Was erbt eine Frau?
In Tunesien scheitert ein bahnbrechendes Gesetzesvorhaben
von Akram Belkaïd
Am 13. August feiert Tunesien den „Tag der Frau“. Es ist der 63. Jahrestag, an dem Präsident Bourguiba 1956 das Personenstandsgesetz (CSP) verkündete, das unter anderem Zwangsheiraten und Polygamie verbot und Frauen die Scheidung erleichterte. Dank des CSP, das immer wieder nachgebessert wurde, ist die Gleichstellungspolitik in Tunesien fortschrittlicher als in vielen anderen Ländern der Region – außer im Erbrecht.
In Tunesien gilt nämlich auch der Koran als Quelle der Rechtsprechung, und die besagt, dass die Frau, auch wenn sie mit dem Erblasser genauso verwandt ist wie der Mann, nur halb so viel erbt. Selbst der autoritäre Bourguiba traute sich seinerzeit nicht, daran zu rütteln. Dem ersten Präsidenten des unabhängigen Tunesien war es zwar mithilfe der Schriften des Reformtheologen Tahar Haddad (1899–1935) gelungen, das Verbot der Polygamie mit theologischen Argumenten zu rechtfertigen. Doch beim Erbrecht kam er mit seiner fortschrittlichen Idschtihad (Exegese), die von den Konservativen und Islamisten bis heute kritisiert wird, nicht weiter.
Hier gibt es im Koran keinen Spielraum für Interpretationen: „Allah schreibt euch vor hinsichtlich eurer Kinder, dem Knaben zweier Mädchen Anteil zu geben.“1 Bourguiba verkündete seinerzeit, gegen diese Bestimmung anzugehen, sei ein „ungleicher Kampf“, man könne nicht „mit dem Willen Gottes konkurrieren“. Auch Präsident Ben Ali erklärte bei seinem Staatsbesuch in Frankreich im Oktober 1997, dass ihm in dieser Frage genauso die Hände gebunden seien wie seinem berühmten Vorgänger.
Im vergangenen Jahr nutzte Tunesiens kürzlich verstorbener Präsident Beji Caid Essebsi die Feiern zum 13. August, um das Thema Gleichstellung in der Erbschaft wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Er reagierte damit auf die Empfehlungen der Kommission für individuelle Freiheit und Gleichheit (Colibe), die er selbst im August 2017 eingesetzt hatte. Einige Forderungen der Kommission umschiffte Essebsi geschickt, wie die Entkriminalisierung der Homosexualität oder die Abschaffung der Todesstrafe. Aber auf eine der wichtigsten Empfehlungen der Colibe reagierte der Präsident positiv: Er versprach einen „Gesetzentwurf für die Gleichheit von Mann und Frau bei Erbschaften“.2
Seinen Vorstoß rechtfertigte Essebsi mit dem Verweis auf die Verfassung von 2014, die die Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf ihre Rechte und Pflichten festschreibt. Von den Islamisten wurde seine Initiative scharf kritisiert; ihre Partei Ennahda verkündete, sie „lehne jeden Gesetzestext ab, der dem Koran widerspricht“. Dennoch wurde der Entwurf im November 2018 vom Kabinett angenommen und an die Parlamentsabgeordneten zur Prüfung weitergeleitet.
Der Gesetzentwurf war ein Novum in der arabischen, aber nicht in der muslimisch geprägten Welt. Die Türkei hat sich in Bezug auf das Erbrecht schon 1923 vom islamischen Recht gelöst, und in Iran stimmt das Parlament 2004 für ein dem tunesischen Entwurf vergleichbares Gesetz – das jedoch wegen des Widerstands des Wächterrats nie umgesetzt wurde.
Nachdem Essebsis Initiative mit viel Tamtam und großer internationaler Medienaufmerksamkeit gestartet war, ist sie mittlerweile offenbar im Limbus der parlamentarischen Debatten stecken geblieben. Nach Meinung mehrerer Abgeordneter ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Gesetzentwurf noch vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst zur Abstimmung kommt. Das mag auch daran liegen, dass die Frage der Gleichstellung im Erbrecht angesichts der aktuellen Probleme in den Hintergrund rückt: Tunesien steckt in einer ernsten Wirtschaftskrise, die Terroranschläge haben wieder zugenommen. Vor allem sehen viele durch den Tod des 92-jährigen Präsidenten, der als Integrationsfigur galt, die politische Stabilität des Landes gefährdet.
Ibtisseme N. aus Sfax, Anfang 30, verbeamtet und unverheiratet, hat schon vor einem Jahr aufgehört, sich für die Debatten und Grabenkämpfe zu interessieren, die Essebsis Gesetzesvorhaben in der tunesischen Gesellschaft ausgelöst hat. Sie hält den Entwurf für fehlerhaft, denn auch das neue Gesetz schließe nicht aus, dass man „im Testament eine Aufteilung festlegt, wie sie der Koran vorsieht“.
Ibtisseme ist eine Anhängerin des Menschenrechtsaktivisten und Mediziners Moncef Marzouki, der von 2011 bis 2014 Interimspräsident war; die Gesetzesinitiative hält sie für ein politisches Manöver: „Die Leute täuschen sich, wenn sie denken, dass der Präsident das emanzipatorische Werk Bourguibas vollenden wollte. Sein oberstes Ziel war es, das Bündnis zwischen dem Ministerpräsidenten und den Islamisten zu sabotieren.“ Youssef Chahed, der seit Ende August 2016 im Amt ist, hat sich nach und nach vom Gängelband des Präsidenten gelöst. Er weigerte sich, die Ambitionen von Essebsis Sohn Hafedh zu unterstützen, und gründete mit Taya Tounes („Lang lebe Tunesien“) sogar eine eigene Partei.
„Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass das Gesetz durchkommt“, meint Ibtisseme. Die tunesische Gesellschaft sei noch nicht bereit, einen solchen Bruch zu akzeptieren. Als Beleg führt sie ihre eigene Erfahrung an. Als 2015 ihr Vater, der da schon Witwer war, starb, erbten ihre beiden Brüder mehr als sie. „Rechtlich gesehen haben sie mich nicht beraubt. Sie haben einfach das Doppelte bekommen, entsprechend dem Gesetz, auch vom Erlös aus dem Verkauf von Haus und Land.“ Ihre beiden Brüder seien gebildet, politisch links und gegen die Islamisten, sagt Ibtisseme. „Aber sie haben sich auf die Tradition berufen und sich geweigert, das Erbe zu dritteln. Ich hab danach den Kontakt zu ihnen abgebrochen.“
Eigentlich hindert nichts die männlichen Erben daran, nach dem Tod der Eltern einer anderen, gerechteren Aufteilung des Erbes zuzustimmen. Es ist durchaus möglich, von der Scharia abzuweichen; aber das geschieht nur selten. Das liege daran, dass es bei Erbangelegenheiten um zwei neuralgische Punkte gehe, meint die Historikerin und Journalistin Sophie Bessis: „Das Geld und den Fortbestand der patriarchalen Ordnung.“
Laut Koran bekommen Männer das Doppelte
Seit Jahrhunderten und sogar noch vor der Ankunft des Islam in Nordafrika zielten die Erbschaftsregelungen darauf ab, die Männer zu begünstigen und dadurch den Besitz in der Familie beziehungsweise im Clan oder im Stamm zu halten. Die Psychiaterin und Autorin Fatma Bouvet de la Maisonneuve meint, an der Erbschaftsfrage hänge ein ganzer Rattenschwanz von Tabus. Eines davon habe mit der Religion zu tun: „Die Religiösen und Frömmler beziehen sich immer wieder auf einschlägige Korantexte, die niemand öffentlich infrage zu stellen wagt. Als Ausflucht wird dann die Hoffnung geäußert, es werde eine Weiterentwicklung geben, anstatt auf dem Vorrang des Rechts und der Forderung nach Gleichheit zu bestehen.“
Ein weiteres Tabu führt laut Bouvet de la Maisonneuve dazu, dass keine Gegenmaßnahmen und vorsorgenden Regelungen getroffen werden, wodurch Ehefrauen, Töchter oder Schwestern zum Zeitpunkt des Erbes nicht benachteiligt werden würden. Im Islam gebe es schließlich kein ausdrückliches Verbot von Testamenten, Schenkungen oder Gütergemeinschaften. Und doch „gibt es nur wenige Personen, die Vorkehrungen treffen, um schwierige Situationen für ihre weiblichen Erbberechtigten zu verhindern“, erklärt man uns in der tunesischen Notarkammer. Solche Vorkehrungen setzten nämlich voraus, dass man zu Lebzeiten der Eltern oder des Ehemanns über deren Nachfolge spricht.
Viele Tunesier, die man auf dieses Thema anspricht, meinen, solche Regelungen seien nicht im Einklang mit der Religion. „Sie sagen: ‚So etwas machen wir bei uns nicht‘ “, erklärt Bouvet de la Maisonneuve. „Manche Familien, die wollen, dass ihre Tochter einen gleichgroßen Anteil bekommt, treffen ihre Vorkehrungen deswegen im Geheimen.“ Es kommt vor, dass eine notariell beglaubigte Schenkung oder gerechte Erbteilung ohne Wissen der Söhne hinterlegt wird – was zu endlosen Rechtsstreitigkeiten führen kann.
Manchmal sind sogar die Frauen selbst gegen eine gerechte Teilung des Erbes. „Meine Frau will nicht, dass ich eine Schenkung zu gleichen Teilen für unseren Sohn und unsere beiden Töchter mache“, erzählt ein tunesischer Intellektueller, der anonym bleiben möchte. „Sie meint, dass dadurch ‚ihr Junge‘ beraubt würde. Ihrer Meinung nach können die Mädchen ja auf ihre Ehemänner zählen.“ Bei einem Gespräch im September 2017 erzählte uns die Feministin, Abgeordnete und Colibe-Vorsitzende Bochra Belhaj Hmida, dass es extrem schwierig sei, selbst die gebildetsten Tunesier davon zu überzeugen, dass die Reform des Erbrechts eine Notwendigkeit für das Wohl der gesamten Gesellschaft sei und für den Kampf gegen die Armut, von der Frauen viel mehr als Männer betroffen sind.
Viele Tunesier, die die Gleichstellung in Erbangelegenheiten eigentlich befürworten, weisen auf die Konsequenzen hin, die eine solche Reform nach sich ziehen würde. Und wenn man die islamischen Rechtsgelehrten (Ulema) nach den Gründen für diese krasse Ungleichheit fragt, erklären sie, dass der Islam zur Zeit seiner Entstehung dazu beigetragen habe, die Stellung der Frau zu verbessern, indem er ihnen unter anderem erlaubte, überhaupt zu erben. Das war damals unter der Bevölkerung der Arabischen Halbinsel nicht immer der Fall. Die Halbteilregel sei außerdem gerechtfertigt durch die Belastungen, vor allem finanzieller Art, die mit der gesellschaftlichen Rolle des Mannes einhergingen: Ein neues Erbrecht müsste an eine grundlegende Reform auch des Status des Mannes als „Familienoberhaupt“ gekoppelt werden – laut Gesetz ist der Mann dazu verpflichtet, für den Unterhalt der gesamten Familie zu sorgen.
Es ist allerdings fraglich, ob die tunesischen Männer bereit sind, diese dominante Rolle aufzugeben, obwohl sie mit finanziellen Lasten und Verpflichtungen verbunden ist. Auch hier erweisen sich die alten patriarchalen Reflexe als überaus zählebig – und das gilt wie gesagt nicht nur für die Islamisten.
Die beharren indes darauf, dass allein die Anwendung der Scharia es auch heute noch ermögliche, den älteren frauenfeindlichen Traditionen systematischer Beraubung entgegenzutreten. Im ländlichen Milieu ist es nämlich nicht unüblich, dass Frauen gar kein Land erben oder über Land nicht verfügen können, weil die Felder de facto zu einem zusammenhängenden größeren Gebiet gehören, das von den Männern der Familie bewirtschaftet wird. Zudem haben sie nicht immer die Nerven oder die Mittel, um sich gegen ihre Benachteiligung juristisch zur Wehr zu setzen.
Frauen sind auch in Oberägypten oder Algerien, dort vor allem in der Kabylei, von Erbschaften ausgeschlossen.3 In Marokko zwingt der sogenannte taasib – eine Praxis, die seit 1956 in Tunesien verboten ist – Frauen ohne Brüder dazu, ihren Erbteil mit anderen männlichen Verwandten zu teilen. Diese Praxis ist weit verbreitet, obwohl es im islamischen Recht keinerlei Grundlage dafür gibt. Und in Jordanien stehen alle Frauen, auch wenn sie keine Musliminnen, sondern Christinnen sind, unter massivem sozialen Druck, auf ihr Erbteil zu verzichten – um ihre Brüder „nicht zu benachteiligen“.4 In solchen Fällen erhalten die Reformer, die für eine Gleichstellung der Geschlechter kämpfen, unverhoffte Hilfe durch die Fundamentalisten, die eine strikte Anwendung der islamischen Gesetze fordern.
Die Ankündigung der tunesischen Gesetzesinitiative im August 2018 löste eine Schockwelle in ganz Nordafrika aus. In Ägypten sah sich die Al-Azhar-Universität genötigt, zu verkünden, dass eine solche Reform eine „krasse Verletzung der islamischen Gebote“ darstelle. Auf der anderen Seite sorgte die marokkanische Theologin Asma Lamrabet für heftige Diskussionen, als sie die Möglichkeit einer Neuinterpretation der Suren ins Feld führte.5
Inzwischen hat sich der Sturm gelegt. Und nichts spricht dafür, dass sich der nächste Präsident der Sache in besonderer Weise annehmen wird. Die Entscheidung liegt ohnehin beim Parlament. Mit der Verschleppung eines bahnbrechenden Gesetzesvorhabens hat Tunesien vielleicht eine historische Chance vertan, dem Kampf um die Gleichberechtigung in der arabischen Welt neues Leben einzuhauchen.
Aus dem Französischen von Jakob Farah