13.06.2019

Jokowi, der Pragmatiker

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Jokowi, der Pragmatiker

Indonesiens alter und neuer Präsident ist ein Meister des politischen Ausgleichs

von Rémy Madinier

Joko Widodo auf der Siegerstraße DITA ALANGKARA/ap
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Bei den indonesischen Präsidentschaftswahlen am 17. Ap­ril gewann Amtsinhaber Joko Widodo, genannt Jokowi, gegen seinen einzigen Mitbewerber Prabowo Subianto, der ihn bereits bei der letzten Wahl 2014 herausgefordert hatte. Die Neuauflage des Zweikampfs bot einige Unwägbarkeiten – da sich die ideologischen Linien während des Wahlkampfs zunehmend verwischten.

2014 propagierte Prabowo, General a. D. und Schwiegersohn des Diktators Suharto (1966–1998), einen Autoritarismus nach Art von Suhartos „Neuer Ordnung“ (Orde Baru). Bei seinen Auftritten zelebrierte er eine an Mussolini erinnernde Kitschästhetik und gerierte sich, unterstützt unter anderem von den Islamisten, als Bollwerk gegen das demokratische Chaos der Reformasi. So wird in Indonesien der langsame Übergang zur Demokratie genannt, der 1998 mit dem Sturz des greisen Diktators begann. Präsident Jokowi, der aus einfachen Verhältnissen stammt, setzte diesen Kurs fort, er will den Abgehängten wieder eine Stimme geben und die – durch seinen Konkurrenten geschürten – ethnischen und religiösen Spannungen abbauen.

Doch Jokowis Bilanz nach fünf Jahren im Amt fällt gemischt aus, vor allem im Hinblick auf Menschenrechte – man denke nur an die andauernde Militärgewalt gegen die einheimische Bevölkerung von Westpapua (Neuguinea).1 Die Begeisterung des progressiven Lagers für Jokowi ließ nach, als Teile der indonesischen Oligarchie seinen Wahlkampf unterstützten, und noch mehr, als er Ma’ruf Amin, einen alten Konservativen der traditionalistischen islamischen Organisation Nahd­la­tul Ulama (NU, „Wiedererwachen der Gelehrten“), als Vizepräsidenten nominierte.

Zugleich erweckte Prabowo den Eindruck, er bekenne sich inzwischen zu einer friedlichen Demokratie. Sein Ton war zivilisierter, und in seinem Erscheinungsbild erinnerte er an Indo­nesiens ersten Präsidenten Sokarno.2 Indem er sich den jungen Vizegouverneur von Jakarta, Sandiaga Uno, der ein US-Universitätsdiplom besitzt, als Stellvertreter an die Seite holte, präsentierte er sich zudem zukunfts­orien­tiert.

Dass Amtsinhaber Jokowi dennoch 55,5 Prozent der angegebenen Stimmen erhielt, wurde in den westlichen Medien ohne besonderen Enthu­sias­mus gewürdigt. Das Wahlergebnis selbst trat auch deshalb in den Hintergrund, weil mehr als 300 Wahlhelfer in den über 800 000 Wahllokalen – zeitgleich mit den Präsidentenwahlen fanden auch Parlaments- und Kommunalwahlen statt – nach durchgearbeiteten Nächten mutmaßlich an Erschöpfung starben.3

Sie werden in ihrem Land nun als „demokratische Märtyrer“ bezeichnet, was, neben der hohen Wahlbeteiligung von 80 Prozent, von der enormen Tragweite dieser Wahl zeugt: In Zeiten von wachsendem Populismus, Nationalismus und autoritärem Islamismus konnte Indonesien – eine der wenigen Demokratien der muslimischen Welt – dem tödlichen Zusammenspiel dieser drei Plagen entkommen.4

Nun hat das Land für fünf weitere Jahre die Chance, den Kurs der Reformasi fortzusetzen. Was auf dem Spiel stand, wird deutlich, wenn man den historischen Kontext der vergangenen Jahrzehnte und die Entwicklung der letzten Monate in den Blick nimmt. Bei seinem letzten Auftritt vor der Wahl kritisierte Prabowo vor hunderttausenden muslimisch-nationalistischen Anhängern die „Schändung des Vaterlands“ und die „Verfolgung von Ulama“.5 Nach ihm heizte Habib Rizieq Shihab, Chef der Islamischen Verteidigungsfront (Front Pembela Islam, FPI), die Stimmung im Stadion mit einer langen Schmährede an, die aus Saudi-­Ara­bien übertragen wurde.

Dorthin hat sich der neosalafistische Prediger auf der Flucht vor der indonesischen Justiz abgesetzt. Prabowo und Sandiaga, versicherte er, seien „keine Feinde des Islam“, und sie schützten auch keine „Kommunisten, Liberalen, Andersgläubigen und schamlose, unerlaubte Handlungen“.

Noch drei Wochen nach dem Urnengang weigerte sich Prabowo wie bei der letzten Wahl und wider alle Beweise, das Ergebnis anzuerkennen. Der erklärte Erbe des oligarchischen Suharto-Sultanismus und mutmaßliche Kriegsverbrecher6 hatte wohl geglaubt, seine Zeit sei endlich gekommen. Immerhin hatte er 2017 mit seinem Bündnis aus islamischen Fundamentalisten und einem Teil der Oligarchie Jokowis Stellvertreter Basuki Tjahaja Purnam, genannt Ahok, zu Fall gebracht: Der wurde der Gotteslästerung angeklagt, verlor daraufhin bei den Wahlen sein Amt als Gouverneur von Jakarta und wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Ab dem 2. Dezember 2016 (daher der Name „212-Bewegung“) kam es in der Hauptstadt zu Großdemonstrationen gegen Ahok. Sie waren Teil einer identitätspolitischen Kampagne, bei der es um die chinesische Abstammung und christliche Religionszugehörigkeit des Politikers ging.7 Finanziert wurde „212“ von mehreren einflussreichen Familien, die aufgrund des neuen, transparenteren Vergabesystems keine öffentlichen Aufträge mehr erhalten hatten.

Für Prabowo, dessen Unterstützer bereits beim Wahlkampf 2014 gegen den angeblichen „Kryptochristen“ Jokowi zu Felde gezogen waren, war die Ahok-Affäre natürlich von Vorteil. Doch sein Plan ging nicht auf. Denn der pragmatische Präsident Jokowi führte einen Wahlkampf, der jene Kräfte, die sich gegen ihn hätten zusammenschließen können, ziemlich verwirrte.

Die indonesische Politik ist von zwei grundlegenden Gegebenheiten geprägt. Eine davon ist der starke Einfluss der während der „Neuen Ordnung“ entstandenen Oligarchie, der es gelungen ist, den demokratischen Wandel mitzugestalten und sich die Früchte des beeindruckenden Wirtschaftswachstums der letzten 15 Jahre unter den Nagel zu reißen.8 Im Ungleichheitsbericht der britischen NGO Oxfam von 2017 steht Indonesien weltweit auf Platz sechs. Die vier reichsten Menschen im Land besitzen mehr als die 100 Millionen Ärmsten (40 Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Oligarchen kontrollieren die Medien, finanzieren die Parteien und beeinflussen auf diese Weise das politische Geschehen; dabei geht es ihnen weniger um weltanschauliche Fragen als um das Geschäft.

Seit 2004 hat die ambitionierte indonesische Antikorruptionsbehörde KPK mehr als 4000 Personen (Minister, Abgeordnete, Funktionäre, Geschäftsleute und Lokalpolitiker) hinter Gitter gebracht. Doch sie wird nach wie vor von einer heterogenen Koalition aus Parlamentariern, Polizisten und Beamten – also den drei korruptesten Berufsständen des Landes – infrage gestellt.

Die zweite Gegebenheit ist die zunehmende Islamisierung der Politik: Oft dient die extreme Religiosität lediglich als Ausgleich zur neoliberalen Globalisierung, aber sie nährt eben auch identitäre Intoleranz, die für Manipulationen sehr empfänglich ist.

Unter der Führung des Populisten Prabowo bedeuteten diese beiden Kräfte, die auch Ahok entmachteten, eine potenziell tödliche Bedrohung für das progressive Jokowi-Lager. Deshalb beschloss der Präsident, jede direkte Konfrontation zu vermeiden.

Um die Oligarchie – der er selbst als einer der wenigen hochrangigen Politiker nicht angehört – nicht zu verprellen, setzte Jokowi auf eine Wirtschaftspolitik, von der alle profitieren konnten, ohne das Thema Ungleichheit (40 Prozent der 255 Millionen Indonesier sind arm oder armutsgefährdet) frontal anzugehen. Mit einem solidem Wirtschaftswachstum von etwa 5 Prozent, einer gesunkenen Inflationsrate (von 8 auf 2,5 Prozent) sowie beeindruckenden Infrastrukturprojekten (Straßen, Häfen, Flughäfen), die bis dato stets im Korruptionssumpf steckengeblieben waren, hatte er gute Argumente für seine Wiederwahl: Kurz vor dem Urnengang, am 24. März, fuhr die erste U-Bahn durch Jakarta.

Gleichzeitig sorgte er für die Einführung von Mindestlöhnen, die Vergabe von Mikrokrediten und den Ausbau des zuvor nur ansatzweise vorhandenen Sozialversicherungssystems. Solche Maßnahmen haben sein Programm glaubwürdig gemacht. Vorgesehen ist auch ein Zuteilungssystem, über das besonders Arme Zugang zu Grundnahrungsmitteln und zu beruflicher wie höherer Bildung erhalten sollen. Jokowi vermied jede ideologische Äußerung, die vom gegnerischen Lager dazu hätte genutzt werden können, ihn als „Kommunisten“ zu brandmarken, und setzte auf eine Politik der kleinen Schritte.9

Die unbestreitbaren Versäumnisse während seiner ersten Amtszeit betreffen vor allem den Umweltschutz und Maßnahmen gegen das Land Grabbing. Versäumt hat er auch die Anerkennung der antikommunistischen Massaker von 1965/66, denen fast 500 000 Menschen zum Opfer fielen,10 wofür ihn viele Anhänger der ersten Stunde kritisieren.

Mit dem ihm eigenen Pragmatismus geht der Präsident auch die heikle Religionsfrage an. Seinen einstigen Verbündeten Ahok überließ er einem Justizsystem, das sich nicht gegen den islamistischen Druck der Straße zu stellen wagte; danach ergriff er autoritäre Maßnahmen, wie das Verbot der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir Indonesia, und ging hart gegen rassistische und religiöse Hetzpredigten im Internet vor. Proteste gab es kaum, außer vonseiten der betroffenen Geistlichen, die – mit wenig Erfolg – gegen die „Kriminalisierung von Ulama“ wetterten. Dass Jokowi Ma’ruf Amin, der maßgeblich an Ahoks Entmachtung beteiligt war, zum Vizepräsidenten machte, ist auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar. Doch diese Wahl hat sich für den Präsidenten in dreifacher Hinsicht ausgezahlt.

Erstens unterstützte Amins NU, mit knapp 50 Millionen Anhängern wohl die größte islamische Organisation der Welt, nun nahezu geschlossen Jokowis Wahlkampagne. Dementsprechend erzielte Jokowi in den bevölkerungsreichen NU-Bastionen auf Java deutlich bessere Ergebnisse als 2014.11

Zweitens spaltete der Präsident durch seine Allianz mit den traditionalistischen Ulama die 212-Bewegung und konnte so das religiöse Nomadentum der neuen Mittelschicht für sich nutzen, die bestimmten Organisationen nicht mehr so treu sind wie die ältere Generation. Die Gläubigen, auch die unabhängigen Prediger, konnten nun ruhigen Gewissens den Radikalen die Straße überlassen, deren Entgleisungen seither noch offensichtlicher geworden sind.

Von besonderer Bedeutung war schließlich, drittens, dass die NU Jakowi nicht ausschließlich wegen des religiösen Pluralismus im Land unterstützt. Die Organisation sieht sich als Vertreterin des richtig verstandenen Islam und spricht ihren Gegnern sogar – über die Kritik an deren Exzessen hinaus – ihre islamische Legitimität ab. Als „guter Muslim“ hatte man im April 2019 für das Duo Jokowi/Amin zu stimmen. Allen anderen empfahl Amin bei einer seiner Wahlkampfveranstaltungen mit einem Augenzwinkern: „Unsere Meinungsverschiedenheiten sind kein Problem: Wenn ihr mich nicht wählen wollt, dann wählt Jokowi!“

Was zunächst wie ein Zurückweichen vor den islamistischen Kräften aussah, könnte sich nun als Rückkehr zu einer Ordnung erweisen, in der der Islam den besten Schutzwall gegen seine eigenen Auswüchse darstellt. Womöglich haben die indonesischen Islamisten nach 20 Jahren erfolgreicher Islamisierung gerade eine historische Niederlage erlitten. Warum Jokowis Strategie in erster Linie darauf zielt, die fragile demokratische Kontinuität in Indonesien aufrechtzuerhalten, ist jedenfalls gut nachzuvollziehen.

1 Siehe Pataud Célérier, „Minderheiten im eigenen Land“, LMd, Februar 2015.

2 Wie Präsident Sukarno (1945–1967) vor seiner autoritären Kehrtwende 1959 trug Prabowo auf Plakaten einen schwarzen Zivilanzug, ein weißes Hemd, eine rote Krawatte und eine muslimische Kappe (Peci).

3 Diese Meldung wurde in einigen Medien relativiert. Zum Beispiel in der SZ, 1. Mai 2019: „Rätsel um tote Wahlhelfer“.

4 Siehe Vedi R. Hadiz, „Islamic Populism“, in: „Indonesia and the Middle East“, Cambridge (University Press) 2016.

5 Kompas, Jakarta, 8. April 2019.

6 Er ist mutmaßlich für Massenmorde und -vergewaltigungen in Osttimor Ende der 1970er Jahre verantwortlich sowie für die antidemokratischen Unruhen bei der Entmachtung Suhartos 1998. Nach seiner Entlassung aus dem Militär ging er nach Jordanien ins Exil. Wegen seiner Verbrechen stand er nie vor Gericht.

7 Siehe Marie Beyer und Martine Bulard, „Die Puppenspieler von Jakarta“, LMd, August 2017.

8 Michele Ford und Tom Pepinsky (Hg.), „Beyond Oligarchy: Wealth, Power, and Contemporary Indonesian Politics“, Ithaca (Cornell University, Southeast Asia Program Publications) 2014.

9 Während seiner Amtszeit sank der Gini-Koeffizient zur Berechnung von Ungleichheit um den Wert 0,2.

10 Siehe Anett Keller, „Indonesiens Opfer“, LMd, Oktober 2015.

11 Edward Aspinall, „Indonesia’s election and the return of ideological competition“, New Mandala, 22. April 2019

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Rémy Madinier forscht am Ostasien-Institut des Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Zuletzt erschien von ihm „Indonésie contemporaine“ (Hg.), Paris (Les Indes savantes) 2016.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Rémy Madinier