13.06.2019

Kommt doch rüber

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Kommt doch rüber

China umgarnt Taiwans Jugend und attackiert die Regierung in Taipeh

von Alice Hérait

Gedenken an das Tiananmen-Massaker, Taipeh, 1. Juni 2019 CHIANG YING-YING/ap
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Auf dem 13. Nationalen Volkskongress am 20. März 2018 wandte sich Xi Jinping, soeben als Präsident der Volksrepublik China im Amt bestätigt, in seiner Abschlussrede auch an die Bewohner Taiwans: „Wir sind bereit, die Früchte der wirtschaftlichen Entwicklung des Kontinents mit unseren taiwanischen Landsleuten zu teilen, um ihren Wohlstand zu steigern und den Prozess der friedlichen Wiedervereinigung mit China voranzutreiben.“1 Und er lud die Taiwaner herzlich ein, zu kommen und zu sehen, was das Mutterland zu bieten hat. Indirekt spielte der Staats- und Parteichef, der derzeit über mehr Macht verfügt als je zuvor, damit auf die Verfassung von 1982 an, die in ihrer Präambel die Wieder­ver­eini­gung mit Taiwan vorsieht.

Xis Rede fällt in eine Zeit starker Spannungen, seit sich 2016 Taiwans gerade frisch gewählte Präsidentin Tsai Ing-wen2 geweigert hat, den „Konsens von 1992“ anzuerkennen. Unter der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ hatten sich die beiden Länder vor allem deshalb annähern können, weil Peking und Taipeh offen gelassen hatten, welches China das legitime sei. Doch nach Tsais Verlautbarung erhöhte Peking den Druck: Allein zwischen Juli und Dezember 2017 drang die chinesische Luftwaffe vierzehnmal in den taiwanischen Luftraum ein.3

China sorgte auch dafür, dass Taiwan aus internationalen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgeschlossen wurde. Fluggesellschaften mussten auf ihren Webseiten die Insel als Teil Chinas darstellen. Zudem betrieb die Volks­re­pu­blik China eine erpresserische Politik gegenüber mehreren Staaten, um Taiwan außenpolitisch zu isolieren: Heute erkennen nur noch siebzehn Staaten den Inselstaat offiziell an, fünf weniger als 2016.

Nach Meinung von Wen Chih-Chao, Leiter des Instituts für internationale und strategische Angelegenheiten der Chung-Cheng-Nationaluniversität in Chiayi (Taiwan), hat sich Chinas Leitlinie seit 1979, als Deng Xiaoping seine erste Grundsatzrede zur Wiedervereinigung gehalten hat, nicht geändert. Mit dem einzigen Unterschied, dass China heute sehr viel mächtiger sei und sich daher erlauben könne, unilateral zu agieren: "Peking verfolgt eine harte Politik gegenüber den taiwanischen Institutionen und eine weiche Politik gegenüber seinen Staatsangehörigen“, sagt Wen Chih-Chao.

Die „weiche Politik“ steht für eine Strategie der Verführung, mit der man die Herzen der Taiwaner gewinnen wollte. Im Februar 2018 verkündete das Büro für taiwanische Angelegenheiten 31 Maßnahmen, um mehr Bürger der Insel anzulocken. 12 davon erleichtern den Zugang zum chinesischen Markt, es sind vor allem Steuerbefreiungen für Unternehmen; die übrigen sollen den Arbeitsmarkt für Taiwaner öffnen und den Kulturaustausch fördern. Am 1. März 2018 wurde der Sprecher des Büros An Fengshan im taiwanischen Magazin CommonWealth mit den Worten zitiert, durch diese „nie dagewesenen“ Maßnahmen kommunizierten die Inselbewohner „auf Augenhöhe mit ihren Mitbürgern vom Kontinent“.

Tatsächlich räumt ihnen die chinesische Regierung sogar Privilegien ein. Die Zugangshürden der besten Universitäten wurden für taiwanische Abiturienten gesenkt, zudem können sie Stipendien und Wohnungen beantragen. Taiwaner haben es leichter, an der renommierten Peking-Universität zu studieren, um dadurch auf dem chinesischen Arbeitsmarkt zu reüssieren. Chinesen vom Festland dagegen müssen sich großer Konkurrenz stellen und hohe Studiengebühren zahlen. Die Bevorzugung gilt landesweit: So hat die elitäre Zhejiang-Universität im letzten Jahr 600 Erstsemester aus Taiwan aufgenommen (2017 waren es noch 150).

Seit 2008 Direktflüge zwischen dem Festland und Taiwan eingerichtet wurden, bieten Universitäten und private Bildungsträger zahlreiche Austauschprogramme, Sommerschulen oder Praktika in der Volksrepublik an, und zwar zu konkurrenzlos günstigen Preisen. NGOs wie die Association of Chinese Elites (ACE) organisieren die Aufenthalte auf dem Kontinent. Auf dem Programm stehen Besichtigungen historischer Stätten und wichtiger Unternehmen sowie Seminare und Kontaktpflege.

Katie Lin und Iris Cheng,4 Absolventinnen der angesehenen Nationaluniversität Taiwan (NTU), haben während ihres Studiums an solchen Aufenthalten teilgenommen. „In Taiwan ist das Thema China zwar allgegenwärtig, aber man weiß nicht so genau, wie es dort wirklich läuft. Ich bin hingefahren, weil ich das Land mit eigenen Augen sehen wollte, aber vor allem, weil es so billig war“, erzählt Lin, die im Sommer 2012 in der Provinz Guang­dong im Süden Chinas war.

Auch Cheng, die 2014 ein zweimonatiges Redaktionspraktikum bei Beijing TV Network absolviert hat, dem wichtigsten Fernsehsender Pekings, bewertet diese Erfahrungen als gute Chance für neugierige, mittellose Studierende: „Chinesen bekommen nur selten die Gelegenheit, ein solches Praktikum zu machen, aber für mich war es ganz einfach. Die Redaktion hat mich sehr herzlich aufgenommen. Trotzdem haben mir meine Kollegen deutlich signalisiert, dass Taiwan ein Tabuthema ist. Der Chefredakteur legte jede Woche eine Liste mit außenpolitischen Themen an, über die nicht berichtet werden durfte.“

Während sich Presse und Öffentlichkeit in Taiwan über solche Reisen aufregen, zeigt sich die Regierung gelassen. Wu Chih-Chung, der Repräsentant Taiwans in Frankreich,5 hält die Strategie der Pekinger Führung für nicht zielführend: „Die Taiwaner klagen zwar über niedrige Gehälter, aber die Kaufkraft im Land ist immer noch relativ komfortabel. Wenn China ganz Taiwan von sich überzeugen wollte, dann müsste seine Wirtschaft jährlich um 10 Prozent wachsen. Aber das Wachstum verlangsamt sich, und die Chinesen haben jetzt auch mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Außerdem ist es nicht immer vernünftig, bestimmte Gruppen zu privilegieren. Angenommen, China gibt den Taiwanern gute Arbeitsplätze und ein ordentliches Gehalt. Wie fühlen sich dann die Chinesen, wenn sie selbst nichts dergleichen bekommen?“

Xi Jinping zählt auf die wirtschaftliche Stärke seines Landes, um die Taiwaner zu beeindrucken und sie von seinem System zu überzeugen. Doch das funktioniert nicht unbedingt.

Bonnie Cheng findet China zu materialistisch

„In Taiwan gilt es als anmaßend, wenn man seine Stelle kündigt, nur um 25 Prozent mehr zu verdienen. Wenn ein Bewerber in China dagegen nicht über die Höhe seines Gehalts verhandelt, betrachtet man das als Zeichen von Unfähigkeit und mangelndem Selbstbewusstsein“, erklärt Bonnie Cheng, die seit einem halben Jahr in Schanghai wohnt. Die 25-jährige Taiwanerin wollte gleich nach dem Studium ihr Glück auf dem Festland versuchen; sie brauchte nicht einmal zwei Wochen, um einen Arbeitsplatz zu finden. Sie ist jedoch noch unsicher, ob sie langfristig in China bleiben will, denn sie schätze die „Sitten und Gebräuche der Chinesen“ nicht besonders, sie seien ihr „zu materialistisch“.

Nach Meinung von Tanguy Lepesant vom französischen Forschungszentrum für das zeitgenössische China (CEFC) beflügelt vor allem die Aussicht auf eine interessante Karriere den Nachwuchs von der Insel: „Die jungen Leute ergreifen die Gelegenheit, denn sie leiden in Taiwan unter schwierigen Arbeitsbedingungen, zu niedrigen Löhnen und hohen Mieten. Doch wer weggeht, muss auch mit einem schlechteren Lebensstandard zurechtkommen. Die Gesundheitsversorgung ist nicht so einfach zugänglich, hinzu kommen die Zensur und die Umweltverschmutzung. Viele kommen dann lieber zurück, auch wenn sie hier weniger verdienen.“

Taiwan muss sich also keine Sorgen machen. Zudem ist nach Angaben des Repräsentanten Wu Chih-Chung „die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte nichts Neues, und ihr bevorzugtes Ziel ist auf keinen Fall China“. Eine Umfrage der taiwanischen Ausgabe von Business Weekly vom 4. April 2016 bestätigt seine Aussage: Wenn sie wählen könnten, würden die meisten jungen Absolventen nach Japan gehen; mit großem Abstand folgen die westlichen Länder (die USA und Europa) sowie Singapur. Festlandchina steht erst auf dem vierten Platz.

Auch wenn es noch zu früh ist, die Auswirkungen von Xis 31 Anreizen zu beurteilen, hält es Lepesant für wenig wahrscheinlich, dass er damit die Herzen der Taiwaner erobern wird: „Die Studien zeigen, dass die Unterstützung für die Unabhängigkeit leicht zurückgegangen ist. 2016 sprachen sich noch 22,9 Prozent der befragten Taiwaner für eine sofortige oder langfristig angestrebte Unabhängigkeit aus, 2018 waren es schon 20,3 Prozent.6

Die Presse in der Volksrepublik war begeistert. Doch dieser Rückgang hängt nicht mit Xis Maßnahmen zusammen, es ist eher eine Art Rückkehr zur Normalität. Der Wunsch nach Unabhängigkeit war zuvor wegen der allzu chinafreundlichen ­Politik des früheren Präsidenten Ma Ying-jeou gewachsen.“

Die engen Handelsbeziehungen zwischen China und Taiwan hatten 2014 zu einem Anstieg antichinesischer Ressentiments und zu heftigen Protesten der sogenannten Sonnenblumen-Bewegung7 geführt. Nach Tsais Wahl zur Präsidentin, die sich Peking gegenüber weniger nachgiebig zeigte, sei das Engagement für die Unabhängigkeit jedoch wieder zurückgegangen, erklärt Lepesant. Die Mehrheit der Taiwaner sei weder für Wiedervereinigung noch für Unabhängigkeit, sondern für eine friedliche Bewahrung des Status quo. „Sie betrachten sich zugleich als Taiwaner und als Chinesen. Auch wenn sie nicht zur chinesischen Nation gehören, fühlen sie sich doch als Teil der chinesischen Kultur und Zivilisation. Die 3 Prozent, die sich auch als Angehörige der chinesischen Nation betrachten, sind meist alte Leute, die sich nach der Vergangenheit zurücksehnen.“

Die China-Aufenthalte der jungen Leute, die sich gewöhnlich im Unterschied zu den älteren Menschen als Taiwaner bezeichnen, werden vielleicht sogar das Gegenteil von dem erreichen, was Präsident Xi bezweckt: „Ich fühle mich nicht mehr als Chinesin als vorher“, sagt die 24-jährige Jenny Wang, die seit zwei Jahren in Peking studiert. „Ich hänge an der Demokratie, die in Taiwan herrscht. Als Taiwanerin wirst du hier ständig dazu gedrängt, dich zur Chinesin zu erklären. Im Internet stürzen sich die Leute immer gleich auf alles, was ihnen unpatriotisch vorkommt. Mich bringt das eher noch mehr ab von der Vorstellung, ich sei Chinesin.“

1 „Speech delivered by Xi Jinping at the first session of the 13th NPC“, Xinhua, 21. März 2018.

2 Siehe Tanguy Lepesant, „Andere Pläne für Taiwan“, LMd, Mai 2016.

3 „China-Taiwan tensions drive military exercises“, Jane’s Intelligence Review, London, 2018.

4 Die Namen der Interviewpartnerinnen wurden auf ­ihren Wunsch hin geändert.

5 Frankreich hat (ebenso wie Deutschland) die „Ein-China-Politik“ anerkannt, deshalb verfügt Taipeh nicht über eine Botschaft, sondern nur über eine Vertretung.

6 „Changes in the Taiwanese/Chinese identity of Taiwanese“, Chengchi-Nationaluniversität, Taipeh, 30. Januar 2019.

7 Siehe Tanguy Lepesant, Anmerkung 2.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Alice Hérait ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Alice Hérait