11.07.2019

Die Gespenster des Krieges

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Die Gespenster des Krieges

Zwischen 1975 und 1990 wurden im Libanon tausende Menschen verschleppt. Die Angehörigen kämpfen noch immer für ihr Recht auf Wissen

von Emmanuel Haddad

Verschwunden, aber nicht vergessen. Beirut, November 2018 BILAL HUSSEIN/picture alliance/ap
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Am Morgen des 28. November 2018 versammeln sich etwa 30 Frauen im Khalil-Gibran-Park im Zentrum von Beirut. In der neu aufgebauten Innenstadt ist nichts mehr zu sehen von den Zerstörungen des Bürgerkriegs, der zwischen 1975 und 1990 im Libanon wütete. Die Frauen sind aus dem ganzen Land angereist, um einer historischen Pressekonferenz beizuwohnen. Zwei Wochen zuvor, am 13. November, hatte das Parlament das Gesetz 105 zu verschleppten und verschwundenen Personen verabschiedet.1 In Artikel 2 heißt es, die betroffenen Familien hätten „das Recht, das Schicksal ihrer (während des Bürgerkriegs) verschleppten und verschwundenen Angehörigen zu kennen“. Das Gesetz sieht darüber hinaus die Schaffung einer unabhängigen Kommission vor, die die überall im Land verstreuten Massengräber lokalisieren soll, um die Gebeine zu bergen und zu identifizieren.

Die meisten Frauen tragen ein Kopftuch mit der Aufschrift „Wir haben das Recht zu wissen“. In den Händen halten sie vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos von ihren Söhnen, Ehemännern und Brüdern, die fast alle während des Kriegs verschwunden sind. Nach den offiziellen Zahlen sind 150 000 Menschen in dem Bürgerkrieg umgekommen, 17 415 werden bis heute vermisst.

Wadad Halwani, die das Komitee der Familien der entführten und verschwundenen Personen leitet, bahnt sich den Weg zu einem Plastiktisch, vor dem die Fernsehkameras postiert sind. Mit feierlicher Stimme verliest die pensionierte Grundschullehrerin eine Pressemitteilung: „Das Parlament hat dem Gesetz zu den Verschwundenen zugestimmt. Ihr, die Familien, ihr habt das erreicht. Erinnert euch an die erste Demonstration in Corniche al-Mazraa am 17. November 1982. Wir kannten uns damals nicht. Es war der Schmerz, der uns vereint hat.“

„Mein Mann Adnan wurde am 24.September 1982 entführt“, erzählt Halwani, als sei es gestern gewesen. „Ich hab überall nach ihm gefragt, und jedes Mal, sei es vom Premierminister oder vom Großmufti, hörte ich dieselbe Leier: ‚Meine Arme, Sie sind nicht die Erste, die zu mir kommt.‘“ Neugierig geworden, habe sie im Radio einen Aufruf gestartet, um all jene zusammenzutrommeln, die wie sie das Verschwinden eines Angehörigen zu beklagen hatten, erzählt Halwani. „Ich dachte, da kommen vielleicht vier Leute. Aber dann waren wir über 200 Frauen.“

Seit Beginn des Bürgerkriegs gehörte die Entführung von Zivilisten der jeweils gegnerischen Seite zur Taktik der verschiedenen Milizengruppen. Jonathan Randal, damals Korrespondent der New York Times im Libanon, erzählt in seinem Buch „The Tragedy of Lebanon“2 die Geschichte von Tariq Mitri, der sich auf die Befreiung von Kidnapping-Opfern spezialisiert hatte.

Mitri unterschied drei Kategorien von Entführern: Erstens fanatische Milizionäre, die unabhängig von ihren Organisationen handelten. Zweitens Mitglieder verschiedener bewaffneter Gruppierungen, die den Auftrag befolgten, eine bestimmte Anzahl Unschuldiger zu entführen, um die entführten Mitglieder der eigenen Gruppe freizupressen. Und drittens schließlich Einzelpersonen, die jemanden auf der Basis von „Verdächtigungen“ kidnappten, oft gestreut durch Dritte, aus ganz unterschiedlichen Motiven, wie Eifersucht oder geschäftliche Differenzen.

Für die Befreiung von Entführten brauchte man einen feinen Sinn für Diplomatie, ein exzellentes Netz von Kontakten und vor allem musste man schnell handeln können, erzählt Assaad Chaftari. Während des Kriegs war er die Nummer 2 im Nachrichtendienst der Forces Libanaises, einer der wichtigsten christlichen Milizen: „Wir haben Dutzende Befreiungsgesuche erhalten, meistens über Vermittler, Politiker, Militärs oder bekannte Persönlichkeiten. Wir mussten schnell handeln, denn zu Beginn des Konflikts wurden die Leute meist sofort umgebracht.“

Oft seien die Täter Milizionäre gewesen, die sich für den Tod eines Kameraden rächten, sagt Chaftari, oder Familien, die Gleiches mit Gleichem vergalten. Er gibt zu, auch selbst an mehreren Entführungen beteiligt gewesen zu sein. Heute ist Chaftari Mitglied der NGO Fighters for Peace, einer Gruppe von Ex-Milizionären, die sich für die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen einsetzt. In einem offenen „Brief an die Libanesen“ hat er vor 19 Jahren seine Opfer um Verzeihung gebeten.

Nach 15 Jahren Verschleppungen und anderer Verbrechen, verübt von den zahlreichen Milizen, aber auch von der syrischen und der israelischen Besatzungsarmee,3 setzten die libanesischen Behörden alles daran, die Vergangenheit vergessen zu machen. Am 26. August 1991 wurde ein Amnestiegesetz für alle während des Bürgerkriegs begangenen Verbrechen erlassen. 1995 folgte das Gesetz 434, in dem Angehörige von seit mehr als vier Jahren verschwundenen Personen aufgefordert wurden, diese für tot zu erklären.

„Man setzte alles daran, den Krieg hinter sich zu lassen“, sagt der Anwalt Nizar Saghieh von der libanesischen NGO Legal Agenda, der am Entwurf für das Verschwundenen-Gesetz 105 mitgearbeitet hat. „Alle wohlhabenderen Familien haben ihre Angehörigen für tot erklärt, um deren Erbe antreten zu können.“ Seit 1995 haben vor allem die ärmeren Familien weitergekämpft, um zu erfahren, was mit ihren verschwundenen Angehörigen geschehen ist.

Das Gesetz 434 von 1995 markierte den Beginn einer Verschleierung, die Ghassan Halwani, Wadads jüngster Sohn, als „doppeltes Verschwindenlassen“ bezeichnet. 2018 wurde sein Dokumentarfilm „Palimpseste, l’ascension de l’invisible“, in dem er das Schicksal mehrerer Verschwundener behandelt, auf dem Filmfestival Cinemed in Montpellier mit dem Ulysses-Preis ausgezeichnet. In einer Szene heißt es: „Ein Verbrechen geschieht in zwei Akten: Zunächst der Akt des Tötens. Danach die Beseitigung der Beweise.“ Im Hintergrund sieht man eine Luftaufnahme vom zerstörten Nachkriegsbeirut, die von einer heutigen Ansicht der wiederaufgebauten Stadt überblendet wird. Darauf sind mit Pfeilen mehrere Orte gekennzeichnet, wo sich Massengräber befunden haben. Heute stehen dort etwa eine hippe Diskothek, ein Golfplatz und eine Uferpromenade. Über die beiden beliebtesten Viertel in der Stadt erfährt der Zuschauer: „Wenn man von Hamra nach Mar Mi­khaël läuft, kommt man, je nachdem, welchen Weg man nimmt, an zwei oder drei Massengräbern vorbei.“

Die Frage, wie viele zu exhumierende Massengräber es im Libanon noch gibt, sollte eine im Januar 2000 ins Leben gerufene Untersuchungskommission beantworten. Sechs Monate später legte sie einen zweiseitigen Bericht vor, der die Zahl der Verschwundenen auf lediglich 2046 bezifferte und diese „offiziell für tot“ erklärte. Die Kommission gab die Existenz von Massengräbern zwar zu und lokalisierte auch ein paar, befand aber, dass die restlichen nicht mehr zu identifizieren seien. Zehn Jahre später wurde der Leiter der Kommission, General Salim Abou, von der libanesischen Dokumentations- und Rechercheorganisation Umam darauf angesprochen – und zeigte sich erstaunt: „Was soll das bringen? Welchen Nutzen hat es, Tausende Knochen auszugraben?“ Die libanesische NGO Act for the Disappeared beziffert die Anzahl der Massengräber auf mindestens 115. Über jedes einzelne hat sie Informationen zusammengetragen, die sie der zukünftigen, im Gesetz 105 vorgesehenen Untersuchungskommission aushändigen will.

Khadijas 17-jähriger Sohn Ahmad wurde vor ihren Augen verschleppt. Von 1982 bis zu ihrem Tod 2016 hat sie an jeder Demo teilgenommen. „Bis zum Ende ihres Lebens sagte sie: ‚Ahmad wird zurückkommen‘. Nun sage ich dasselbe wie sie“, erzählt Khadijas Tochter Sawssan. Für sie wie für Tausende andere Familien würde mit der Identifizierung des geliebten Menschen die lange Zeit der „eingefrorenen“ oder „weißen“ Trauer enden, die oft zu schweren psychischen Leiden führt.4

Letztes Jahr hat Sawssan beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) eine DNA-Referenzprobe abgegeben. Seit 2015 hat das IKRK 1500 Proben gesammelt, mit denen die aus den Massengräbern geborgenen Knochen identifiziert werden können. Für die Angehörigen ist es auch ein Versuch, der Verdrängungspolitik der libanesischen Behörden etwas entgegenzusetzen. „1998 bekam meine Mutter ihren ersten Herzinfarkt. Damals hat Präsident Elias Hraoui verkündet, dass die Überreste der Verschwundenen ins Meer geworfen oder unter Asphalt begraben werden sollten, um einen Schlussstrich zu ziehen“, erzählt Sawssan. Hraoui behauptete auch entgegen allen Beweisen, dass kein Libanese in einem syrischen oder israelischen Gefängnis eingesperrt gewesen sei.

Moussa Saab saß 15 Jahre in verschiedenen syrischen Kerkern. „Ich saß vier Jahre im syrischen Militärknast Saidnaya. Ich hörte libanesisches Radio, als Elias Hraoui diese Rede hielt. Wir waren Hunderte Gefangene in Syrien, die das hörten.“ Saab kam am 12. Dezember 2000 frei. Seine und die Entlassung von 53 weiteren Gefangenen aus syrischen Gefängnissen sowie die Entdeckung von immer neuen Massengräbern überall im Libanon erschwerten die Versuche der libanesischen Regierung, die Akte der Verschwundenen zu schließen.5

Durch das Gesetz 105 besteht nun zum ersten Mal die Möglichkeit, dass die Erzählung über den Krieg den Verantwortlichen entzogen wird und zu den Opfern wechselt, die bislang zum Schweigen und zur Unsichtbarkeit verdammt waren. Aber auch das neue Gesetz wirft Fragen auf: „Warum gerade jetzt?“, fragt Lokman Slim, Schriftsteller, Verleger und Gründer des Dokumentationszentrums Umam. Er hält auch nichts davon, das Gesetz als erfolgreichen Abschluss des 36 Jahre währenden Kampfes der Familien der Verschwundenen zu bezeichnen. Für Slim ist das Gesetz 105 vor allem ein Versuch der Politik, sich ohne großen Aufwand Ansehen zu erkaufen. „Das ist ein klassisches Vorgehen des libanesischen Parlaments, Gesetze zu verabschieden, die der internationalen Gemeinschaft gefallen.“ Er fürchtet, dass es dem Gesetz 105 ebenso ergehen wird wie den 39 anderen, die zu ähnlichen Themen erlassen wurden und immer noch auf ihre Umsetzung warten.

Besonders Artikel 37, der dem Gesetz während der Plenarsitzung in letzter Minute beigefügt wurde, könnte dazu führen, dass es nicht viel zur Aufarbeitung der im Krieg begangenen Verbrechen beitragen wird. Er besagt nämlich, dass jeder, der zu einer Entführung angestiftet, sie organisiert oder sich als Komplize beteiligt hat, mit 5 bis 15 Jahren Gefängnis bestraft wird. Das sei das Gegenteil dessen, was die Angehörigen wollten, erklärt Wadad Halwani. „Uns geht es um das Recht auf Wissen und nicht um Strafjustiz.“

Auch Assaad Chaftari befürchtet eine negative Wirkung des Artikels: „Wenn man über denjenigen, die während des Kriegs Verbrechen begangen haben, das Damoklesschwert schwingt, bezweifle ich, dass sie aussagen werden.“

Wadad Halwani ist erschöpft von den immer neuen nicht gehaltenen Versprechen der libanesischen Politiker. Und auch jetzt macht sie sich keine Illusionen: „Die Verabschiedung des Gesetzes ist nur eine Etappe. Als Nächstes steht die Berufung der zehn Mitglieder für die zukünftige Kommission an. Da geht unser Kampf weiter.“ Man müsse dafür sorgen, dass die Kandidaten nicht nach politischen oder konfessionellen Kriterien ausgewählt werden, wie es im Libanon üblich sei, sagt Halwani.

Ihr Sohn Ghassan sagt, er wolle die gesamte libanesische Gesellschaft dazu bewegen, sich der Geschichte der Verschwundenen anzunehmen. Seit 2015 arbeitet er an der Digitalisierung der Archive, die seine Mutter und ihre Mitstreiterinnen zusammengetragen haben. Das Material – in 36 Jahren akribisch gesammelte Zeitungsausschnitte, Reden und Pressemitteilungen von und über die Bewegung der Familien von Verschwundenen – ist der Rohstoff für eine Neuinterpretation des Bürgerkriegs, die die Verschwundenen ein für alle Mal aus der Unsichtbarkeit holt.

Sie waren zwar bisher von der Erinnerung an diesen Krieg ausgeschlossen, für die libanesische Verwaltung jedoch waren sie stets lebendig. Am Ende seines Dokumentarfilms erzählt Ghassan Halwani die Episode von Richard und Christine, die im Krieg entführt wurden und seither vermisst werden. Der Antrag eines Investors, der das Anwesen des Paars kaufen wollte, wurde vom Richter mit der Begründung abgelehnt, die beiden seien offiziell noch nicht für tot erklärt worden.

1 Veröffentlicht am 6. Dezember 2018 im Journal Officiel de la République libanaise. Auf Englisch übersetzt wurde das Gesetz von der libanesischen NGO Umam Documentation and Research, www.umam-dr.org.

2 Jonathan Randal, „The Tragedy of Lebanon. Christian Warlords, Israeli Adventures and American Bunglers“, London (Chatto and Windus) 1983.

3 Die syrische Armee war von 1978 bis 2005 im Libanon, die israelische von 1976 bis 2000.

4 Pauline Boss, „Ambiguous Loss. Learning to Live with Unresolved Grief“, London (Harvard University Press) 2000.

5 Siehe dazu den Dokumentarfilm von Monika Borgman und Lokman Slim „Tadmor“ (2016, Libanon/Frankreich/Schweiz/Katar/UAE), der sich mit dem Schicksal von 20 politischen Gefangenen aus dem Libanon in Syrien beschäftigt. Vgl. Akram Belkaïd, „L’ombre du bagne de Palmyre plane sur la Syrie“, Orient XXI, 29. Dezember 2016.

6 Siehe Carla Eddé, „Les mémoires des acteurs de la guerre: le conflit revisité par ses protagonistes“, in: „Mémoires de guerres au Liban (1975–1990)“, hrsg. von Franck Mermier und Christophe Varin, Arles (­Actes Sud) 2010.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Emmanuel Haddad ist Journalist in Beirut.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2019, von Emmanuel Haddad