Ausverkauf
Der Preis der Privatisierung in Frankreich
von Mathias Reymond
Privatisierung galt seit den 1980er Jahren als Allheilmittel. Der Wettbewerb, hieß es, würde den Verbrauchern niedrigere Preise bringen, Unternehmer zu Innovationen animieren und letztlich alle reicher machen.
Drei Jahrzehnte später ist die Bilanz nicht so rosig. Während sich das private Kapital zu Schnäppchenpreisen in die mit öffentlichen Geldern aufgepäppelten Unternehmen einkaufen konnte, wurden der Allgemeinheit durch den ungezügelten Wettbewerb neue Kosten aufgebürdet.
Auch die historischen Fakten sprechen keinesfalls für Privatisierungen, im Gegenteil. Als in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg viele Unternehmen verstaatlicht wurden, waren die Folgen nur positiv: Die öffentlichen Unternehmen konnten Fehlsteuerungen des Markts korrigieren, die öffentliche Versorgung garantieren und vor allem die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung des Landes gestalten.
Doch dann ließ sich Paris von den neoliberalen Ökonomen der Chicagoer Schule inspirieren und begann nach dem Vorbild der britischen Thatcher-Regierung (1979–1990) und des US-Präsidenten Ronald Reagan (1981–1989) die öffentlichen Ausgaben zu senken. Auf einen Schlag wurden zahlreiche Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt (siehe die Infografik auf Seite 15 unten).
Mit dem Verkauf des „Familiensilbers“ gab die Regierung auch wichtige Steuerungsinstrumente aus der Hand. Seit den ersten Privatisierungen unter Ministerpräsident Jacques Chirac 1986 hat der französische Staat rund 1500 Unternehmen verkauft und mehr als 1 Million Staatsbedienstete in den Privatsektor transferiert. Der Anteil der staatlichen Beschäftigten (ohne Behörden und Verwaltung) an der Gesamtbeschäftigung ist innerhalb von drei Jahrzehnten von 10,5 auf 3,1 Prozent gefallen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts schien die Präambel der Verfassung der Vierten Republik von 1946 überholt zu sein. Denn die bestimmte: „Jedes Vermögen und jedes Unternehmen, dessen Betrieb den Charakter eines öffentlichen Dienstes oder eines faktischen Monopols hat oder erhält, muss in das Eigentum der Gemeinschaft überführt werden.“
Damals waren die Électricité de France-Gaz de France (EDF-GDF) für die Strom- und Gasversorgung zuständig, France Télécom für die Telekommunikation und die SNCF für den Bahnverkehr. Diese Unternehmen waren also, von der Produktion über Vertrieb und Netzinfrastruktur bis zum Kundendienst, vollständig in Staatsbesitz und hatten keine Konkurrenten. Heute schreiben die EU-Regeln zum „freien und fairen Wettbewerb“ den staatlichen Unternehmen die Trennung von Netz und Betrieb vor. In Schweden zum Beispiel sind auf einer Eisenbahnstrecke bis zu 30 Unternehmen aktiv.1
Selbst wirtschaftsliberale Ökonomen haben lange davon abgeraten, sogenannte natürliche Monopole wie Verkehrswege, Telefon-, Post-, Energie- und Wasserversorgungsnetze dem
Wettbewerb auszusetzen, weil die Gesamtkosten deutlich niedriger ausfallen, wenn nur ein Unternehmen zuständig ist. Da die nötigen Investitionen kostspielig sind, ist es aus Sicht der Allgemeinheit nicht von Vorteil, für eine Leistung zwei oder drei Netze aufzubauen. Sinnvoll ist Wettbewerb demnach nur in den vorgelagerten Bereichen, sprich in der Produktion, oder in den nachgelagerten, sprich im Vertrieb. Und eben nicht beim Betrieb der Netze.
Die natürlichen Monopole wurden in Frankreich von staatlichen Unternehmen verwaltet, um Mitnahmeeffekte des Privatsektors zu vermeiden. Dies gilt etwa für das Schienennetz SNCF Réseau oder für das Elektrizitätsnetz Réseau de transport d’électricité (RTE). Nachdem private Interessenten immer wieder forderten, auch diese Märkte zu öffnen, erlaubte der französische Staat privaten Unternehmen, sich auf Kosten der Nutzer zu bereichern, die damit zu Kunden wurden. Die verschiedenen Regierungen begründeten dies mal mit dem hohen Investitionsbedarf, mal mit der Notwendigkeit, die öffentliche Verschuldung abzubauen. Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin erklärte 2004: „Alle Aufgaben, die vom privaten Sektor erledigt werden können, müssen privatisiert werden.“2
Die Auswüchse der Privatisierungsmanie treten am klarsten bei den Autobahnen zutage. Zwar sind einige wenige Abschnitte noch im öffentlichen Besitz, doch sämtliche profitablen Strecken wurden an private Betreiber abgegeben, die dadurch eine marktbeherrschende Position erlangten. Das ist auch aus wirtschaftsliberaler Sicht ein großer Fehler: Wenn die Kunden nicht auf andere Angebote ausweichen können, ist ein privates Monopol ökonomisch nicht optimal. Es kann, wie ein Kaufladen auf einer vom Weltmarkt isolierten Insel, drastisch überhöhte Preise durchsetzen.
Statt sich wie erhofft finanziell zu sanieren, hat der Staat mit dem Verkauf der Autobahnen für 14,8 Milliarden Euro eine wichtige dauerhafte Einkommensquelle abgegeben. Mit dem Verkauf machte der Staat einen Verlust von 10 Milliarden Euro, denn der französische Rechnungshof hatte den Wert der Konzessionen auf fast 24 Milliarden Euro geschätzt.
Trotz Finanzkrise konnten die Autobahngesellschaften zwischen 2006 und 2011 ihre Bruttogewinne um durchschnittlich 5,1 Prozent pro Jahr steigern. Bei allen anderen Unternehmen (außerhalb des Finanzsektors) stagnierten die Gewinne im selben Zeitraum oder gingen sogar zurück.
Diese Gewinne wurden nicht etwa ins Autobahnnetz reinvestiert, sondern flossen allein den Eigentümern zu: Die Unternehmen Vinci, Eiffage und Abertis, die seit 2006 die Lizenzen für 9000 Kilometern Autobahnen halten, haben seitdem Dividenden in Höhe von 27 Milliarden Euro an ihre Aktionäre ausgeschüttet. Diese Gelder sind also dem Staat entgangen.3 Zugleich sind die Mautgebühren laufend gestiegen, und zwar deutlich stärker als die Inflationsrate.
2013 monierte der Rechnungshof, diese Geschenke seien dem Privatsektor unter Missachtung des Gemeinwohls und grundlegender Transparenzregeln gewährt worden.4 Kein Wunder also, dass Mautstationen von den protestierenden Gelbwesten als ein Symbol für die Alimentierung und Privilegierung der Reichen attackiert wurden.
Wenn’s schiefgeht, springt der Staat ein
In Großbritannien hingegen, wo private Wasserunternehmen 95 Prozent ihrer Gewinne an die Aktionäre verteilen, zugleich aber die notwendigen Investitionen in die Netze vernachlässigt haben, ebbt die Privatisierungswelle bereits wieder ab. Neuerdings werden Privatisierungen sogar wieder zurückgedreht, wie beim Gefängnis in Birmingham oder bei der East Coast Main Line.
Die Schutzbehauptung der Aufsichtsbehörden, sie könnten für zuverlässige und bezahlbare öffentliche Dienstleistungen sorgen, kommentiert Yves Salesse, Mitglied des französischen Staatsrats und der antineoliberalistischen Organisation Fondation Copernic: „Das wurde durch die Realität widerlegt. Die Regulierer haben gar nicht die Mittel, um das Verhalten multinationaler Konzern nachhaltig zu beeinflussen.“5
Die Entwicklung der Energie- und Telekommunikationspreise über die vergangenen zwei Jahrzehnte hinweg lässt sich angesichts der veränderten Verbrauchsmuster – gerade in diesen Branchen – nur schwer objektiv messen. Dennoch steht fest: Die Kosten des Wettbewerbs für die Allgemeinheit liegen höher als erwartet. Denn während die Gewinne privatisiert wurden, tauchen die kollektiven Verluste, die der Rückzug des Staats verursacht, in den Bilanzen gar nicht mehr auf.
Ein Beispiel: Als neue Wettbewerber in Sektoren auftauchten, in denen es ursprünglich keinen Wettbewerb gab, führte das zu Kosten, die es vorher ebenfalls nicht gab. Die wirken sich natürlich auf die Preise aus, wie etwa die Kosten für Werbung und Marketing, die teilweise höher liegen als das Forschungs- und Entwicklungsbudget, oder die Ausgaben für Lobbying.
Dazu Zahlen für 2017: Das Unternehmen Orange, ehemals France Télécom, gab 329 Millionen Euro für Medienwerbung aus, der Stromversorger EDF 126 Millionen, der Gasversorger Engie 99 Millionen und die Bahngesellschaft SNCF 72 Millionen Euro. Die Lobbyarbeit im EU-Parlament lässt sich EDF 2 Millionen Euro pro Jahr kosten. Diese Gelder, unter anderem für zehn Vollzeitkräfte,6 stehen für die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen nicht zur Verfügung.
Früher kamen die von öffentlichen Unternehmen erwirtschafteten Erträge der Öffentlichkeit zugute, ob in Form von höheren Staatseinnahmen oder als Investitionen. Von privaten Betreibern werden die Gewinne dagegen nur noch in Dividenden für die Aktionäre umgewandelt. Zu dieser Bilanz gehören auch die steigenden Belastungen für Mitarbeiterinnen und Kunden aufgrund von personellen Einsparungen, mit denen das Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern will .
In allen Unternehmen – von France Télécom über die Post bis hin zur SNCF – wurde schon vor Beginn der Privatisierungswelle die Belegschaft verkleinert. Bei SNCF wurden seit 1985 rund 100 000 Arbeitsplätze abgebaut. Und überall wurden die Arbeitsbedingungen verschärft, was bei der France Télécom zwischen 2000 und 2011 zu einer erhöhten Selbstmordrate geführt hat.
Diese Kürzungen in den Staatsunternehmen führten dazu, dass der Service immer schlechter wurde. Genau damit wurde dann die Notwendigkeit der Privatisierung und Öffnung der Branche für Wettbewerber begründet. Das Resultat ist, dass es die Kunden heute mit einer Vielzahl von Ansprechpartnern zu tun haben und dass viele von ihnen das Gefühl haben, in ein kafkaeskes Labyrinth geraten zu sein.
Liberalisierung und Privatisierung haben die Verbraucher letztlich nur verwirrt, bei den Industriebossen und ihren Marionetten dagegen den Appetit noch mehr geweckt. Bei der Übernahme des Staates durch den Privatsektor geht es längst nicht mehr um die Realisierung eines ideologisches Projekts. Was die Unternehmen tatsächlich wollen, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler James Galbraith: Der Staat habe für ein Umfeld zu sorgen, das ihnen möglichst viel Geld einbringt, ihre Macht am wenigsten einschränkt und ihnen, „falls etwas schiefgeht“, auch noch die Rettung garantiert.7
1 Siehe Julian Mischi und Valérie Solano, „Freie Bahn“, LMd, Juni 2016.
6 Transparency International, www.integritywatch.eu.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Mathias Reymond ist Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Montpellier und der Autor von: „Au nom de la démocratie, votez bien!“, Marseille (Agone) 2019.