Ist eine gemeinsame europäische Armee möglich?
von Philippe Leymarie
Am 6. November 2018 erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron: „Wir werden die Europäer nicht schützen können, wenn wir uns nicht zu einer richtigen europäischen Armee entschließen.“ Da sich Russland als potenzielle Bedrohung erwiesen habe, brauche man eine EU, „die sich selbst verteidigen kann, ohne von den USA abhängig zu sein“.
Eine Woche später schlug Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Europäischen Parlament ähnliche Töne an: „Wir sollten an der Vision arbeiten, eines Tages auch eine echte europäische Armee zu schaffen.“ Dabei forderte sie nicht zum ersten Mal einen „europäischen Sicherheitsrat“ mit rotierendem Vorsitz, damit „wichtige Beschlüsse schneller vorbereitet werden“ können. Die Kanzlerin erwog sogar, das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben.
Bislang gibt es weder einen gemeinsamen Schutz des EU-Territoriums – das wegen der ständigen Erweiterungen erst zu definieren wäre – noch eine globale Eingreiftruppe noch eine operative Kommandostruktur. Kurz: Es fehlt alles, was ein umfassendes Verteidigungssystem erst ausmacht.
Die sicherheitspolitischen Anliegen der EU-Mitgliedsstaaten sind sehr unterschiedlich: Während die baltischen, nord- und osteuropäischen Länder sich Sorgen wegen Russland machen, blicken der europäische Westen und Süden vor allem auf die instabile Lage in Afrika und im Nahen Osten. Das macht es der Union schwer, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.
Die Aufgaben des gemeinsamen militärischen Projekts „Europa der Verteidigung“ wurden erstmals im Juni 1992 von der (2011 aufgelösten) WEU in der Petersberg-Erklärung definiert. Dass der Schwerpunkt auf humanitären Einsätzen und friedenserhaltenden Maßnahmen lag, spiegelte noch das Selbstbild eines Europas der „strategischen Lethargie“ (Hubert Védrine). Wobei man stets von einer komplementären Aufgabenteilung mit der von den USA dominierten Nato ausging, die faktisch allein für die Verteidigung Europas zuständig war.
Dabei sprächen viele Faktoren dafür, dass die EU stärker werden muss: Der erste ist „das Ende der zentralen ideologischen und strategischen Bedeutung Europas“ (so Jean-Marie Guéhenno, Direktor der International Crisis Group); der zweite ist die geopolitische Neuorientierung der USA auf Asien, was bedeutet, dass nie wieder ein Soldat Ryan an einer Küste Europas auftauchen wird.1 Drittens verzeichnen wir eine Ausweitung der Kriegszonen vom Donbass über die Sahelzone bis zum Pariser Bataclan – mit der Folge, dass die Grenzen zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben zunehmend verschwimmen.
Ein vierter Faktor ist die Kostenexplosion bei den Rüstungsprojekten. Wer heute mithalten will, braucht Waffensysteme mit großer Reichweite und dazu Roboter, Drohnen, U-Boote, amphibisches Gerät und die Ausstattung für elektronische und weltraumbasierte Spionage. Demnächst wird keine nationale Armee in Europa mehr in der Lage sein, allein eine militärische Operation zu beginnen und eine militärische Intervention über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.
Es gibt einen weiteren Faktor, der die Staatschefs in der EU zum raschen Handeln veranlassen sollte: Die europäische Sicherheitsarchitektur bröckelt an allen Ecken und Enden. Die USA haben sich 2002 aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen zurückgezogen und im Februar 2019 auch aus den sogenannten INF-Verträgen über nukleare Mittelstreckensysteme. Russland hat bereits 2015 den KSE-Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa gekündigt. Moskau denkt ebenfalls daran, den Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen („New START“) nicht über 2021 hinaus zu verlängern.
Auch der bevorstehende Brexit könnte neue Möglichkeiten für die EU eröffnen. London hat jahrzehntelang alles blockiert, was als Konkurrenz zur Nato oder als unfreundlicher Akt gegenüber den USA erscheinen könnte – etwa die Einrichtung eines permanenten EU-Generalstabs oder die Stärkung der Europäischen Verteidigungsagentur (EVA).
In den letzten beiden Jahren hat die EU bereits einiges getan: Sie hat einen Europäischen Verteidigungsfonds gegründet, der für sieben Jahre mit 13 Milliarden Euro ausgestattet ist. Sie hat den EU-Militärstab (EUMS) ausgebaut, der mit seinen 2500 Mitarbeitern die Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) leitet. Außerdem will man 30 „Kapazitätslücken“ identifizieren und im Rahmen der sogenannten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ) ausfüllen; etwa durch das Drohnenprojekt MALE.
Zudem wurde ein Fonds in Höhe von 6,5 Milliarden Euro zur Stärkung der militärischen Mobilität eingerichtet und eine „Europäische Friedensfazilität“ (EFF) mit zusätzlichen 10,5 Milliarden Euro ausgestattet. Mit diesem Geld will die EU ab 2021 sicherheitspolitische Projekte vor allem in afrikanischen Partnerländern unterstützen (siehe Artikel auf Seite 4/5).
Die meisten dieser Projekte existieren allerdings nur auf dem Papier. Das Europäische Parlament hat den Haushalt am 18. April 2019 zwar bewilligt, doch wie jedes einzelne Instrument funktionieren soll, müssen die Staaten noch untereinander aushandeln. Zum Beispiel will Frankreich Gelder des Europäischen Verteidigungsfonds ausschließlich europäischen Firmen zukommen lassen. Dagegen meinen die niederländischen Liberalen, dass sich jedes Unternehmen um Aufträge bewerben kann. So sehen es auch die deutschen Sozialdemokraten, die polnische Regierung – und Washington, das der EU Vergeltungsmaßnahmen androht, falls US-Firmen von den Ausschreibungen ausgeschlossen werden sollten.
Wenn alle auf Gelder aus dem Fonds zugreifen dürfen (auch um Großbritannien nicht zu isolieren), könnten sich allerdings trojanische Pferde einschleusen. Zum Beispiel könnten die USA oder Israel und sogar China versuchen, Gelder für Forschung und Entwicklung anzuzapfen, die für die europäische Verteidigung bestimmt sind.
Zwanzig unterschiedliche Panzermodelle
Die bisherige Beschaffungspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten hat zu chaotischen Ergebnissen geführt. Heute gibt es in der EU 178 unterschiedliche Waffensysteme (in den USA 30), rund 20 verschiedene Panzermodelle und 3 Typen von Jagdflugzeugen.
2017 haben alle Armeen zusammen für die Rüstung 227 Milliarden Euro ausgegeben. Nach vorsichtigen Schätzungen könnten davon 25 Milliarden durch bessere Kooperation eingespart werden.2
Ein negatives Beispiel ist die jüngste Entscheidung Belgiens für das US-Kampfflugzeug F-35 und damit gegen europäische Alternativmodelle wie die französische Rafale, den Eurofighter oder die schwedische Gripen. Auch andere EU-Staaten haben das seit 2015 einsatzfähige Tarnkappen-Mehrzweckkampfflugzeug erworben. Doch die exorbitanten Anschaffungskosten werden die Verteidigungshaushalte leersaugen.3 Am 18. März erklärte die französische Verteidigungsministerin Parly vor dem Atlantic Council in Washington: „Die Beistandsklausel der Nato ist der Artikel 5, nicht der Artikel F-35.“
Da der Militärstab der EU über keine ständig einsatzbereiten Truppen verfügt, muss er sich derzeit noch mit Ausbildungsmissionen begnügen. Die „EU-Battlegroups“ aus jeweils 1500 Soldaten, die seit 13 Jahren existieren und nach dem Rotationsprinzip für jeweils sechs Monate aufgestellt werden, hatten noch nicht einen einzigen Einsatz. Umfassendere Missionen wie die Operation Artemis in der Demokratischen Republik Kongo (2003) oder die Marine-Operation Atalanta vor dem Horn von Afrika (seit 2008) wären heute wegen fehlender Mittel nicht mehr durchführbar.
Inzwischen wird vor allem über die gemeinsame Nutzung von Ausrüstungsprogrammen verhandelt, wobei die unterschiedlichen Einsatzregeln, Zeitpläne und strategischen Prioritäten schwer unter einen Hut zu bringen sind. Eine Ausnahme ist das europäische Satellitennavigationssystem Galileo, das 2018 wesentlich später und teurer als geplant einsatzfähig wurde.4 Ähnlich harzig verlief die Entwicklung des Militärtransportflugzeugs A400M und des Eurocopters Tiger.
Angesichts der politischen Differenzen innerhalb der EU ist eine nennenswerte institutionelle Weiterentwicklung nicht zu erwarten. Allenfalls könnte sich eine Art „Eurogruppe der Verteidigung“ bilden, nach dem Vorbild der gemeinsamen Währungszone. Als Ausgangsbasis könnte die Europäische Interventionsinitiative dienen, die im Juni 2018 mit einer Absichtserklärung von neun EU-Staaten5 gestartet wurde, um eine „gemeinsame strategische Kultur“ zu entwickeln. Sie würde nach dem Freiwilligkeitsprinzip funktionieren, ihre Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen und sich auf Führungsnationen und die speziellen Fähigkeiten einzelner Länder stützen. Zu klären wäre allerdings, in welcher Form eine solche Gruppe mit den Institutionen der EU zusammenarbeiten könnte.
Deutschland und Frankreich, die für eine gemeinsame europäische Verteidigung unverzichtbar wären, haben sehr unterschiedliche militärische Kulturen: Für Deutschland kommt wegen seiner belasteten Vergangenheit ein Einsatz der Bundeswehr ohne die Zustimmung des Bundestags nicht infrage. Damit wäre die Durchführung sogenannter robuster Mandate und zeitsensibler Notfallaktionen zweifellos erschwert. In Afghanistan hat sich die Bundeswehr auf Entwicklungsaktivitäten und auf Tornado-Aufklärungsflüge beschränkt.
In Frankreich kann der Präsident der Republik allein über den Einsatz der Armee entscheiden – was in keinem anderen EU-Mitgliedsland möglich ist. Dadurch kann Paris sehr schnell reagieren, womit allerdings eine parlamentarische Kontrolle praktisch ausgeschlossen wird.
Auch bei den Rüstungsexporten gibt es große Unterschiede. In Deutschland wurden unter dem Einfluss der Sozialdemokraten zahlreiche Restriktionen beschlossen – und zum Beispiel gewisse Lieferungen nach Saudi-Arabien ausgesetzt. In Frankreich schaut man lieber weg, wenn die Waffenkäufer aus Riad im Jemen Kriegsverbrechen begehen. Man unterstützt vorzugsweise die heimische Rüstungsindustrie, die als Garant für ein Mindestmaß an Souveränität und Unabhängigkeit gilt.
Die Schaffung einer Eurogruppe der Verteidigung würde auch bald die Frage aufwerfen, ob Frankreich seinen nuklearen Schutzschild auf die anderen Mitgliedsstaaten ausweitet. Nach dem Brexit wäre Frankreich das einzige EU-Mitglied, das über ein nukleares Abschreckungspotenzial verfügt und einen permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat innehat (den deutsche Politiker gern in einen europäischen Sitz umwandeln möchten).
Ob der Brexit kommt oder nicht – in der Gleichung der Europäischen Sicherheit wird Großbritannien auch in Zukunft ein Faktor sein. Paris und London haben 2010 die bilateralen Lancaster-House-Verträge zur Rüstungs- und Verteidigungskooperation unterzeichnet. Beide Staaten bestreiten zusammen vier Fünftel der Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung innerhalb der EU und stemmen auch die Hälfte der gesamten Rüstungsausgaben der Union.
Macron träumt davon, Großbritannien in sein künftiges europäisches Verteidigungsbündnis einzubeziehen, das „im Einklang mit der Nato und unseren europäischen Verbündeten“ nicht nur eine „Erhöhung der Militärausgaben“ und die fortdauernde „Anwendungsfähigkeit der Klausel über die gegenseitige Verteidigung“ vorsieht, sondern auch einen „Europäischen Sicherheitsrat unter Einbeziehung Großbritanniens zur Vorbereitung unserer gemeinsamen Entscheidungen“.6
Wenn das Europa der Verteidigung auf ein Puzzle aus Allianzen und Abmachungen reduziert wird, kann dabei eigentlich nur ein Minimalkonsens herauskommen, der sich auf Absichtserklärungen beschränkt und die Interessen der Industrie bedient.
6 Zitiert nach: Die Zeit vom 4. März 2019.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Philippe Leymarie ist Journalist und Betreiber des Blogs „Défense en ligne“.