13.06.2019

Die Folgen der Sanktionen in Iran

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Die Folgen der Sanktionen in Iran

von Marmar Kabir

Jonathan Lasker, Quantifiable Reason, 2008, Öl auf Leinwand, 41 x 30 cm
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Am 8. Mai 2018 hat Donald Trump, auf Betreiben seiner Partner in Israel und Saudi-Arabien, den Rückzug aus dem Atomabkommen mit Iran verkündet und die US-Sanktionen gegen Teheran wieder in Kraft gesetzt. Am 21. Mai dieses Jahres drohte der US-Präsident in einem Tweet sogar mit dem „offiziellen Ende Irans“; seit Anfang Mai waren bereits US-Kriegsschiffe, Bomber und Soldaten in Richtung Persischer Golf unterwegs.

Das iranische Volk hat die grausamen Folgen zu tragen: Die Landeswährung hat in den letzten Monaten über 70 Prozent ihres Wertes verloren, Unternehmen müssen schließen, die Arbeitslosigkeit steigt, speziell bei der jungen Generation.1 Auch das Gesundheitssystem ist von den Sanktionen betroffen, viele Kranke müssen auf ihre Medikamente verzichten. Hinzu kommt der allgemeine wirtschaftliche Druck, unter dem die gesamte Bevölkerung leidet. In dieser Situation haben Schwarzmarkt und Schmuggel Hochkonjunktur.

Unter den Sanktionen haben vor allem die schwächeren sozialen Schichten zu leiden. Das trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei. Ohnehin hat sich in den letzten Jahren die soziale Kluft zwischen den Reichen und den Armen vertieft – zwischen den schicken Stadtvierteln im Norden Teherans und den Bewohnern der Vorstädte, wo die Arbeitslosenquote am höchsten und das soziale Elend am größten ist. Die untersten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über 2 Prozent der Einkommen, die oberen 10 Prozent über mehr als 30 Prozent.2

Weil unabhängige Parteien und Gewerkschaften unterdrückt werden, fanden soziale Forderungen in Iran niemals einen kollektiven Ausdruck. Stattdessen werden gesellschaftliche Forderungen auf individueller Ebene artikuliert: Viele Frauen halten sich nicht mehr an die strikte, in den 1980er Jahren eingeführte Kleiderordnung, sondern tragen kurze, farbenfrohe Mäntel und Make-up.

In der kulturellen Sphäre entstehen immer neue Undergroundbands, neue Galerien und andere Orte des Austauschs. In den letzten Jahren hat das Land zahlreiche künstlerische Talente hervorgebracht, die weltweit Anerkennung finden.

Die 2015 erzielte Einigung im Atomstreit hatte die Hoffnungen befördert, dass die demokratischen Kräfte erstarken und in organisierter Form gesellschaftliche Forderungen artikulieren würden. Für die junge Generation, die zuvor mehrheitlich das Land verlassen wollte, taten sich neue Perspektiven auf. Manche Iraner kehrten nach langen Jahren der Entfremdung aus dem Exil zurück, zum Teil auch wegen des steigenden Rassismus in ihren Aufnahmeländern.

Nach der Unterzeichnung des Atom­abkommens entwickelte sich Iran auch zu einem der begehrtesten Reiseländer der Region. Doch die erwarteten umfassenden Investitionen aus dem Ausland, vor allem aus Europa, ließen auf sich warten; häufig blieb es bei Absichtserklärungen.

Die jetzt verhängten Sanktionen sind in den Augen der iranischen Bevölkerung besonders frustrierend und ungerecht. Man glaubte, die Feindseligkeiten der düsteren Jahre seien überwunden, dank iranischer Filmemacher und Musiker sei es gelungen, ein anderes Bild ihres Landes zu vermitteln. Die Enttäuschung nahm zu, als die westlichen Medien über die zahlreichen Opfer der Überschwemmungskatastrophe im März nur am Rande berichteten und die erhoffte internationale Hilfe ausblieb.

Heute ist fast die gesamte Warenproduktion – von Medikamenten bis zu Flugzeugersatzteilen – ganz oder teilweise in globale Lieferketten inte­griert. Die benötigten Medikamente werden zwar großenteils im Land selbst hergestellt, aber Roh- und Zusatzstoffe sowie Verpackungsmaterial müssen importiert werden.

„80 Prozent der Pharmaprodukte sind knapp“, sagt Mohammad-Naim Aminifard, Mitglied des Gesundheitsausschusses im Parlament.3 Und er nennt Medikamente, die zur Behandlung von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Parkinson, aber auch zur Durchführung chirurgischer Eingriffe unentbehrlich sind. Viele dieser Mittel sind immer schwerer zu beschaffen und sehr teuer.

Fehlende Rohstoffe bedeuten auch, dass Fabriken schließen müssen oder Handwerker nicht mehr arbeiten können. Der Währungsverfall und die erneute Isolation des Landes treffen alle Bereiche der Gesellschaft. Das durchschnittliche Einkommen der iranischen Haushalte liegt nach Angaben in den Medien bei monatlich 3,66 Millionen Rial (250 Euro).

Der Brotpreis ist halbwegs stabil geblieben, aber rotes Fleisch kostet bereits 5 Euro pro Kilo. Und der Preis für Hühnchen hielt sich nur dank der Rationierungsmarken bei 1 Euro pro Kilo. Für eine Eigentumswohnung bezahlt man heute doppelt so viel wie vor einem Jahr, und die städtischen Mieten liegen mittlerweile über dem durchschnittlichen Einkommen.

Um die Menschen angesichts der galoppierenden Inflation zu unterstützen, verteilt die Regierung Nahrungsmittelpakete an die Ärmsten und an manche Staatsbedienstete. Dennoch können sich viele Familien kein Fleisch und kein Obst mehr leisten.

Ein einfaches Mobiltelefon kostet ungefähr ein mittleres Monatsgehalt. Dabei gehört Iran zu den Ländern mit der höchsten Internetnutzungsrate im Mittleren Osten. Und Smartphones sind quasi lebensnotwendig: Viele Iraner haben auf ihren Mobiltelefonen VPN-Apps installiert, um die Zensur von Facebook, Twitter und YouTube zu umgehen. Man will sich frei in­formieren, austauschen und die ­Verbindung nach außen aufrechterhalten.

Um die Sanktionen zu umgehen, setzt das Regime vor allem auf die Unterstützung von China und Russland. Laut statistischen Angaben des chinesischen Zolls haben die Rohölimporte aus Iran den höchsten Stand der letzten fünf Jahre erreicht.4 Teheran will auch mehr ­Touristen anziehen, und zwar nicht nur aus Europa, sondern auch aus ­Asien.

Zugleich will das Regime den Pa­trio­tis­mus der Iraner nutzen und wirbt für eine „Wirtschaft des Widerstands“. Ende Mai verkündete Parviz Fattah, Leiter der Imam Khomeini Relief Foundation: „Bei ihrem Plan, eine Revolte der Armen gegen die Islamische Republik Iran anzuzetteln, haben sich Trump und seine Komplizen gründlich verrechnet.“

Am 29. Mai wurde Vida Movahed, Gründerin der Bewegung „Die Mädchen von der Enghelab-Straße“ und eine der Symbolfiguren für den Widerstand gegen die Kopftuchpflicht, aus dem Gefängnis entlassen, nachdem sie erst am 2. März zu einem Jahr Haft verurteilt worden war. Offenbar will die Regierung die Spannungen mildern und die Proteste eindämmen. Zugleich wurden jedoch die Instagram-Accounts einiger Musikerinnen (wie Naghmeh Morad Abadi) blockiert.

Millionen Iraner stehen vor einer ungewissen Zukunft. 70 Prozent der Bevölkerung sind unter 40 Jahre alt und wollen in Frieden arbeiten und leben. Wenn ein militärischer Vorwand oder ein inneres Ereignis chaotische Entwicklungen oder gar einen tödlichen Krieg auslösen sollte, stellt sich die Frage, ob ein Volk, das bereits so viel gelitten hat, seine kollektive Vernunft bewahren kann. ⇥Marmar Kabir

1 Nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenquote bei 12 Prozent, unabhängige Beobachter gehen vom doppelten Prozentanteil aus, besonders unter jungen Menschen.

2 Iranisches Statistikzentrum, Verteilung von Einkommen und Ausgaben: www.amar.org.ir/.

3 „Iran: avec les sanctions, les médicaments étrangers se font rares“, 18. Oktober 2018, Capital.fr.

4 Nach Angaben der Nachrichtenagentur Isna vom 28. Mai 2019 lagen die chinesischen Rohölimporte aus Iran im April bei 792 380 Barrel pro Tag.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Marmar Kabir ist Mitarbeiterin der Farsi-Ausgabe von Le Monde diplomatique.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Marmar Kabir