11.07.2019

Die letzten wilden Flüsse Europas

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Die letzten wilden Flüsse Europas

Um EU-Vorgaben und Klimaziele zu erfüllen, sollen auf dem Balkan tausende Staudämme entstehen. Bewohner und Umweltverbände machen mobil

von Paul Hockenos

Protest in Tirana, 20. Mai 2016 ARMANDO BABANI/picture alliance/dpa
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Das Fischrestaurant von Arjan Leksi im südalbanischen Qesarat schmiegt sich an einen Nordhang. Von hier hat man einen atemberaubenden Blick auf die Vjosa, Albaniens längsten Fluss. Mal fließt sie breit und mäandernd, mal in kreuz und quer verlaufenden kleineren Bachläufen, deren türkisfarbenes Wasser Inseln und Schotterbänke umspült. In ihrem Bett aus hellem Kies strömt sie durch tiefgeschnittene Täler und schroffe Schluchten und mündet unweit der Hafenstadt Vlora in die Adria. Das Mündungsdelta bietet mit seinen fast 200 Quadratkilometern Marsch- und Sumpfland vielen seltenen Wasservögeln Schutz, unter anderem mehreren Flamingoarten, die zwischen Europa und Nordafrika hin- und herwandern.

Würde man die Vjosa in Kalivaç, wenige Kilometer flussabwärts von Qesarat, stauen, wie es ein türkischer Investor vorhat, um dort ein mittelgroßes Wasserkraftwerk zu errichten, würde das Dorf mitsamt Leksis Restaurant und dem Nachbarweiler verschwinden. „Alles hier wäre überflutet und komplett zerstört“, sagt Leksi und deutet auf das Tal. Die Bewohner von Qesarat haben gegen das Vorhaben protestiert und versucht, sich bei den Politikern in der Hauptstadt Tirana Gehör zu verschaffen. Jetzt ziehen sie vor Gericht, um die Einhegung der Vjosa zu verhindern: „Wir werden unseren Fluss schützen. Wir lassen uns unsere Lebensgrundlage nicht nehmen.“

Neben dem Kraftwerk von Kalivaç sind an der 270 Kilometer langen Vjosa, die im griechischen Pindosgebirge als Aoos entspringt, acht weitere Anlagen in Planung. Insgesamt will man auf dem Balkan 3000 Wasserkraftwerke bauen: von Slowenien im Norden bis hinunter zum Peloponnes. Der Boom begann vor mehr als zehn Jahren und hat durch Fördergelder und Kredite der EU, von Entwicklungs- und Privatbanken immer mehr Fahrt aufgenommen. Alles natürlich im Zeichen des Ausbaus grüner Energie und angestrebter Klimaziele. Da viele Kraftwerke sich in Nationalparks und Naturschutzgebieten befinden und die Ökosysteme dort irreversibel zerstören, leistet die lokale Bevölkerung erbitterten Widerstand. Mit internationalen NGOs haben sie sich zu einem eindrucksvollen Bündnis zusammengeschlossen.

„Der Balkan besitzt die letzten wirklich wilden, unberührten Flüsse in ganz Europa“, sagt Gabriel Schwaderer, Geschäftsführer von EuroNatur, einer deutschen Stiftung, die den Bau weiterer Staudämme stoppen will. Die Vjosa, fährt er fort, „ist insofern besonders, als es an ihrem Lauf und auch an vielen ihrer Nebenflüsse überhaupt keine künstlichen Barrieren gibt und sie nie reguliert worden ist. Abgesehen von Russland haben wir in Europa keine solchen Flüsse mehr.“

Doch die Vjosa, das Juwel der Region, ist unmittelbar bedroht. Obwohl sie für dutzende Dörfer wie Qesarat die Lebensader bildet – für Hirten und Bauern, Cafébesitzer und Fischer –, haben die albanischen Behörden das umstrittene Projekt ohne weitere Prüfung durchgewunken. Dabei bieten der Fluss und seine Auen auch einer vielfältigen und einzigartigen Tierwelt Lebensraum. Der 45 Meter hohe Damm, der an seiner schmalsten Stelle flussabwärts von Qesarat entstehen soll, würde einen 16 Quadratkilometer großen Stausee entstehen lassen.

Staumauern und -becken verändern den Charakter eines Flusses grundsätzlich, erklärt Christoph Hauer von der Universität für Bodenkultur in Wien: „Die Sedimente bilden das Rückgrat eines jeden Flusses; ein Damm blockiert ihre Bewegung. Flussabwärts erodiert das Flussbett und der Grundwasserspiegel sinkt, was sich wiederum auf die Wasserreserven der gesamten Region auswirkt.“ Ein empfindlicher und dynamischer Fluss wie die Vjosa würde dadurch bis zum Delta in Mitleidenschaft gezogen. In Albanien, so Hauer weiter, wäre die Folge eine Küstenerosion, wie sie schon anderswo im Mittelmeerraum zu beobachten ist, wo man Strände mit importiertem Sand auffüllt.

Hauer ist mit einer Gruppe internationaler Wissenschaftler nach Albanien gereist, um die noch weitgehend undokumentierte Flora und Fauna der Vjosa zu erforschen. Ihre Berichte attestieren dem Fluss einen außergewöhnlichen Artenreichtum, mit vielen bedrohten und endemischen Tier- und Pflanzenarten. In dem von den Forscherteams zusammengestellten, durchaus nicht vollständigen Kompendium sind nur hier zu findende Fische, Insekten, Mollusken und Vögel erfasst, wie der akut vom Aussterben bedrohte Europäische Aal, der Ohrid-Steinbeißer und die Pindus-Bachschmerle. Alle drei sind Wanderfische wie die Forelle, der Lachs und der Stör, die ebenfalls in der Vjosa heimisch sind, und würden durch Dämme am Laichen gehindert. Das untersuchte Gebiet ist darüber hinaus Brutplatz für Triele, Flussregenpfeifer, Zwergseeschwalben, Schmutzgeier und Rötelfalken. An den Ufern siedelt der seltene Eurasische Fischotter.

Die Fachleute mahnen eindringlich, Flüsse wie die Vjosa zu erhalten. Seit Beginn der 1970er Jahre sind bereits über 80 Prozent des Bestands aller Süßwasserarten auf unserem Planeten verschwunden. In Europa sind derzeit 37 Prozent der Süßwasserfische und 44 Prozent der Mollusken (Wirbellose wie Nackt- und sonstige Schnecken) vom Aussterben bedroht. Ein Bericht der Europäischen Umweltagentur aus dem Jahr 2015 bestätigt, dass 60 Prozent der europäischen Flüsse nicht einmal mehr minimalen ökologischen Standards entsprechen.1

Vor dem Hintergrund des UN-Berichts zur weltweiten Biodiversität, der in diesem Frühjahr einschlug wie eine Bombe, hat sich die EU nun allerdings verpflichtet, ihre Anstrengungen zum Schutz der Pflanzen- und Tierwelt zu verdoppeln, und richtet ihre Aufmerksamkeit insbesondere auf die Balkanstaaten.

Im Mittelpunkt der internationalen Kampagne „Rettet das blaue Herz Europas“ steht die Vjosa. Initiiert wurde die Kampagne 2014 von EuroNatur und RiverWatch, einer weiteren Umwelt-NGO mit Sitz in Wien. Im letzten Jahr konnte noch die US-amerikanische Outdoorbekleidungsfirma Patagonia mit ins Boot geholt werden. Jetzt engagiert sich die Kampagne auf dem gesamten Balkan und ist mit Hilfe von Bankwatch, einer auf die Finanzierung von Entwicklungsprojekten spezialisierten NGO, und Client­Earth, einer gemeinnützigen Vereinigung von Anwälten, erst recht in Schwung gekommen. Man hat bisher 80 000 Kilometer Flussläufe kartiert, die man als „No-go-Areas“ für Staudammprojekte betrachtet.2

„Jede Woche bekommen wir Anrufe von überall her: aus Bosnien, Mazedonien, Kroatien und anderswo, wo Staudämme geplant sind“, sagt Ulrich Eichelmann, Geschäftsführer von RiverWatch. „Die Leute haben von uns gehört und fragen, was sie tun können, um Staudämme in ihrer Gegend zu verhindern.“ Bis vor Kurzem konnten RiverWatch und EuroNatur nur einer Handvoll Gemeinden Rechtshilfe anbieten. Seit ClientEarth mit von der Partie ist, ist man guter Dinge, alle Gemeinden unterstützen zu können, die ihren Fall vor Gericht bringen.

Die internationalen NGOs haben ein dichtes Netz von Betroffenen geknüpft: Lokale Wissenschaftler, Bürgerrechtsgruppen, Naturschützer, Tourismusunternehmer und viele andere eint, dass sie die Flüsse vor unnötigen Eingriffen schützen wollen. Olsi Nika von der Umweltgruppe EcoAlbania sagt, in seinem Land seien in den letzten zehn Jahren 129 Kraftwerke fertiggestellt worden und weitere 60 im Entstehen begriffen, doch „in 80 Prozent der Fälle“ könne man „das Schlimmste noch verhindern“. Bei der Lobbyarbeit auf höchster Ebene in den europäischen Hauptstädten und bei der EU seien die interna­tio­nalen NGOs ausgesprochen hilfreich.

Aus der Shushica soll ein ­Entwässerungsgraben werden

Für Investoren und regionale Baufirmen ist die unberührte Vjosa ein Jackpot. Die geplanten Anlagen in Kalivaç und Poçem, einem Dorf zwölf Kilometer flussabwärts, versprechen Spitzenleistungen zu Spitzenzeiten, denn zweimal am Tag könnten sich aus dem vollen Staubecken etwa 200 Millionen Kubikmeter Wasser in die Turbinen ergießen und die Generatoren in Gang bringen. Ein von den albanischen Behörden garantierter Festpreis pro Kilowattstunde macht das Ganze besonders lukrativ, wenngleich die Kraftwerke wegen des jahreszeitlich bedingten unterschiedlich starken Durchflusses nur im Frühjahr und Herbst mit voller Kapazität arbeiten können.

Aber die Investoren haben auch die Nebenflüsse der Vjosa – manche nicht mehr als schma­le Bächlein – im Visier. Selbst dort, wo sie in Naturschutzgebieten liegen, wollen sie Kraftwerke bauen, und das, obwohl die Anlagen nur ein paar Megawatt Strom erzeugen würden. So sollen zum Beispiel an der Shushica, einem berückend schönen Gebirgsfluss, der sich tief durch weichen Kalkstein gräbt, auf einer Strecke von 35 Kilometern Umleitungsdämme entstehen. Im Unterschied zu herkömmlichen Talsperren verlegt man hierfür entlang des Ufers Rohre, die dem Fluss an bestimmten Stellen Wasser entziehen und es zu Kraftwerken flussabwärts leiten. Unweigerlich würde das Flussbett austrocknen und würden die Wasservorräte dezimiert – in einer Region, in der das kostbare Nass ohnehin schon eine knappe, umkämpfte Ressource ist. „Das Bauvorhaben würde die Shushica in einen Entwässerungsgraben verwandeln“, sagt Olsi Nika.

„Das ist das Wasser, das wir trinken, das unsere Schafe trinken“, mahnt Sotir Zahoaliaj aus Brataj, einem Dorf an dem bedrohten Fluss. Seit sich EcoAlbania vor zwei Jahren in die Sache eingemischt hat, hat sich vor Ort heftiger Widerstand formiert. „Und was haben wir davon? Nichts, rein gar nichts!“, ruft Zahoaliaj und gibt die Meinung vieler Mitbürger wieder. Viel lieber wäre ihm, wenn in regionalen Ökotourismus investiert würde, so dass Besucher nach Brataj kommen und die Schönheiten der Natur genießen würden.

Dank EcoAlbania und ihrer Partner ist die albanische Vjosa bis jetzt nicht gestaut worden. Mithilfe der albanischen Gerichte konnte das Bündnis – zumindest fürs Erste – das Projekt bei Poçem verhindern. Ein Bezirksgericht befand, dass die Behörden weder ein ordnungsgemäßes Umweltprüfungsverfahren durchgeführt noch die Bewohner ausreichend miteinbezogen hatten. Die Rechtmäßigkeit des Kalivaç-Staudamms, mit dessen Bau vor 15 Jahren begonnen und der dann aufgegeben wurde, will EcoAlbania gegen Ende des Jahres juristisch anfechten.

Auch in anderen Teilen des Balkans haben Widerstandsbewegungen den Investoren einen Strich durch die Rechnung gemacht. In Banja Luka und Kruščica in Bosnien und Herzegowina, im Mavrovo-Nationalpark in Nordmazedonien und an der Mur in Slowenien sind Staudammprojekte verhindert worden. Die länderübergreifende Lobby- und Anti-Staudamm-Kampagne, dazu gehört auch ein von Patagonia aufwendig produzierter Film3 , haben die internationalen Entwicklungsbanken, auch die Weltbank, zum Umdenken bewogen: Sie wollen Staudammprojekte jetzt genauer unter die Lupe nehmen.

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und die Europäische Investitionsbank (EIB) haben in Reaktion auf den massiven öffentlichen Druck – eine Petition bekam 120 000 Unterschriften – erklärt, keine Kredite mehr für Wasserkraftwerke in Schutzgebieten zu bewilligen. Seit 2005 haben die EBWE, die EIB und die Weltbank 727 Millionen Euro an Krediten und Bürgschaften für 82 Kraftwerke auf dem Balkan vergeben, 37 davon in Schutzgebieten.4

Die Kampagne „Blaues Herz“ will erreichen, dass das gesamte Einzugsgebiet der Vjosa und ihrer Nebenflüsse zum Nationalpark erklärt wird. Nur so wären ihr Schutz und Erhalt für viele Jahre gewährleistet. Doch dieses Ziel wird nicht ohne Kampf erreicht werden. Nach Meinung der Entscheidungsträger sowie internationaler Experten gilt Wasserkraft als saubere und grüne Energiequelle. Länder, die sich um eine EU-Mitgliedschaft bewerben, sind auf sie angewiesen, um die Aufnahmekriterien zu erfüllen. Wasserkraftwerke hätten sich auf dem Balkan bewährt, heißt es, und trügen dazu bei, die Treibhausgasemissionen zu verringern. Tatsächlich erzeugt Albanien seinen gesamten Strom fast ausschließlich mit Wasserkraft. Wenn die heimischen Turbinen und Generatoren jedoch im Sommer und Winter über weite Strecken den Bedarf nicht decken können, importiert das Land Kohlestrom aus Nachbarländern.

„Albanien braucht die Energie“, sagt Zamir Dedej vom Ministerium für Tourismus und Umwelt. Die ökologischen Folgen der Stromerzeugung aus Wasserkraft seien heute wegen der besseren Technologie weniger gravierend als früher. „Es muss ein Kompromiss gefunden werden“, sagt er. Zum Kalivaç-Bauvorhaben merkt er an: „Der Damm ist vor vielen Jahren bewilligt worden, und damals gab es keine Proteste. Jetzt ist es zu spät.“

Nach wie vor stecken die meisten Länder des westlichen Balkans weiterhin Geld sowohl in Wasser- als auch in Kohlekraftwerke. Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien subventionieren die Kohleenergie mit jährlich fast 170 Millionen Euro.5 Albanien baut gerade seine ersten Gaskraftwerke, um sich von den teuren Stromimporten unabhängig zu machen.

Wasserkraft als grüne Energiequelle hin oder her – alle Experten raten Albanien, in den Phasen, in denen die Wasserkraftwerke stillstehen, andere erneuerbare Energien zu nutzen. Schließlich bietet Südosteuropa beste Bedingungen für die Energiegewinnung aus Sonne, Wind und Erdwärme. Ein Bericht der Internationalen Agentur für erneuerbare Energien (Irena) kommt zu dem Schluss, dass die Region zwar „riesige geografische und klimatische Möglichkeiten zur Erzeugung erneuerbarer Energien besitzt“, aber noch kaum begonnen hat, ihre ungeheuren Ressourcen zu erschließen.6 Allein mit Windkraft- und Solaranlagen könnte der Balkan so viel Energie liefern wie 650 mittelgroße Atomkraftwerke. Auch Bioenergie und Erdwärme könnten zur Versorgung beitragen. Die sinkenden Preise für Solar-, Wind- und Batterietechnologie machen eine breite, rasche Markteinführung sogar noch einfacher und profitabler. Experten behaupten sogar, dass die Region letztlich erneuerbare Energie ins übrige Europa exportieren könnte.

„Die Region besitzt im Prinzip alle Voraussetzungen, die attraktiv für umfangreiche Investitionen in erneuerbare Energien sind“, meint Adnan Amin, der ehemalige Generaldirektor von Irena. „Aber es muss noch mehr getan werden, um eine erfolgreiche Energiewende herbeizuführen; es müssen nicht nur die institutionellen Rahmenbedingungen dafür geschaffen, sondern auch Förderprogramme für erneuerbare Energien aufgelegt werden.“

Dass in der Region wie verrückt kleinere Wasserkraftwerke gebaut werden, hängt auch damit zusammen, dass Klientelismus und Korruption gang und gäbe sind. „Die Einzelheiten der staatlichen Ausschreibungen sind vollkommen intransparent, und die Spezis und Verwandten von Regierungsvertretern heimsen die Zuschläge ein“, klagt Koča Pavlović, ein montenegrinischer Oppositionspolitiker. Da die staatlichen Subventionen für Strom aus Wasserkraft im Verhältnis zu den Produktionskosten zudem überproportional hoch sind, seien die Anlagen wahre Goldgruben für Leute mit den richtigen Kontakten.

In Serbien würden die opulenten Fördergelder noch dazu inoffiziell verteilt, so dass selbst Energieexperten nichts davon mitkriegten. Obendrein würden Baugenehmigungen sehr oft aufgrund gefälschter oder unvollständiger Studien zu den Auswirkungen auf Mensch und Natur erteilt und die Betroffenen vor Ort – absolut vertragswidrig! – selten angehört.

Als Albaniens Ministerpräsident Edi Rama 2013 sein Amt antrat, versprach er, die natürlichen Ressourcen des Landes aus den Klauen der Investoren zu retten. Genau deshalb hatten ihn viele Bürger aus den gefährdeten Gebieten wie Brataj an der Shushica gewählt. „Aber er hat uns betrogen“, sagt Zahoaliaj. „Er hat eine totale Kehrtwende vollzogen und ist jetzt vehementer Befürworter der Staudämme.“ Kenner der Situation weisen übrigens darauf hin, dass die Vergabe von Staudamm-Konzessionen in Wahljahren stets sprunghaft ansteigt.

Obwohl die Kampagne „Blaues Herz“ die Errichtung einiger Staudämme gestoppt oder verzögert hat, werden viele andere trotz des Widerstands der Bevölkerung gebaut. An vielen Orten haben sich die Protestbewegungen deshalb schon radikalisiert.

Hoch im serbischen Teil des Balkangebirges, der abgelegenen, dicht bewaldeten Stara Planina, die die Grenze zu Bulgarien bildet, setzen sich einige Gemeinden schon seit Jahrzehnten gegen die Energieunternehmen zur Wehr. Doch jetzt haben sie den Eindruck, dass sie nicht nur die mächtigen Geschäftsleute und Politiker des Landes gegen sich haben, sondern auch EU und Weltbank. Brüssel verlangt, dass Serbien bis 2020 27 Prozent seiner Primärenergie aus erneuerbaren Quellen beziehen muss, wenn es der EU beitreten will. Und weil die aus Wasserkraft gewonnene Energie als grün gilt, hat das Energieministerium abgesegnet, dass so ungefähr jedes Flüsschen im Nationalpark gestaut wird: Insgesamt sind 58 kleinere Anlagen geplant.

In der Stara Planina ist der Ton rau und kämpferisch

In Serbien gibt es nicht eine dominante Quelle für erneuerbare Energie, erklärt Dragan Josić von einer Lobbygruppe pro Wasserkraft mit Sitz in Belgrad. Gerade kleine Wasserkraftwerke seien unerlässlich, damit Serbien seine im Rahmen des Pariser Klimaabkommens festgelegten Ziele erreichen könne. „Es ist verheerend, dass unser Stromverbrauch zu 70 Prozent mit Kohle gedeckt wird“, sagt Josić. „Unsere einzige Möglichkeit, die internationalen Verpflichtungen zu erfüllen, besteht darin, auf einen Energiemix zu setzen“, sagt er und fügt hinzu, dass der Weltklimarat Wasserkraft als mögliche Quelle CO2-neutraler Energie empfiehlt.

Anders als in Albanien hat sich das Bündnis „Rettet die Flüsse der Stara Planina“ schon lange vor dem Engagement internationaler NGOs gegen die Hydroindustrie gewehrt. Überall in den Dörfern prangen auf den Mauern gesprayte Slogans wie „Kein Ausverkauf des Balkangebirges“ oder: „Stopp! Keine Wasserkraftwerke!“ Einem bekannten Belgrader Investor rät man namentlich, sich aus den Dörfern fernzuhalten – sonst ...

Der Weiler Rakita, direkt an der bulgarischen Grenze gelegen, verlor 2017 allerdings mit seinem Einspruch gegen den Bau einer winzigen Wasserkraftanlage. Bevor alle juristischen und ökologischen Hürden genommen waren, hatte die Belgrader Firma schon mit dem Verlegen der Rohre für einen Umleitungsdamm zwischen Rakita und dem Nachbardorf Zvonce begonnen.

Aber die Bewohner des armen, strukturschwachen Landesteils sind gut organisiert und konnten im letzten Jahr 4000 Unterstützer mobilisieren, die vor dem Parlament in Belgrad gegen die Wasserkraftwerke demonstrierten. Zu Hause patrouillieren sie Tag für Tag entlang der bewaldeten Flüsse und passen auf, dass die Baufirmen nicht heimlich anfangen zu bauen. In dem Fall würden sie nämlich Alarm schlagen, um alle Anwohner zusammenzutrommeln. „Diese wunderschöne Natur ist alles, was wir haben“, sagt die Aktivistin Milinka Nikolić. „Die überlassen wir doch nicht einem Geschäftsmann aus Belgrad.“

Bei den Treffen, auf denen sich Aktivisten aus der gesamten Stara Planina zusammenfinden, ist der Ton der überwiegend älteren Menschen rau und kämpferisch geworden. Die Spannungen haben sich verschärft, vielen Bürgermeistern wird vorgeworfen, dass sie sich von den Unternehmern haben kaufen lassen. „Alle hängen mit drin“, erklärt der Aktivist Dušan Micić bei einem Vortrag, „die Kommunalverwaltungen, die Wasserwirtschaftsämter und natürlich das Energieministerium. Es handelt sich um Korruption, schlicht und einfach Korruption.“ Als er mit den Worten schließt: „Wir werden unsere Flüsse mit allen Mitteln schützen!“, bekommt er Standing Ovations.

Die Behörden behaupten, die Protestbewegung hätte die Grenze der Gewaltfreiheit schon überschritten, und beschuldigen sie, zwei Bomben gelegt zu haben, die letzte im April. Die Stara-Planina-Aktivisten sind hingegen überzeugt, dass die Bomben von den Investoren selbst gelegt wurden, um ihnen Militanz zu unterstellen und ein hartes Durchgreifen der Polizei zu provozieren. Es gab Verhaftungen und Verhöre auf der einen Seite und Beschwerden wegen Polizeigewalt auf der anderen: Ein Ende der verfahrenen Situation ist nicht in Sicht.

Da sich die EU und die internationalen Entwicklungsbanken aus den umstrittensten Staudammprojekten schon zurückgezogen haben, lenkt die Kampagne „Blaues Herz“ ihre Aufmerksamkeit nun auf die Privatbanken und die Regierungen der einzelnen Länder. „Für uns ist es schwer, die Privatbanken, selbst die in Österreich und Deutschland, unter Druck zu setzen“, sagt Schwaderer von EuroNatur. Die Banken gäben nur sehr zögerlich die Namen ihrer Kunden oder Informationen zu den Krediten preis. „Wenn die Türkei oder China dahinterstecken, sind unsere Möglichkeiten noch begrenzter.“

Die jeweiligen nationalen Regierungen können sogar noch schwerer zu fassen sein; normalerweise weigern sie sich, das Problem überhaupt zu diskutieren, und reagieren nicht auf Anschreiben oder Interviewanfragen. Die Kampagne beruft sich deshalb zunehmend auf internationale Instanzen und Richtlinien, wie zum Beispiel auf die von allen Ländern Südosteuropas unterzeichnete Berner Konvention. Das Abkommen wurde 1979 zur „Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume“ verabschiedet und stellt ein rechtlich bindendes Instrument im Bereich des Naturschutzes dar. Wenn die Bestimmungen der Konvention verletzt werden, können NGOs und sogar Privatleute dagegen klagen. Genau das tat Bankwatch 2017. Mit dem Ergebnis, dass zwei Staudammbauvorhaben im nordmazedonischen Mavrovo-Nationalpark gestoppt wurden.

Die Berner Konvention ist ungemein „hilfreich“, sagt Nika von EcoAlbania. Er ist der Meinung, dass der Kampf um die Flüsse in Albanien gewonnen oder verloren wird. Bisher haben die Gerichte dort wie anderswo eine bemerkenswerte Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive an den Tag gelegt. „Auf den Staudamm-Tsunami antworten wir mit einem Prozess-Tsunami“, sagt Nika. „Wir überschwemmen die Gerichte mit Klagen.“

1 European Environment Agency, „Freshwater quality“, 18. Februar 2015, eea.europa.eu.

2 „Eco-Masterplan for Balkan Rivers“, balkanrivers.net.

3 blueheart.patagonia.com.

4 „Financing for hydropower in protected areas of southeast Europe: update“, 16. März 2018, bankwatch.org.

5 Doris Pundy, „Western Balkans waiting for a green energy revolution“, Deutsche Welle, 16. April 2019, dw.com.

6 „South East Europe has vast renewable energy potential of 740 GW“, 16. Januar 2017, balkangreenenergynews.com.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Paul Hockenos ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Berlin Calling“, New York (The New Press) 2017. Derzeit schreibt er an einem Buch über Bürgerenergie und Klimakrise. © LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.07.2019, von Paul Hockenos