Basisdemokratie auf kubanisch
Bei der neuen Verfassung durfte die Bevölkerung mitreden, aber keine Grundsatzkritik üben
von Simone Garnet und Grégoire Varlex
Im Herbst 2018 hingen die Ankündigungen überall, an den Aufzügen, in den Treppenhäusern, an den Eingangstüren: „Volksbefragung – Versammlung aller Bürger.“ Stühle und Bänke wurden bei den Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR)1 aufgestellt, in Versammlungsräumen von Betrieben und Schulen, sogar auf der Straße. Die Kubaner waren eingeladen, sich zum Entwurf der Nationalversammlung für eine neue Verfassung zu äußern. Nach offiziellen Angaben fanden zwischen August und November 130 000 solcher Bürgerversammlungen statt.
In Altahabana, einem einfachen Vorort von Havanna, trafen sich alle, die Lust hatten – meist eine Person aus jeder Familie –, an einem Montag um 18 Uhr. Camila E. hatte den Verfassungsentwurf dabei. Der wurde teils gratis verteilt, teils auch für einen kubanischen Peso (das entspricht einer Tagesration Brot) verkauft. Wer die Versammlung organisiert hatte, wusste Camila E. nicht, sie nahm an, die CDR-Vorsitzenden hätten sie einberufen. Nach unseren Beobachtungen waren es allerdings meist Leute, die sich im Viertel engagierten (im CDR oder anderweitig), Mitglieder der Kommunistischen Partei, Delegierte der Bezirke und Gemeinden, oder auch einfach Bürger, die sich in Rechtsfragen auskannten.
Bei einer Versammlung im Vedado, dem modernen Teil Havannas, erinnerten die Organisatoren daran, dass nicht über den Entwurf insgesamt diskutierten werden, sondern konkrete Änderungsvorschläge gemacht werden sollten: einen Artikel streichen, einen anderen hinzufügen; eine Formulierung verändern. Bei der Aktion ging es also nicht darum, die Verfassung öffentlich zu debattieren oder den Grad der Zustimmung festzustellen: Die Bevölkerung war zur Beteiligung eingeladen, indem sie Änderungen vorschlagen durfte, mehr nicht.
Zu Beginn wurde die Präambel verlesen. In der neuen Version wurde der Name „Fidel“ zur Liste der „politischen Führer des Vaterlands“ – José Marti, Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin – hinzugefügt. Eine Historikerin ergriff das Wort: Sie bedauere, dass der Untergrundkampf vor der Revolution von 1959 nicht erwähnt werde. Ihr Einwand wurde protokolliert.
Nach den Versammlungen trafen sich die Organisatoren mit Delegierten verschiedener lokaler Instanzen auf Gemeindeebene, um die Vorschläge zu sammeln und digital zu erfassen. Auf diese Weise, so erklärte die Regierung, erfahre man, welche Artikel Fragen aufwerfen oder nicht den Erwartungen der Bevölkerung entsprechen. Bei den Versammlungen gab es keinerlei Abstimmung. Es blieb also unklar, wie viele Teilnehmer einem bestimmten Vorschlag zustimmten oder ihn ablehnten. Es genügte, dass jemand eine Meinung äußerte, dann wurde sie protokolliert. Die einen fanden, auf diese Weise kämen gute Ideen zusammen; andere dagegen merkten an, dass sich ohne quantitative Messung unangenehme Forderungen einer Mehrheit leichter unterdrücken ließen.
Die Kubaner sind seit einem halben Jahrhundert an politisches Einheitsdenken gewöhnt. Dennoch wurden immerhin 783 174 Vorschläge für Änderungen, Ergänzungen oder Streichungen gesammelt. Die Nationalversammlung lobte sich selbst für diese „demokratische Übung“ und musste ihren Entwurf nun nachbessern. Alle Vorschläge wurden in einem Bericht zusammengefasst. Der wurde dann dem nationalen Ausschuss für die Verfassungsreform übergeben. Arbeitsgruppen von Juristen, Hochschullehrern, Forschern und Informatikern auf Gemeinde-, Provinz- und Landesebene ordneten das Material und schlugen auf dieser Grundlage bestimme Änderungen vor. So entstand schließlich der endgültige, im Wortlaut zu 60 Prozent korrigierte Verfassungstext, der in der Nationalversammlung vorgestellt, beraten und verabschiedet wurde.
Homero Acosta, der Koordinator des Ausschusses, verkündete: „Diese Verfassung ist authentischer Ausdruck des demokratischen und partizipativen Charakters unseres Volkes.“ Der Vorschlag der Historikerin zum Untergrundkampf zum Beispiel wurde in den endgültigen Text aufgenommen.
Zurück zur Versammlung im Vedado: Nacheinander wurden dort die Artikel verlesen, jeweils gefolgt von Vorschlägen. Dabei interessierten sich die Bürger eher für den Stil als für den tieferen Sinn des Textes. Doch es gab auch andere Fälle.
Streit über die Ehe für alle
In der bisherigen Verfassung von 1976 wurde Kuba als kommunistisch definiert: „Der Sozialismus und der Kommunismus ermöglichen es dem Menschen, sich von allen Formen der Ausbeutung zu befreien.“ Im neuen Verfassungsentwurf war Kuba nicht länger „kommunistisch“, sondern nur noch „sozialistisch“. Doch die Volksbefragung führte dazu, dass das Attribut „kommunistisch“ wieder aufgenommen wurde. Der Grund: Da die Regierung inzwischen Handwerksbetrieben und Kleinunternehmen nach und nach erlaubt, Mitarbeiter einzustellen, wollten die Bürger, dass „Ausbeutung“ im marxistischen Sinne, bei der sich der Unternehmer einen Teil der täglichen Leistung seiner Arbeiter unbezahlt aneignet, weiterhin verboten bleibt.
„Wir sind überzeugt, dass Kuba niemals zum Kapitalismus zurückkehren wird, einer Staatsform, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gründet, und dass nur der Sozialismus und der Kommunismus dem Menschen dazu verhelfen, seine volle Würde zu erlangen“, heißt es jetzt in der neuen Verfassung.
Dennoch folgten die Vorschläge der Bürger keiner ideologischen Linie. Mit Artikel 22 des Entwurfs wurde das Privateigentum anerkannt. Obwohl dies mit einer kommunistischen Weltsicht eigentlich unvereinbar ist, wurde der Artikel beibehalten und sogar auf Ausländer ausgeweitet, die jetzt Wohnungen auf der Insel kaufen dürfen. Artikel 28 blieb unverändert, darin heißt es: „Der Staat fördert und sichert durch Bürgschaften ausländische Investitionen ab, um die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu sichern.“
Artikel 36 lautet nach der Volksbefragung: „Die Annahme einer anderen Staatsbürgerschaft bedeutet nicht den Verlust der kubanischen Staatsbürgerschaft“, was im Entwurf nicht vorgesehen war. In der Verfassung von 1976 war das sogar verboten, obwohl viele Kubaner sich längst darüber hinweggesetzt haben. Die neue Verfassung legalisiert an manchen Stellen Grauzonen, in denen sich zahlreiche Kubaner bereits bewegen – und setzt damit den Kurs fort, den Raúl Castro auf wirtschaftlicher Ebene bereits eingeschlagen hat.
Für die lebhaftesten Reaktionen sorgte die Frage der Ehe für alle. Im Verfassungsentwurf war lediglich von einer Ehe „zwischen zwei Menschen“ die Rede gewesen. Die Bürger lehnten das ab – was nicht allein durch den wachsenden Einfluss der Kirchen zu erklären ist. Bei der Versammlung im Vedado erklärte ein Mann, Kuba sei aufgrund seiner Mentalität und Geschichte noch nicht bereit „für eine solche Umwälzung“.
Eine Nachbarin protestierte. Es gehe um ein Grundrecht, man dürfe nicht gegen Artikel 42 verstoßen, der besagt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, „ohne Rücksicht auf biologisches oder soziales Geschlecht und sexuelle Orientierung“. Monsignore García, Erzbischof von Santiago de Cuba, der zweitgrößten Stadt des Landes, bezeichnete die gleichgeschlechtliche Ehe dagegen als „ideologischen Kolonialismus“.
Insgesamt wurden bei den Bürgerversammlungen 195 000 Vorschläge zu diesem Artikel aufgezeichnet: 35 000 waren dafür, 160 000 dagegen. Für den endgültigen Verfassungstext wählte man eine neutrale Formulierung. Artikel 82 lautet jetzt: „Die Ehe ist eine gesellschaftliche und juristische Institution, die sich auf die freiwillige Zustimmung und die Gleichheit der Rechte, Pflichten und gesetzlichen Möglichkeiten der Eheleute gründet.“ Dieser Wortlaut fällt hinter den Entwurf zurück, markiert aber einen Fortschritt gegenüber der Verfassung von 1976. Allerdings hat die Regierung eine neue Volksabstimmung über die Ehe für alle versprochen. Vermutlich sollte so das Risiko umgangen werden, dass die neue Verfassung wegen Artikel 82 bei der Volksabstimmung abgelehnt wird.
Mit Artikel 109 wird die Staatsspitze neu organisiert und werden die Ämter des Präsidenten der Republik und des Premierministers geschaffen. In der alten Verfassung gab es lediglich den Staatsratsvorsitzenden, der zugleich als Staats- und Regierungschef fungierte. Die neue Verfassung setzt also die von Castro versprochene Aufteilung der Staatsmacht um. Der Präsident darf nur noch zwei Amtszeiten absolvieren, und für die Kandidaten gilt fortan eine Altersgrenze von 65 Jahren.
Eine bemerkenswerte Neuerung ist, dass mit Artikel 55 die „Pressefreiheit“ eingeführt wird. Die Verfassung von 1976 hatte den Bürgern Presse- und Meinungsfreiheit lediglich insoweit zugesprochen, als diese „mit den Zielen einer sozialistischen Gesellschaft übereinstimmen“ musste.
Eine freie Presse muss in Kuba allerdings erst noch entstehen. Und wie es um die Meinungsfreiheit bestellt ist, zeigt ja auch der Prozess der Erarbeitung der neuen Verfassung: Die Bürger konnten sich nur mündlich äußern, und die Art, in der sie ihren Standpunkt darlegen durften, ließ wirkliche Kritik nicht zu – zumal keine anonymen Äußerungen möglich waren.
Verschiedene Augenzeugen berichteten uns von Geschehnissen wie diesen: Bei einer Bürgerversammlung schlug jemand vor, einen umstrittenen Artikel anders zu formulieren, oder jemand forderte etwas, das der Regierung nicht genehm war, wie zum Beispiel das Ende der Einheitspartei.2 Diese Äußerungen wurden protokolliert, und ein paar Tage später wurde die oder der Betreffende im Kommissariat vorgeladen. Bei einem langen Verhör wurden die Unruhestifter zum Beispiel gefragt, ob sie Geld (insbesondere von einer ausländischen Macht) dafür erhalten hätten, dass sie diese Meinung äußerten. Solche Geschichten lassen Acostas demokratischen Optimismus in ganz anderem Licht erscheinen.
Zudem nahm die „Ja“-Kampagne im Vorfeld des Referendums über den endgültigen Verfassungstext den gesamten Raum ein. Weder im Fernsehen noch im Radio wurde die Möglichkeit, mit „Nein“ zu stimmen, auch nur erwähnt. Der kubanische Kulturminister rief Künstler öffentlich dazu auf, ein Lied für das „Ja“ zu komponieren.
An der Avenida Boyeros, die vom Flughafen ins Zentrum Havannas führt, stand stets die große Plakatwand, die an das seit 55 Jahren bestehende Handelsembargo erinnert. Während der Kampagne gab es eine neue Riesentafel, die für das „Ja“ warb: „Zu unserer Kultur, unseren Traditionen, unseren Überzeugungen, für unsere Kinder, für die Jugend, für Demokratie, Sozialismus und Vaterland.“
Gegner der neuen Verfassung konnten sich nur in den sozialen Netzwerken äußern – die seit der Freischaltung des mobilen Internets über 3G am 6. Dezember 2018 leichter zugänglich sind. Hier meldeten sich Regimekritiker zu Wort, die das Referendum als Demokratiefarce und als Plebiszit für den Staatsratsvorsitzenden Miguel Díaz-Canel verurteilten.
Am Sonntag, dem 24. Februar 2019 konnten alle Bürger über 16 Jahre mit Wohnsitz auf Kuba abstimmen. Nach zwei Tagen gab der nationale Wahlausschuss die vollständigen Endergebnisse in der Regierungszeitung Granma bekannt: Beteiligung 84,41 Prozent, Ja-Stimmen 86,85 Prozent, Nein-Stimmen 9 Prozent. So trat Kubas neue Verfassung am 10. April mit ihrer Publikation im Amtsblatt in Kraft.
1 Siehe Marion Giraldou, „Kubas wackere Spitzel“, in: LMd, Februar 2016.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Simone Garnet und Grégoire Varlex sind Journalisten.
US-Sanktionen
Seit 1962 existiert in Kuba ein Zuteilungssystem für bestimmte Lebensmittel und Waren, die vom Staat subventioniert werden und deren Empfang in einem Bezugsheft, dem Libreta de Abastecimiento, vermerkt wird. Welche Waren rationiert sind, hängt von der aktuellen Versorgungslage ab, und die ist derzeit so schlecht, dass seit Anfang Mai Reis, Öl, Eier, Hühnerfleisch, Waschmittel und Zahnpasta dazugehören.
Die Versorgungslage in Kuba wird immer schlechter. Es wird befürchtet, dass sich die schlimmen Engpässe wie in der Zeit nach dem Ende der Sowjetunion, dem sogenannten Período especial, wiederholen könnten. Damals musste Kuba sich wirtschaftlich umorientieren: Eine konvertierbare Zweitwährung (CUC) wurde eingeführt, ausländische Investoren wurden ins Land gelassen. Entscheidende Hilfe kam insbesondere aus verbündeten Staaten Lateinamerikas, von 1999 an vor allem aus Venezuela unter Hugo Chávez, das Kuba – im Austausch für Fachkräfte oder sehr wenig Geld – mit Erdöl belieferte.
Auf diese Unterstützung kann das Land nicht mehr zählen. Hinzu kommt, dass die US-Regierung die Wirtschaftssanktionen gegen Kuba (im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen das Regime in Venezuela) wieder verschärft hat: So wurden Rücküberweisungen aus den USA gedeckelt, der Tourismus wurde wieder eingeschränkt. Am 5. Juni verkündete US-Finanzminister Steven Mnuchin, Kreuzfahrtreisen auf die Karibikinsel seien für US-Bürger ab sofort verboten. Das ist ein harter Schlag für den kubanischen Tourismussektor: Im vergangenen Jahr besuchten 600 000 US-Amerikaner im Rahmen einer Kreuzfahrt Kuba.
Das Embargo gegen Kuba begann bereits im Herbst 1960, kurz nach der Revolution von 1959. Eine der Folgen war, dass sich die Insel wirtschaftlich und politisch an die Sowjetunion band. Die Konfrontation der beiden Supermächte in der Karibik gipfelte 1961 in der sogenannten Kubakrise, die beinahe zum Atomkrieg geführt hätte.
Nach dem Kalten Krieg wurde die US-Sanktionspolitik 1992 in ein Gesetz gegossen, den Cuban Democracy Act. Es knüpfte die Aufhebung der Sanktionen an bestimmte Bedingungen: Demokratisierung und Einhaltung der Menschenrechte. 1996 folgte unter Präsident Clinton das deutlich schärfere Helms-Burton-Gesetz; allerdings wurde die Umsetzung von Abschnitt III, der vorsieht, dass US-Staatsbürger (einschließlich naturalisierter Kubaner) vor US-Gerichten Ansprüche auf ihre verstaatlichten Immobilien und Unternehmensanteile in Kuba geltend machen können, ausgesetzt. Unter Obama wurden die Sanktionen dann teilweise gelockert, vor allem was die Reisebeschränkungen für US-Bürger anging.
Bisher haben alle US-Präsidenten die Aussetzung von Abschnitt III des Helms-Burton-Gesetzes verlängert, zunächst auch Trump. Doch seit Mai 2019 ist er nun doch in Kraft, mit kaum absehbaren Folgen für die kubanische Wirtschaft und für in Kuba tätige ausländische Unternehmen, die ja mit den Staatsunternehmen kooperieren. Viele Staaten – darunter Kanada und Mexiko – hatten gegen das Gesetz protestiert. Und die EU-Kommission hatte bereits 1996 erklärt, sich an Urteile nach diesem Gesetz nicht halten zu wollen – was mit ein Grund für die Aussetzung gewesen war.
⇥Katharina Döbler