08.08.2019

In der roten Zone

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In der roten Zone

In Kolumbien trat 2016 das Friedens­abkommen mit der Farc-Guerilla in Kraft. Seitdem wurden landesweit hunderte Aktivisten und frühere Kämpfer ermordet. Und im ehemaligen Farc-Gebiet Catatumbo kämpfen Guerillagruppen, Drogenkartelle und Armee um die Vorherrschaft.

von Loïc Ramirez

Lager La Carmelita, Südkolumbien NADÈGE MAZARS/Hans Lucas
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Tibú im Nordosten Kolumbiens, nahe der Grenze zu Venezuela. Eine Explo­sion reißt die Bewohner aus dem Schlaf. Es ist die dritte innerhalb weniger Wochen. Wie schon mehrmals zuvor gilt der Angriff einer Überwachungskamera der Polizei. Der Mast, auf dem die Kamera montiert war, bohrt sich in das Dach eines Hauses. „Hoffentlich hattet ihr keine Angst“, sagt man uns. „Sie fällen die Masten, weil die Geräte selbst gepanzert sind. Die können sie nicht einfach durch Schüsse zerstören.“ „Wer ist ‚sie‘?“ Keine Antwort. Am Morgen hört man von den Leuten auf den Straßen: „Die Guerilla hat letzte Nacht schon wieder eine Kamera in die Luft gejagt.“

Die Stadt Tibú im Departamento Norte de Santander liegt in der zona roja – der gefährlichen roten Zone. Hier ist der zwischen der Regierung und der Farc ausgehandelte Frieden1 nicht angekommen. An jeder Ausfallstraße kontrollieren Soldaten den nie endenden Strom von Bussen und Motorrädern. Die Menschen fahren vorbei, ohne sie anzublicken, zu zweit, zu dritt oder sogar zu viert auf einem Motorrad. Die Lautsprecherboxen der Läden und Restaurants plärren irgendwelche folkloristische Musik, die sich mit dem Motorengedröhn vermischt.

Tagsüber patrouillieren Lkws durch die Straßen, auf den Ladeflächen Polizisten mit kugelsicheren Westen und Sturmgewehren. Nachts zeigt das blinkende Licht einer Drohne an, dass die Staatsgewalt die rote Zone rund um die Uhr überwacht – allerdings aus sicherer Entfernung, denn die Nacht gehört in diesem Viertel den Milizen der Guerilla.

Doch diese zivilen Guerilleros bleiben unsichtbar, weil sie sich unter das nächtliche Publikum mischen, das in den Billardsalons und Bars herumlungert: venezolanische Prostituierte, durch den Krieg vertriebene Bauern, fliegende Händler. Wie soll man wissen, wer von ihnen für das umfassende Informantennetz der Aufständischen arbeitet? „Der Typ, der da auf dem Boden hockt, könnte einer von ihnen sein“, unkt mein Kontaktmann. „Eines ist klar: Seit du aus dem Bus gestiegen bist, wirst du beobachtet.“

Wenige Tage zuvor wurden zwei junge Männer ermordet, die angeblich Mofas gestohlen hatten. „In Tibú ist es unmöglich, etwas zu stehlen. Das heißt aber nicht, dass es niemand versuchen würde“, meint Fabian Contreras von der Menschenrechtsorganisation Fundación Progresar (Stiftung Fortschritt). „Die Guerilla demonstriert ihre Präsenz durch die soziale Kontrolle, die sie über die Bevölkerung ausübt. Das wird ihr leicht gemacht, weil sich der Staat nicht sehen lässt.“ Die Region Catatumbo sei zwar reich an Bodenschätzen, aber arm an Investitionen. „Und staatliche Infrastrukturen gibt es so gut wie gar nicht“, sagt Contreras, und dann nach einem kurzen Blick über die Schulter: „Die Leute können sagen, was sie wollen: In Wahrheit hat hier die Guerilla das Sagen.“

Man sieht weder Uniformen noch Waffen noch Fahnen. „Wussten Sie, dass die CIA über Gesichtserkennungssysteme verfügt?“, fragt uns Jairo. „Wegen der neuen Technologien müssen wir unsere Sicherheitsmaßnahmen verstärken.“ Der knapp 30-jährige Mann gehört zum Netz der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) in der Stadt. Sein richtiger Name und der Ort unseres Treffens muss ungenannt bleiben. Den Kontakt hat uns eine Gruppe von Rebellen vermittelt. Sie alle stehen mit einem Fuß in der Legalität, mit dem anderen im bewaffneten Kampf.

„Die ELN hat sich vom Farc-Modell des offenen Kriegs distanziert. Sie wollen sich nicht zu einer Armee entwickeln“, erklärt Carlos Medina Gallego, Dozent und Forscher an der staatlichen kolumbianischen Universität in Bogotá. Die Guerilla der ELN haben ein Modell entwickelt, das sie den „fließenden Krieg“ nennen: „Keine Front, keine Operationszone, auch keine verwalteten Gebiete. Aber in den Gegenden, in denen die Guerilla aktiv ist, übt sie die Kontrolle über die Bevölkerung aus: „Sie erhebt Steuern, nominiert die Kandidaten für die Wahlen, unterwandert die gesellschaftlichen Organisationen.“

Was die militärische Seite betrifft, so unterhält die ELN ihre Camps, wo sich auch ihre Kommandeure aufhalten. Aber ihre Kerntruppe besteht aus Spezialeinheiten, die Aktionen gegen militärische, politische und wirtschaftliche Ziele unternehmen. Ihre Mitglieder nennen sich mili­cia­nos (das Wort für städtische Kämpfer), doch laut Gallego sind diese Milizionäre unsichtbar: „Sie gehen völlig in der Bevölkerung auf.“

Das trifft auch auf Jairo zu. Der junge Freiberufler tritt stets in kurzen Hosen und Basketballschuhen auf, nichts lässt auf seine anderen Aktivitäten schließen. Der Name ELN kommt ihm nicht über die Lippen, er spricht einfach von der „Organisation“.

Die ELN wurde 1964 unter dem Eindruck der Kubanischen Revolution von einer Gruppe kolumbianischer Studenten gegründet, die zur militärischen Ausbildung nach Kuba gingen. Die Organisation entwickelte sich innerhalb Kolumbiens rasch zu einem wichtigen Akteur, stand allerdings im Schatten von Guerillagruppen, die mächtiger waren (wie die Farc) oder spektakulärere Aktionen unternahmen (wie die M-19). Seit die Regierung in Bogotá und die Farc 2016 nach vierjährigen Verhandlungen einen Friedensvertrag unterschrieben haben, ist die ELN die älteste aktive Guerilla in Kolumbien.

Auch die ELN hat Gespräche mit der Regierung begonnen, die aber nach dem Bombenanschlag vom 17. Januar 2019 auf die Polizeischule von Bogotá abgebrochen wurden. Die ELN bekannte sich zu dem Attentat, bei dem mitten in der Hauptstadt 22 Offiziersschüler in den Tod gerissen wurden.

Ex-Guerilleros machen Lokalpolitik

Trotz dieser Machtdemonstration beschränkt sich der Einfluss der Organisation nach wie vor auf einige wenige Regionen des kolumbianischen Staatsgebiets. Zudem ist die ELN in den Me­dien weniger präsent als die militärisch weitaus stärkere Farc, weshalb ihr politisches Gewicht jenseits ihrer Einflusszonen viel geringer ist. Für Beobachter wie Medina Gallego kommt die Guerilla des Nordens deshalb der Regierung in Bogotá wie gerufen: „Die ELN ist für den Staat ein willkommener Gegner. Sie dient ihm zur Rechtfertigung für seine Politik der Repression. Die ELN ist für die Regierung keine Bedrohung, sie ist ihr vielmehr von Nutzen.“

Eine über die Straße gespannte Kette markiert die Zollstation auf der Ausfallstraße, die aus Tibú herausführt. Für einen Peso senkt der junge Mann, der gerade Dienst hat, die Kette auf den Sandboden ab. „Dieser Wegzoll ist für die Kämpfer“, teilt man uns mit. Für welche genau, erfahren wir nicht. Aber jetzt haben wir freie Fahrt. Mit dem Motorrad preschen wir auf unbefestigter Piste, die sich durch die üppige Vegetation des Dschungels schlängelt. Nach einer gefühlten Ewigkeit mündet die Piste in eine noch im Bau befindliche Asphaltstraße, die einmal Tibú mit Cúcuta, der Hauptstadt des Departamento, verbinden soll.

„Ihr benutzt den Landweg? Und das mitten in Catatumbo?“ Der Armeeoffizier, der an einem Checkpoint unsere Ausweise sehen will, flippt fast aus. „Wisst ihr nicht, dass das hier Kriegsgebiet ist? Ihr könntet gekidnappt werden.“ Der Staat möchte Präsenz zeigen, bis vor Kurzem war er in dieser Enklave an der Grenze zu Venezuela nicht zu sehen. Jetzt hofft die Regierung, dass die neue Straße den Kampf gegen die bewaffneten Gruppen – Guerilla, Paramilitärs und Drogenbanden – erleichtern wird. Die zur Sicherung der Baustelle abkommandierten Soldaten werden immer wieder von der ELN angegriffen, die in dieser Region besonders aktiv ist. Einige Tage zuvor hatten ihre Kämpfer zwei Sprengfallen gelegt.

Politische Rivalitäten werden in dieser Gegend immer noch mit Gewalt ausgetragen. „Man hat uns bedroht“, sagt Mario, Anführer einer kleinen Gruppe kommunistischer Aktivisten, die der Farc nahesteht. Mario und seine Leute bereiten sich auf die Kommunalwahlen im Oktober vor. Bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 votierte diese Region mehrheitlich für den rechten Hardliner Iván Duque. „Wir wissen aus sicherer Quelle, dass man Leute sucht, die uns die Haare schneiden sollen.“ Haare schneiden? „Uns umbringen“, präzisiert Mario. „Aber auch wir haben Freunde, die zurückschlagen können. So können wir wenigstens den Status quo erhalten.“

Die Vielfalt der aktiven bewaffneten Gruppen ist groß: Militärs, Paramilitärs, Guerillas, Narcos, zu denen neuerdings auch Ex-Kämpfer zählen. Es sind mindestens ein Dutzend Gruppen, die sich als potenzielle Partner für die lokalen politischen Bewegungen anbieten. Das führt mitunter zu völlig abwegigen Bündnissen. Mario nennt ein Beispiel: „Die ehemals maoistische Guerillagruppe EPL macht gemeinsame Sache mit einigen Paramilitärs, deren Leute bei den Wahlen kandidieren.“

EPL bedeutet Ejército Popular de Liberación und ist die Abkürzung für Volksbefreiungsarmee. Der ideologische Kompass ist verloren gegangen, sagt Mario: „Früher lag jede Guerilla auf der politischen Linie der revolutionären Partei, der sie nahestand. Die Farc stützte sich auf die Kommunistische Partei, die EPL auf die Marxisten-­Leninisten und die ELN auf Organisationen wie die Bewegung ¡A Luchar!. Das ist alles vorbei. Es gibt keine politische Arbeit mehr. Das sieht man ja am Wahlergebnis, das die Farc-Partei erzielt hat.“

Die neue politische Plattform, die den Namen Farc adoptiert hat – was aber Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común (Alternative Revo­lu­tio­näre Kraft des Volkes) heißt –, erreichte bei den Parlamentswahlen 2018 landesweit lediglich 49 170 Stimmen, das sind 0,34 Prozent. „Das Problem der Farc ist, dass sie jetzt merkt, welch ein Unterschied es ist, Politik mit der Waffe oder ohne zu machen. Die Überzeugungskraft ist nicht dieselbe.“

Eine der nationalen Galionsfiguren der neuen Farc-Partei, die frühere Kämpferin Gloria Martínez, wurde vor einigen Monaten in ihrem SUV von früheren Kameraden gestoppt, die zu den Farc-Dissidenten gehörten. Die entwaffneten ihre Leibwächter und ließen sie dann alle wieder laufen. „Sie wollten ihr eine Lektion in Sachen Demut erteilen“, meint der Mann, der uns die Episode erzählt. „Sie war ihnen zu arrogant geworden – mit ihrem gepanzerten Fahrzeug, ihrer Eskorte und ihrem neuen Status als Politikerin. Und natürlich hat ihnen auch missfallen, dass das alles vom Staat bezahlt wird, der ja noch immer als Gegner gilt!“

William Ferrer Ortiz schloss sich der Farc als 17-Jähriger an. Er hatte seine Eltern früh verloren und war bei seinen Großeltern im Bezirk Catatumbo aufgewachsen. „Ich bin wegen den Rechten zum Guerillakämpfer geworden“, sagt er heute. Ende der 1990er Jahre hatte er erlebt, wie paramilitärische Gruppen blindwütig Massaker verübten und Menschen aus ihren Dörfern vertrieben, damit die mächtigen, von wechselnden Regierungen unterstützten Familien der Großgrundbesitzer sich Tausende Hektar Land aneignen konnten. William und seine Großeltern mussten ihren Bauernhof aufgeben und wurden ins Elend gestürzt. Der junge Mann sah nur einen Ausweg: den Dschungel. 19 Jahre lang kämpfte er in den Reihen der Farc-Einheit Front 33.

2017 legte William, wie viele seiner früheren Kameraden, die Waffen nieder. Die wurden an UN-Vertreter übergeben, nachdem sich die ehemaligen Kampfgruppen in einer der 24 Regruppierungszonen niedergelassen hatten, die der Friedensvertrag vorsah. In diesen „Gebietseinheiten zur Ausbildung und Wiedereingliederung“ (ETCR) errichteten die Ex-Guerillakämpfer neue Siedlungen, wobei das Baumaterial vom kolumbianischen Staat und von Ländern wie Norwegen stammt, die den Friedensprozess als offizielle Beobachter begleiten.

In den Siedlungen, die den Übergang ins zivile Leben ermöglichen sollen, gibt es allerdings Probleme mit dem Trinkwasser und der Stromversorgung. Zudem sind die Bewohner von der Außenwelt isoliert. William erzählt, wie er die Umsiedlung erlebt hat: „Wir kamen im Februar 2017 in der Regruppierungszone an. Kaum hatten wir der UNO unsere Waffen übergeben, ging es rapide bergab. Auf einmal galten die militärischen Regeln der Organisation nicht mehr. Weil keine Sanktionen mehr drohten, wollten sich manche nicht mehr an den Gemeinschaftsaufgaben – etwa in der Küche – beteiligen, darunter auch ehemalige Offiziere.“

Und so kehrten nach und nach viele Leute aus den neuen Siedlungen in die Städte oder zu ihren Familien zurück. Auch William lebt inzwischen in Cúcuta bei den Eltern einer Lehrerin, in die er sich verliebt hat. Und er hat sogar Arbeit gefunden „Die Guerilla hat mir Leistungswillen beigebracht. Ich kann jede Art von Aufgabe übernehmen. Was ich im Dschungel gelernt habe, hilft mir beim Überleben in der Stadt.“

Gegenüber Fremden spricht William nicht über seine Vergangenheit, aus Angst vor Repressalien. Im ganzen Land wurden schon 137 ehemalige Guerilleros umgebracht – viele von ihnen hier im Nordosten. „Man hat uns vieles versprochen, vor allem, dass wir geschützt würden. Aber die Regierung hat nicht Wort gehalten“, schimpft William. Am 15. August 2019 verlieren alle ­ETCR ihren rechtlichen Status und damit auch den Schutz durch die Armee. Der Staat wird auch die regelmäßigen Zahlungen an die demobilisierten Kämpfer einstellen, die bislang jeden Monat 740 000 Pesos (rund 220 Euro) bekamen.

Will William nach Catatumbo nach Tibú zurückkehren? Daran sei nicht zu denken, denn dort lauere eine andere Gefahr: „Wenn sie mich dort sehen, werden sie wollen, dass ich mit ihnen gehe.“ Wen meint er mit „sie“? Seine Waffenbrüder und -schwestern, die dem bewaffneten Kampf nicht abgeschworen haben. Diese „Dissidenten“ versuchen, ihre früheren Kameraden erneut zu rekrutieren. Könnten sich die Angesprochenen denn frei entscheiden? William tut so, als hätte er die Frage nicht gehört.

Die meisten noch aktiven Guerillagruppen operieren im östlichen Grenzgebiet. „Nicht alle werden als Organisationen mit politischen Zielen anerkannt“, erläutert Kyle Johnson von der NGO Crisis Group in Bogotá. „Aber die Dissidenten in Catatumbo erfüllen die erforderlichen Kriterien.“ Dazu gehört, dass sie mit einer lokalen Gemeinschaft verbunden sein müssen und deren Prioritäten bei ihren Aktionen und Forderungen berücksichtigen. In Tibú haben sich die Dissidenten auf den Namen ihrer alten Rebellengruppe zurückbesonnen: „die 33er“, und auch von den Leuten auf der Straße werden sie wieder so genannt.

Doch sie sind nicht mehr allein. Die Dissidenten der Farc haben sich offenbar mit der ELN verbündet. Dass sie in den Armenvierteln am Stadtrand wieder Fuß gefasst haben, bezeugen ihre Parolen an den Wänden, von denen eine lautet: „Farc-EP, Front 33. Perverse, Diebe und Spitzel haben hier nichts zu suchen.“

Nach zermürbender Fahrt über eine Geröllpiste erreichen wir die Regruppierungszone von Caño Indio, wo die früheren Farc-Kämpfer der Region leben. Am Eingang patrouillieren Soldaten. Wie die meisten der ECTR steht Caño Indio unter dem Schutz der kolumbianischen Armee. Der Gegner von gestern schützt die ehemaligen Kämpfer vor der Bedrohung durch Paramilitärs.

Die Baracken stehen dicht gedrängt. Auf einer Wand das Konterfei Che Guevaras. Daneben eine Rose, das Symbol der Farc-Partei. In der Mitte des Lagers steht ein großes Treibhaus mit Ka­kao­pflan­zen. So will man die Rückkehr der Ex-Kämpfer in das zivile Leben erleichtern. An manchen Orten brauen sie Bier, andere nähen Kleider. Hier wird Schokolade produziert.

Comandante Jimmy Guerrero empfängt uns in seinem separaten Zelt. Auf seinen Befehl hin ging die Front 33 nach Caño Indio. „Als wir im Februar 2017 ankamen, waren wir 317. Heute sind nur noch 80 von uns übrig“, klagt der alte, weißhaarige Mann. Dann sagt er: „Ich respektiere die Entscheidung eines jeden; egal ob sie in der Stadt ein neues Leben aufbauen wollten oder sich den Dissidenten angeschlossen haben.“ Die Armee hat ihn damals aufgefordert, als Vermittler aufzutreten: „Ich sollte die Leute davon überzeugen, die Waffen niederzulegen. Ich habe mich geweigert, denn das ist nicht meine Rolle. Und angesichts der vielen bewaffneten Akteure, die das Gebiet für sich beanspruchen, heißt Partei ergreifen, dass man die anderen gegen sich aufbringt. Wenn wir am Leben bleiben wollen, müssen wir eine gewisse Neutralität wahren.“

Gerardo ist aktiver Kämpfer. Der kleine Mann von etwa 40 ist Mitglied des ELN-Netzwerks in Ti­bú. Er hält es für falsch, von „Dissidenten“ zu sprechen. Auch die Farc-Kämpfer hätten nie wirklich die Waffen niedergelegt: „Sie glauben doch nicht, dass die so dumm waren, alles abzugeben! Man musste kein Hellseher zu sein, um zu wissen, dass der Staat den Friedensvertrag brechen würde.“

Gerardo belegt seine Einschätzung mit zahlreichen Beispielen: die Ermordung alter Kämpfer; die Drohung, Jesús Santrich, der für die Farc den Frieden mit ausgehandelt hatte, an die USA auszuliefern; der mangelnde Wille, die Drogenpflanzungen zu vernichten und so weiter. Nach der Wahl Iván Duques zum Präsidenten wurde alles noch schlimmer. „Es war notwendig, einen Fluchtweg offenzuhalten. Das Dissidententum ist ihr Plan B.“

Im Sommer 2018 wurden vier demobilisierte Kämpfer in El Tarra im Bezirk Catatumbo ermordet. Beobachter schrieben die Tat rechten Paramilitärs zu, die angeblich in Absprache mit der Armee handelten. Die ewigen Feinde der Guerillas halten trotz des Friedensvertrags an ihrer alten Vernichtungsstrategie fest. Aber nicht nur sie, wie man aus einem Bericht in der New York Times erfahren kann. Demnach hat der kolumbianische Generalstabschef seine Truppen angewiesen, „die Zahl der getöteten, gefangenen oder durch Kämpfe zur Kapitulation gezwungenen Kriminellen und Aktivisten zur verdoppeln – auch wenn dies mehr Todesopfer unter der Zivilbevölkerung fordern sollte“.2

Die Bauern wollen die Farc zurückhaben

Manche verdächtigen auch die EPL, die darauf aus sei, alte Rechnungen mit der ihren früheren Rivalen zu begleichen. Die hätten es vor allem auf ehemalige Kämpferinnen abgesehen, die sich mit Militär- oder Polizeiangehörigen eingelassen haben.

„Die Feindbilder sind verschwommen“, sagt Jacobo, ein früherer Farc-Guerillero. Das habe auch damit zu tun, dass einige Ex-Kämpfer im Drogenhandel mitmischen. Mitten in diesem Chaos gibt es nur eine Konstante: die Verzweiflung der Bauern, die sich mit der von der allmächtigen Farc etablierten Ordnung arrangiert hatten und jetzt unisono fordern: „Die Farc soll zurückkommen!“

„Jimmy würde es nicht zugeben, aber er fühlt sich schlecht gegenüber seinen Leuten“, sagt Clara über Comandante Guerrero. Die junge Frau arbeitet bei der Agentur für Reintegration und Normalisierung (ARN), die mit der Wiedereingliederung der Kämpfer in das zivile Leben betraut ist. „Jimmy fühlt sich schuldig, weil alle ihm vertraut haben. Er hat sie hierher nach Caño Indio gebracht. Und jetzt weiß er, dass er seinen Leuten wegen der Versäumnisse der Regierung nichts weiter bieten kann. Die Regruppierungs­zonen werden geschlossen, und dann werden auch die Zahlungen ausgesetzt. Die Leute wissen nicht, wohin sie gehen sollen und wer sie künftig schützen wird.“

Clara kommen die Tränen. Sie will nicht, dass wir ihren richtigen Namen nennen. Sie spricht von der „Sabotage der Regierung“, etwa bei der Landfrage. Viele frühere Kämpfer hatten gehofft, nach dem Ende der im Friedensvertrag vorgesehenen Übergangsphase in Caño bleiben zu können. Aber die Staatsgewalt verhindert, dass demobilisierte Guerillakämpfer dort Land erwerben konnten. Angesichts der anhaltenden Konflikte müsse die „Gewährleistung der Sicherheit“ Vorrang haben. Stattdessen schlugen die Behörden vor, die Leute nach Los Patios bei Cúcuta umzusiedeln – auf Ländereien, die von Drogenhändlern kontrolliert werden. „Die früheren Farc-Rebellen hatten gar keine andere Wahl, als abzulehnen“, sagt Clara, „denn dort würde man sie ermorden.“

Auf einem Hügel inmitten eines Armenviertels einer Stadt des Departamento Norte de Santander steht eine Kirche. Jairo, unser Kontaktmann zur ELN, bringt uns hin. Er organisiert zusammen mit dem Pater die Gemeindearbeit, zum Beispiel legen sie für die Bewohner einen kollektiven Gemüsegarten an. Der kleingewachsene Gemeindepfarrer empfängt uns mit einem schüchternen Lächeln. Er führt uns zu einem Steilhang, wo die „Organisation“ ihre Obst- und Gemüsefelder angelegt hat. „Früher war das eine Müllhalde. Jetzt bauen wir hier Obst, Koriander und Basilikum an. Wir haben sogar ein paar Schafe“, sagt der Pfarrer. „Wir versuchen, die Landwirtschaft und die Selbstversorgung zu fördern, zugunsten der benachteiligten Menschen. Das ist konkret gelebter Kommunismus.“

„Der Pater ist ein früherer ELN-Funktionär“, flüstert uns Jairo zu. Die Verbindung zwischen der katholischen Kirche und der bewaffneten Gruppe überrascht eigentlich nicht. Seit ihrer Gründung stützt sich die ELN auf die „Theologie der Befreiung“, die sich in den 1960er Jahren auf dem südamerikanischen Kontinent herausgebildet hat. Ihre Vertreter sind für einen aktiven Beitrag der Kirche zum Kampf gegen die Armut und zur Analyse der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Armut hervorbringen. Diese katholischen Marxisten setzten sich schon damals für eine Allianz zwischen Kirchenleuten und revolutionären Bewegungen ein.

Zwei kolumbianischen Vordenker dieser revolutionären Theologie waren aktive Mitglieder der ELN: der 1966 im Kampf gefallenen Pater Camilo Torres und der 1998 verstorbene Pfarrer Manuel Pérez Martínez, viele Jahre lang Oberkommandierender der ELN. Obwohl die Organisation sehr an politischem Gewicht verloren hat, unterhält sie noch immer enge Beziehungen zu Anhängern der Befreiungstheologie innerhalb der Kirche. Das verschafft ihr in einem vorwiegend katholischen Land wie Kolumbien eine wichtige Bühne, um der Bevölkerung ihre Botschaft zu vermitteln.

Jairo trifft sich regelmäßig in den Räumen einer linken Partei mit rund einem Dutzend jugendlicher Aktivisten – junge Männer und Frauen im Alter zwischen 14 und 25 Jahren. Vor einem Notebook sitzend, lauschen sie einer Rede des 2013 verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez. Dann folgt eine Debatte über die Darstellung der Bolivarischen Revolution in den Medien. Jairo erzählt dazu Platos Höhlengleichnis: „Eine Hand voll Menschen lebt, an Ketten gefesselt, in einer Höhle. Ihre Sicht auf die Welt beschränkt sich auf die Schatten, die das von außen eindringende Sonnenlicht auf die Felswand wirft. Einer von ihnen wird gezwungen, die Höhle zu verlassen. Er kehrt zu seinen Mitgefangenen zurück und fordert sie auf, ihm zu folgen und sich ihrer Blindheit bewusst zu werden.“

Genau so sei es mit der „Verzerrung der Realität“ durch die Medien, erklärt Jairo. „Wie in dem Gleichnis besteht unsere Mission darin, unseren Nächsten ,die Botschaft‘ weiterzugeben.“ Und dann sagt er: „Das war unsere erste Unterrichtseinheit in Befreiungstheologie. Und habe ich von Jesus Christus oder Gott gesprochen? Nein.“

Im Lager von Caño Indio klagt Violeta über den Individualismus, der die kleine Gemeinschaft ehemaliger Kämpfer heimgesucht hat. „Vor zwei Wochen saßen wir noch alle zusammen. Und heute isst jeder allein in seiner Ecke.“ Das tägliche Leben im Kollektiv ist für sie ein Auslaufmodell: Jeder denkt nur noch an sich selbst; Fernsehen hat die gemeinsame Zeitungslektüre ersetzt; das Wecken zum Sonnenaufgang, das Training, die militärische Disziplin – all das gibt es nicht mehr.

Katerine hat sich 1987 der Guerilla angeschlossen. 30 Jahre lebte sie im Dschungel unter freiem Himmel. Noch immer vergisst sie den Schlüssel mitzunehmen, wenn sie ihre Baracke verlässt. Mit einem Heft in der Hand taucht sie bei der Schreibgruppe auf, die für ein paar Tage von zwei Journalisten angeleitet wird. Die Journalisten haben die ehemaligen Kämpferin gebeten, ihre Geschichte aufzuschreiben. Katerine liest vor, was sie zu Papier gebracht hat: „Ich muss jetzt neu erlernen, was ich verlernt habe, wieder zu dem werden, was ich einmal war. Wiedergeboren werden. Ich verbitte mir aber, bei meinem richtigen Namen gerufen zu werden. 30 Jahre lang habe ich den Kampfnamen Katerine geführt. Diesen Namen will ich auch weiter behalten.“

1 Siehe Gregory Wilpert, „Stadt, Land, Guerilla“, LMd, Oktober 2012.

2 Nicholas Casey, „Colombia’s Army New Kill Orders Send Chills Down Ranks“, New York Times, 18. Mai 2019.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Loïc Ramirez ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.08.2019, von Loïc Ramirez