frage zu suchen, warum sich europäische Bürger muslimischen Glaubens ausgegrenzt fühlen. Orientalismus ist, wenn dieser Experte einem arabischen Kritiker, der seine auf „rein wissenschaftlichen“ Daten basierenden Aussagen anzweifelt, den Vorwurf macht, dass er „emotional“ reagiere – und am Ende selbst in Rage gerät, weil dieser sture Orientale ihn einfach nicht verstehen will.
Der Orientalismus ist also noch immer unter uns. Er gehört nach wie vor zum politischen Unterbewusstsein des Westens, das sich auf unterschiedliche Art ausdrücken kann: manchmal als explizites Vorurteil, manchmal als kaum wahrnehmbare Modulation im Ton, manchmal aber auch als heftige Eruption in einer Diskussion. Doch dieser heutige Orientalismus ist – was das Verständnis seiner Inhalte wie seine Äußerungsformen betrifft – nicht mehr derselbe wie jener, den Said vor 40 Jahren erörtert hat.
Der Orientalismus von damals war letztlich das Produkt der Vietnamkriegsära. Damals hatten die „besten und klügsten Köpfen“ der USA ihr Land in einen verhängnisvollen Dschungelkrieg geführt, und Said beobachtete, wie eine neue Generation von in Harvard und Princeton ausgebildeten Experten die sich ständig verschärfende Konfrontation mit der arabischen Welt rechtfertigten, insbesondere was die Palästinafrage anging.
Im Kern ist Saids Buch also eine Kritik an den „Experten“, den Produzenten von Wissen über die arabisch-islamische Welt – von Montesquieu und Flaubert bis zu Bernard Lewis und Daniel Pipes. So sehr sich die Auswahl – und die Qualität – der Exponenten des Orientalismus verändern, ihre Ziele bleiben laut Said weitgehend identisch.
Diese These von der offenbar unwandelbaren Essenz des Orientalismus wurde und wird immer wieder kritisch kommentiert. Saids Interesse war deutlich stärker darauf gerichtet, die Kontinuität einer ideologischen Tradition und nicht deren Wandel zu erklären. Dennoch begriff er den Orientalismus als ein dynamisches und flexibles Deutungssystem mit sehr unterschiedlichen Ausdrucksformen, die jeweils einer bestimmten Epoche entsprechen. Für Said macht ihn genau diese Fähigkeit, die Tonlage je nach Kontext zu wechseln, zu einer unverwüstlichen und vitalen Ideologie.
Nach dem 11. September 2001 geriet die US-Regierung unter Präsident George W. Bush in ein orientalistisches Delirium. Die Kenntnisse von Raphael Patai, dem Experten der sogenannten arabischen Denkweise, wurden für die Foltertechniken in Abu Ghraib benutzt. In der Zeitschrift The Atlantic durfte sich der Orientalist Bernard Lewis über die „Wurzeln der muslimischen Wut“ auslassen. Und Journalisten reisten durchs Westjordanland, um die Gefühle der palästinensischen Selbstmordattentäter zu ergründen. Am leidenschaftlichsten aber war das Engagement für ein klassisches orientalistisches Desiderat: die Emanzipation der muslimischen Frauen von ihren gewalttätigen, irrationalen und herrschsüchtigen Männern.
In der Ära Bush verriet die Sprache des Orientalismus häufig – wenngleich nicht immer offen – einen Rassismus, der auf angebliche kulturelle Unterschiede rekurriert. Mit Verweis auf diese Unterschiede rechtfertigten etliche „Experten“ sowohl Militäreinsätze als auch eine kulturelle Bevormundung, die als „Demokratieförderung“ ausgegeben wurde.
Unter Barack Obama schien der Orientalismus an Einfluss zu verlieren. Der neue Präsident stellte anfangs klar, dass er kooperieren und nicht diktieren will. Er suchte die Öffnung gegenüber Iran und forderte das Ende der israelischen Besetzung des Westjordanlands. Aber selbst die Botschaft, die Obama in seiner viel gerühmten Kairoer Rede vom Juni 2009 aussandte, war durch ein orientalistisches Prisma gebrochen. Viele von Obamas nahöstlichen Adressaten hätten sich gewünscht, als Bürger ihrer Länder angesprochen zu werden statt als Muslime. Und zwar nicht nur, weil einige von ihnen Christen oder Atheisten waren.
Zwei Jahre später artikulierten die arabischen Rebellionen sehr viele Forderungen – nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, nach staatsbürgerlicher Gleichheit, nach Brot und Freiheit –, doch religiöse Forderungen waren nicht darunter. Der Arabische Frühling zerstörte zwar den orientalistischen Mythos von der Religion als der bestimmenden Kraft in der arabisch-islamischen Welt, doch zugleich bestätigte er auch eine andere Fantasievorstellung der Orientalisten: dass nämlich die Leute im Nahen Osten nichts anderes wollten, als „wie wir“ zu sein, und dass die „Differenz“ eine Anomalie sei, die irgendwann – dank Facebook und Google – verschwinden werde.
Dann kam der „Arabische Winter“. Seitdem haben der Aufstieg des IS und das Wiederaufleben des Salafismus dazu beigetragen, auf das alte Prisma des Orientalismus zurückzugreifen und das Dogma von der rigiden und unaufhebbaren Differenz zu reanimieren. Damit unterstützte man allerdings die Restauration der alten Regime, denn auch die arabischen und muslimischen Autokraten setzten auf die Wirkungen dieser verzerrenden Optik. Regime wie das von al-Sisi in Ägypten hatten ein offensichtliches Interesse an der Verbreitung der Vorstellung, dass die Bevölkerung eine strenge, patriarchalische Autorität brauche, wenn nicht sogar wünsche, und dass sie auf die Menschenrechte pfeife.
Das gilt noch stärker für den IS, der sich noch mehr als al-Qaida für Samuel Huntingtons These vom unvermeidlichen und apokalyptischen „Kampf der Kulturen“, zwischen der Ummaund den Ungläubigen begeisterte. Das zeigt auch, wie sehr der Orientalismus seit Langem schon eine Koproduktion ist, bei der allerdings nicht alle Mitwirkenden die gleiche Macht haben.
Obwohl sich der allgemeine Trend auch unter Donald Trump fortsetzt, hat es einen Bruch gegeben. Als ein System von Machtwissen speiste sich der Orientalismus stets auch aus dem Bedürfnis, zu „wissen“ – und nicht lediglich das „Andere“ zu konstruieren oder gar zu diffamieren. Zu der Expeditionsstreitmacht, die Napoleon 1798 nach Ägypten entsandte, gehörten 122 Wissenschaftler und andere Intellektuelle, darunter auch einige berufsmäßige Orientalisten. Die Geschichte des Orientalismus ist reich an Figuren, die sich als Westler orientalisch kostümierten, so als wollten sie der „Andere“ werden – und ihn nicht lediglich beherrschen.
Man denke etwa an T. E. Lawrence in seiner romantischen Wüstengewandung oder an das noch extremere Beispiel der Schweizerin Isabelle Eberhardt, die um die Wende zum 20. Jahrhundert in Männerkleidern in Algerien herumreiste und zum Islam übertrat. Eine modernere Version ist die Heldin der US-Filmserie „Homeland“: die CIA-Agentin Carrie Anne Mathison, die sich bei ihren Streifzügen über die arabischen Suks in eine Abaya kleidet.3
Das Wissen, das die westlichen Forscher und Spione sammelten, war allerdings nie nur ein interesseloser Erkenntnisgewinn. Es war stets ein Beitrag zum Aufbau von Kolonien, zu Eroberungskriegen oder zu „humanitären“ Interventionen. Im Prisma des Orientalismus erscheinen die gewaltsamen Eroberungen des Westens allerdings als einvernehmliches Zusammenwirken – nicht als Vergewaltigung, sondern als Verführung. Die Politiker verkauften sie als liberale, republikanisch-säkulare Projekte, deren eigentliches Ziel es sei, die „Anderen“ an die demokratischen Werte des Westens heranzuführen. Es ist kein Zufall, dass etwa die Kolonialpolitik Frankreichs ein Projekt der republikanischen Eliten war, während die klerikale Rechte die koloniale Expansion sehr viel zurückhaltender betrieb.4
Was die USA betrifft, so hatte jener Orientalismus, der die Irak-Invasion rechtfertigte, auch eine weichere Seite: Nach 9/11 verurteilte Präsident George W. Bush explizit die um sich greifende Islamophobie. Dagegen ist in der Ära Trump vom menschlichen Antlitz des Orientalismus fast nichts mehr übrig geblieben. Man könnte das für eine gute Nachricht halten, weil damit ja die Heuchelei ein Ende hat. Aber es gibt noch eine viel dunklere Seite.
2008 schrieb ich einen Text für die London Review of Books über einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Obsession“. Das Machwerk war sechs Wochen vor den Präsidentschaftswahlen als DVD an 28 Millionen US-Bürgerinnen und Bürger verteilt worden, als Gratisbeilage in 74 Zeitungen, vornehmlich in den Swing States. Finanziert hatte den Film der Multimilliardär Sheldon Adelson, der sein Vermögen vor allem in der Immobilienbranche von Las Vegas verdient hat und seit Langem die Likud-Partei und Benjamin Netanjahu publizistisch unterstützt. Die wichtigste Botschaft des einstündigen Streifens lautete, dass 2008 wie 1938 sei, nur noch schlimmer: Schließlich gebe es mehr Muslime auf der Welt als Deutsche; überdies seien sie geografisch weiter verbreitet. Deshalb seien die Muslime nicht nur eine feindliche ausländische Macht, sondern auch ein innerer Feind: „Sie sind nicht jenseits unserer Grenzen, sie sind hier.“
Meine damalige Polemik war bissig im Ton, aber im Grunde nahm ich den Film nicht besonders ernst; ich dachte, mit seiner reißerischen Machart würde er keine große Wirkung erzielen. Im Rückblick war das naiv. Denn „Obsession“ nahm genau die Art von Angst und Hass vorweg, die Trump dann zu einer mehrheitsfähigen Strategie machte – etwa mit seiner Einreisesperre für Bürger aus einigen muslimisch geprägten Staaten.
In der Trump-Ära dient der Orientalismus nicht mehr der Propagierung von Demokratie oder anderen „westlichen Werten“, denn an die glaubt man ohnehin nicht mehr, oder sie gelten sogar als lästiges Hindernis für effektive Machtausübung. Der neue Orientalismus artikuliert sich vielmehr in Form von „Deals“ auf der einen und in Gewalt und Repression auf der anderen Seite. Er hält arabische Diktatoren an der Macht und zornige junge Leute arabischer Abstammung in Haft.
Der neue Orientalismus ist, anders als der von Said analysierte, nicht mehr auf Experten wie Bernard Lewis und Fouad Ajami angewiesen. Was immer man von den beiden hält, sie waren Intellektuelle und haben Bücher geschrieben. Der „Orientalist“ von heute ist eher ein Zahlenfetischist, der FBI-Akten über Terrorismusverdächtige auswertet und daraus Radikalisierungstrends errechnet.
Der altmodische Orientalismus ist noch nicht gänzlich ausgestorben. Aber er ist für die Machthaber nicht mehr so nützlich, weil er auf einem gründlichen Quellenstudium beruht, wofür ein Präsident, der keine Bücher liest und von seinen Impulsen gesteuert wird, natürlich gar nichts übrig hat.
Das Internet und die sozialen Medien haben diejenigen, die früher als Experten galten, weitgehend ihrer Autorität beraubt. Und sie haben umgekehrt die Macht von Nichtexperten verstärkt, die ihre antiintellektuelle Einstellung als Tugend und sogar als Stärke darstellen. Diese Kritik des Sachverstands zeitigt bedenkliche Konsequenzen: Sie begünstigt Ignoranz, Intoleranz und Irrationalität, statt jenes von Said angestrebte Wissen zu ermöglichen, das sich dem Mainstream widersetzen könnte.
Der Orientalismus von heute, ob von Fox News oder von Steve Bannon, basiert nicht auf tendenziösen wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auf der völligen Abwesenheit von Wissenschaft. Sein Eurozentrismus speist sich aus einer Verschwörungstheorie, die Europa bedroht sieht: durch die muslimischen Gesellschaften und überhaupt durch alle „Shit hole“-Länder. Solche Ideen verbreiten sich nicht über Buchläden und Bibliotheken, sondern über Twitter, Facebook und das Dark Web.
Der Orientalismus der Islamisten
Was die Außenpolitik der USA in der Ära Trump betrifft, so hält sie sich – mit Unterstützung der konservativen Juden und vor allem der Evangelikalen – an die von Israel vorgegebene Strategie, was heißt: In ihrem Umgang mit Arabern und Muslimen setzt sie immer stärker auf militärische Macht.
Der antimuslimische Rassismus eines Trump ist zwar für einen US-Präsidenten beispiellos, für andere Weltgegenden jedoch keineswegs. Ähnlich stereotype Sprüche hört man in Frankreich, wo ein älterer, aus den Kolonialzeiten der Algérie française überkommener Diskurs gegenüber muslimischen Bürgern gang und gäbe ist. Die gelten selbst dann, wenn sie schon in der zweiten oder dritten Generation in Frankreich leben, als Immigranten, denen man kaum zutraut, sich zu integrieren und an die republikanischen Werte des französischen Laizismus anzupassen. Ähnliches hört man auch in Dänemark, Ungarn, Italien und Deutschland – und überhaupt in allen Ländern, wo die Vorstellung von einer „Festung Europa“ Fuß gefasst hat.
Es ist der Orientalismus einer neuen Ära, in der der politische Liberalismus westlicher Prägung in eine tiefe Krise geraten ist und durch alle möglichen Ängste noch verschärft wird: die Angst vor Flüchtlingen, vor unsicheren Grenzen, vor Terroristen und – natürlich – vor der nächsten Wirtschaftskrise.
Dieser Krisen-Orientalismus ist kaltherzig, rachsüchtig und häufig grausam: ein Orientalismus der Mauern – und nicht der neugierigen Grenzüberschreitung –, getrieben von Hass und nicht von Faszination. Angesichts dieser integrationsfeindlichen, islamophoben Form des heutigen Orientalismus könnte man direkt eine nostalgische Sehnsucht nach dem alten, dem lyrisch-romantischen Orientalismus entwickeln, der sich noch als Brücke zwischen Ost und West imaginierte.
Die orientalistischen Töne gegenüber den Muslimen werden immer feindseliger, je mehr „Osten“ sich innerhalb „des Westens“ ansiedelt. Es handelt sich also weniger um einen „Kampf der Kulturen“ als um das Zusammentreffen zweier sich überlappender Krisen. Das ist zum einen die Krise des westlichen neoliberalen Kapitalismus, die Fragen der Identität und der Staatsbürgerrechte brisanter und kontroverser gemacht hat; zum anderen der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in einigen Regionen des Nahen Ostens, der zu neuen Fluchtbewegungen geführt hat.
Das Ergebnis ist eine Wechselwirkung zwischen zwei Formen von Identitätspolitik, die sich gegenseitig verstärken. Wobei sowohl der westliche Rechtspopulismus als auch der dschihadistische Islamismus bis zur Karikatur verzerrte orientalistische Vorstellungen des muslimischen Ostens repräsentieren.
Der Orientalismus, den Said vor 40 Jahren beschrieben hat, war ein Instrument der Geopolitik. Er war das „Wissen“, das der Westen im Zeitalter der Imperien und des Kolonialismus brauchte. Der Orientalismus von heute zielt hingegen auf die fragilen innenpolitischen Strukturen und bedroht damit die Grundlagen der innerstaatlichen Koexistenz insbesondere in Europa und in den USA.
Das Menschenbild, das dieser neue Orientalismus im Westen hervorbringt, ist nicht das von Bürgerinnen und Bürgern, die den Grad ihrer Freiheit oder ihrer Vernunft unter anderem daran bemessen, dass es „im Osten“ um diese Werte schlecht bestellt ist. Das dominante Menschenbild von heute ist das eines gekränkten weißen Mannes, der sich, mit dem Finger am Abzug, gegen die Barbaren behaupten muss, die schon in seine Festung vorgedrungen sind. Er ist nicht Lawrence von Arabien, nicht einmal der stille Amerikaner, sondern Dirty Harry.
Das klingt alles sehr düster. Aber gegen diesen Orientalismus von heute regt sich auch ein beachtlicher Widerstand, der sich etwa in der Rebellion in Algerien und im Sudan äußert und die anhaltende Wirkungskraft demokratischer Werte gegenüber der autoritären Restauration bezeugt. Oder in der wachsenden Opposition gegen die israelische Besatzungspolitik, die sich auf dieselben Gerechtigkeitsideale beruft wie der Antiapartheidkampf gegen das einstige Regime in Südafrika.
Bemerkenswerte Beispiele finden sich auch in den Künsten. Etwa in der Musik des tunesischen Oud-Virtuosen Anouar Brahem, der zahlreiche Alben mit westlichen Jazzmusikern aufgenommen hat, oder das Free Palestine Quartet des New Yorker Komponisten John King, bei dem jeder der 15 Sätze, die auf arabischen Motiven und rhythmischen Figuren beruhen, einer der 1948 zerstörten Ortschaften gewidmet ist.
In der Belletristik ist Mathias Énards Roman „Compass“5 der wohl ambitionierteste Versuch, das repressive Erbe des Orientalismus zu überwinden – und zwar paradoxerweise, indem er die orientalistische Tradition selbst thematisiert. Der Versuch ist freilich nicht ganz gelungen, was vor allem daran liegt, dass das entscheidende Kapitel des französischen Orientalismus nicht vorkommt: Über die Kolonisierung Algeriens schweigt sich Énard auf merkwürdige und vielsagende Weise aus.
An derselben Schw äche leiden auch neuere europäische Filme, die das „Andere“ thematisieren. In „Happy End“ (2016) lässt der österreichische Filmemacher Michael Haneke die Flüchtlinge von Calais nur kurz auftreten, um an das privilegierte Leben und die Heuchelei des Westens zu erinnern, aber er gibt ihnen keine Namen. „Das unbekannte Mädchen“ von den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne handelt von der Gewissenskrise einer jungen belgischen Ärztin, die mit dem Tod einer jungen afrikanischen Prostituierten konfrontiert wird. Auch hier ist die Figur der muslimischen Afrikanerin passiv angelegt: ein handlungsunfähiges Opfer und bloßes Objekt von Mitleid oder Verachtung.
Eine bemerkenswerte Ausnahme ist „Die andere Seite der Hoffnung” von Aki Kaurismäki (2017). Der Film handelt von dem jungen syrischen Flüchtling Khaled, der sich in Finnland vor den Behörden verstecken muss. Das gelingt ihm mit Hilfe einer Gruppe von Finnen, die aus Solidarität und nicht aus Mitleid handeln. Aber Khaled wird auch von einer neofaschistischen Gang verfolgt. Er ist entschlossen, der Held seiner eigenen Geschichte zu werden, der für sich und seine Schwester ein neues Leben in der neuen alten Welt von Europa aufbauen will. Wobei er die Unterstützung seiner finnischen Freunde nur als Beziehung unter Gleichen akzeptiert.
Kaurismäki ist als Filmemacher zu ehrlich, als dass er seiner Hauptfigur ein Happy End zugestehen würde. Aber anders als Haneke lässt er sich auf die Perspektive des „muslimischen Anderen“ ein und ermöglicht uns damit, eine leise Ahnung zu entwickeln, wie eine Welt jenseits des Orientalismus aussehen könnte.
Edward Said beanspruchte nicht das letzte Wort über den Orientalismus. Aber seine Warnung vor einer „verführerischen Degradierung des Wissens“ ist heute noch so angebracht wie damals. Und wenn wir sehen, wie die Trump-Regierung ihre Kampagne gegen die Islamische Republik Iran ausweitet – mit einem Finanzembargo und militärischen Drohungen –, finden wir Saids Befund über die Funktion von Machtdiskursen voll bestätigt. Trump selbst mag zwar auf einen Krieg gegen Iran nicht so versessen sein wie sein Sicherheitsberater John Bolton, aber auch er hat über Twitter gedroht: „If Iran wants to fight, that will be the official end of Iran.“
Für die USA bleibt Krieg so lange eine verführerische Option, solange die arabisch-muslimische Welt nicht als komplexes, aus unterschiedlichen Gesellschaften bestehendes Gebilde wahrgenommen wird, sondern als eine „böse“ Weltregion voller iranischer Mullahs und arabischer Diktatoren, palästinensischer Terroristen und IS-Dschihadisten.
Said hat dem Orientalismus sowohl menschliches als auch intellektuelles Versagen bescheinigt: „Da sich die Orientalistik in eine unnachgiebige Opposition gegenüber einer als fremdartig eingestuften Erdregion begab, konnte sie sich mit der dortigen menschlichen Erfahrung weder identifizieren noch diese als eine solche begreifen.“6 Wenn uns der „globale Krieg gegen den Terror“ seit 2001 eines gelehrt hat, so dieses: Der Weg in die Barbarei beginnt mit diesem Versagen.
2 Said, „Orientalismus“, siehe Anmerkung 1, S. 11.
3 Siehe Pierre-Jean Luizard, „La République et l’Islam“, Paris (Tallandier) 2019.
5 Deutsche Ausgabe: „Kompass“, München (Piper) 2018.
6 Said, „Orientalismus“, siehe Anmerkung 1, S. 376.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Adam Shatz ist Redakteur und Autor bei der London Review of Books.
© Adam Shatz; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin.