09.05.2019

Friedliche Revolution im Sudan

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Friedliche Revolution im Sudan

Der zivilgesellschaftliche Protest hat eine lange Tradition. Jetzt richtet er sich gegen die Armee, weil sie den demokratischen Übergang gefährden könnte

von Giovanna Lelli

Seit dem Arabischen Frühling 2011 sind die Proteste im Sudan nie wirklich abgeflaut picture alliance
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Am 19. Dezember 2018 verkündete die Regierung von General Omar al-Bashir Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs. Ein Laib Brot verteuerte sich um das Dreifache. Bereits ab 2013 verfolgte die Regierung in Khartum eine strikte Austeritätspolitik, seit 2017 auf Grundlage eines Sparplans unter der Ägide des IWF. Grundnahrungsmittel und Benzin verteuerten sich, die Inflationsrate kletterte im Dezember 2018 auf 70 Prozent. Entsprach ein Sudanesisches Pfund 2009 noch knapp einem halben US-Dollar, war es Ende 2018 nur noch 2 Cent wert.

Zu ersten Protesten in den größten Städten des Landes kam es am Morgen nach der Brotpreiserhöhung. Die Slogans der Menschen waren klar und deutlich: „Tritt ab, und das war’s!“, „Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit!“, „Das Volk wählt die Revolution“, „Das Volk will den Sturz der Regierung“, oder einfach „Revolution!“

Seit dem Arabischen Frühling 2011 sind die Proteste im Sudan nie wirklich abgeflaut, oft blieben sie allerdings lokal begrenzt und wurden meist schnell unterdrückt. Die im Dezember 2018 entstandene, im Grundsatz revolutionäre Bewegung – denn sie zielt auf den Sturz des Regimes – erfasste dagegen das gesamte Land.

Von Anfang an spielte die „Allianz für Freiheit und Wandel“ (ALC) eine entscheidende Rolle bei den Protesten, die am 11. April tatsächlich zum Sturz al-Bashirs führten. Das Bündnis ist die Nachfolgeorganisation der 1989 gegründeten Nationalen Demokratischen Allianz (AND). In der AND sammelten sich die Gruppen, die al-Bashir ins Exil vertrieben hatte, nachdem er 1989 durch einen Militärputsch an die Macht gelangt war.

Den Staatsstreich hatte der 2016 verstorbene Theologe und Politiker Has­san al-Turabi orchestriert, zu jener Zeit Justiz- und Außenminister und Anführer der Nationalen Islamischen Front (NIF), einer Partei aus dem Dunstkreis der Muslimbrüder. Folgerichtig sind inzwischen auch die mit al-Bashir verbündeten Islamisten von der Volkskongresspartei, die Ende der 1990er aus der Spaltung der NIF hervorgegangen war, ins Visier der Protestbewegung geraten: So am letzten Aprilwochenende, als Demonstranten „Kein Platz für Islamisten“ skandierten. Die Volkskongresspartei erklärte, das Gebäude, in dem ihre Mitglieder eine ­Sitzung abgehalten hätten, sei angegriffen und 64 Personen seien verletzt worden.

Die ALC ihrerseits vereint heute mehrere Organisationen, darunter den sehr aktiven Berufsverband SPA („Sudanese Professionals Association“), in dem acht Berufsgruppen, darunter Ingenieure, Anwälte, Ärzte und Professoren vertreten sind. Im Gegensatz zu den offiziellen Gewerkschaften wird die SPA nicht vom Regime finanziert. Das Gewerkschaftsbündnis hat die Proteste gegen die Brotpreiserhöhung maßgeblich mitinitiiert, weitere Bündnisse und Oppositionsparteien schlossen sich seinen Forderungen an: So etwa die Na­tio­na­len Konsenskräfte (NCF), ein Bündnis linker Parteien, darunter die Kommunistische Partei. Auch die Allianz Nidaa al-Sudan („Der Ruf des Sudan“) wirkte mit, zu der die Zentrumspartei Umma des charismatischen Sadiq al-Mahdi gehört, der in der kurzen demokratischen Phase zwischen 1985 und 1989 als Premierminister amtiert hatte.

Am 1. Januar hatte sich die ALC mit ihrer „Erklärung für Freiheit und Wandel“ die Forderungen der SPA zu eigen gemacht. Das in diesem Text skizzierte politische Programm sieht die Einrichtung einer zivilen, demokratischen Übergangsregierung für die Dauer von vier Jahren vor.1 Dementsprechend war die ALC nicht einverstanden, als die Armee am 11. April das Parlament auflöste und für zwei Jahre eine militärische Übergangsregierung einsetzte. Sie sah darin lediglich einen „Staatsstreich im Inneren des Regimes“ und bekräftigte ihre Forderungen nach einem echten Übergang zur Demokratie.

Nachdem sich tausende Menschen weiterhin vor dem Hauptquartier der Streitkräfte versammelten, machte der Militärrat Zugeständnisse. Sein Anführer, General Awad Ibn Auf, musste bereits am 12. April wieder zurücktreten. Der mächtige Chef des Geheimdienstes Niss, Salah Gosh, folgte ihm auf dem Fuß. Ende April einigten sich beide Seiten auf die Bildung eines gemeinsamen Übergangsrats, in dem die Machtverteilung zwischen Militärs und Zivilisten jedoch strittig bleibt.

Die Ursachen für die sudanesische Revolution sind in den Verheerungen zu suchen, die 30 Jahre islamistische Militärdiktatur unter al-Bashir angerichtet haben. Seit dem Putsch von 1989 hat das Land auf vielen Ebenen einen Niedergang erlebt. Nach dem Staatsstreich wurden regierungsunabhängige Parteien und Gewerkschaften verboten. Trotzdem blieben sie im Untergrund oder im Exil (vor allem in Frankreich und Großbritannien) sehr aktiv. Die Repression betraf ebenso die intellektuellen Milieus und die Medien, und auch die Streitkräfte wurden von mehreren Säuberungswellen erfasst.

Dazu kam die immer brutalere Anwendung der Scharia. Das Strafgesetzbuch, das noch aus der Zeit der Diktatur von Präsident Dschafar an-Numairi (1969–1985) stammte, verschärfte al-Bashir weiter. Das geltende sudanesische Recht sieht strenge körperliche Züchtigungen (hudud) vor, die juristisch nicht abgemildert werden können, da sie im Koran oder der Sunna festgeschrieben seien. Dabei geht es etwa um Amputationen von Gliedmaßen bei Diebstahl, die Todesstrafe für „Ketzer“ und die Diskriminierung von Frauen und Nichtmuslimen, die immerhin ein Drittel der sudanesischen Bevölkerung ausmachen, vor allem die Angehörigen animistischer Religionen im Süden des Landes.

Die ALC setzt sich nun für eine verfassunggebende Versammlung ein, um ein „neutrales“ und „nationales“ Rechtssystem zu schaffen (Erklärungen vom 15. und 18. April 2019). Deren Zusammensetzung soll die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt im Sudan widerspiegeln und eine Frauenquote von mindestens 40 Prozent erfüllen.

Auch die Wirtschaft lag unter dem autoritären Regime al-Bashirs am Boden. Die Landeswährung verlor immer mehr an Wert, das Haushaltsdefizit wuchs, sodass die Regierung sich schließlich an internationale Kreditgeber wenden musste. Wie viele arabische Länder stützt sich auch der Sudan bis zur Abspaltung des Südsudan 2011 auf eine unproduktive Rentenökonomie, die vor allem von Öleinnahmen lebt. Zwischen 2000 und 2008 hatten diese für einen kurzen wirtschaftlichen Aufschwung gesorgt.

Ölfirmen aus den Golfstaaten und Asien kamen ins Land, 2008 auf dem Höhepunkt des Booms wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 11,5 Prozent: Die Ölindustrie generierte in diesem Jahr nach Angaben der Weltbank 21,5 Prozent des BIPs. Die Profite kamen jedoch nur einer kleinen Oligarchie zugute, der Rest der Bevölkerung hatte so gut wie nichts davon. Seit 2011 liegt die Arbeitslosenquote bei durchschnittlich 18 Prozent, unter jungen Menschen bei über 30 Prozent und unter jungen Frauen sogar bei knapp 60 Prozent. Fast die Hälfte der Sudanesen lebt unterhalb der Armutsgrenze.2

Neben diesen wirtschaftlichen Schwierigkeiten war das Land in den letzten 40 Jahren in zahlreiche blutige Konflikten verwickelt. Von 1983 bis 2005 führte die Regierung in Khartum Krieg gegen die Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA) unter John Garang, den militärischen Arm der Sudanischen Volksbefreiungsbewegung (SPLM) im Südsudan. 4 Millionen Menschen mussten fliehen, über 2 Millionen Südsudanesen kamen ums Leben. Wie die demokratische Opposition im Norden war auch Garang davon überzeugt, nur ein säkularer und einheitlicher Nationalstaat könne eine Lösung des Konflikts bieten. 2005 starb er bei einem Hubschrauberabsturz, nur wenige Monate nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit der Regierung in Khartum.

Dem Abkommen war kein langes Leben beschieden: Garangs Nachfolger, Salva Kiir, entschloss sich zur Abspaltung des Südens. Nach der Volksabstimmung im Januar 2011, bei der sich 98,83 Prozent der Wähler für eine Unabhängigkeit aussprachen,3 wurde die Republik Südsudan ausgerufen. Diese von den USA stark beförderte Spaltung des Landes rief bei den Nordsudanesen ein Gefühl der Demütigung und Enttäuschung hervor.

Die ALC erkennt die Teilung des Landes jedoch implizit an. In ihrer „Erklärung für Freiheit und Wandel“ fordert sie die Anerkennung der Rechte der Geflüchteten und unterstreicht die Bedeutung von guten Beziehungen zum Südsudan auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und der Verfolgung gemeinsamer Interessen.

Ebenso wie den Konflikt mit dem Süden muss man auch den Darfur-Krieg als „nationale Frage“ betrachten. Der Ursprung dieses Bürgerkriegs, in dem sich aufständische Gruppen in der westsudanesischen Region Darfur gegen die Zentralregierung und die von ihr bewaffneten lokalen Milizen (Dschan­dscha­wid) erhoben, liegt in der notorischen Vernachlässigung der Region durch das Regime. 2009 und 2010 hatte der Internationale Strafgerichtshof zwei Haftbefehle gegen al-Bashir wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord in Darfur in der Zeit von 2003 bis 2008 erlassen. Doch die Ermittlungen wurden im Dezember 2014 als Protest gegen die Untätigkeit des UN-Sicherheitsrats eingestellt, was Diktator al-Bashir als Triumph verbuchte.

Mit der jüngsten revolutionären Bewegung verbreitet sich ein Gefühl natio­naler Verbundenheit im ganzen Land. Dafür spricht einer der Slogans der Demonstrierenden in der Hauptstadt, „Wir sind alle Darfur“. In der „Erklärung für Freiheit und Wandel“ der ALC heißt es, die Übergangsregierung solle sich als Erstes den „tieferen Gründen“ der Bürgerkriege widmen und für eine gerechte und nachhaltige Lösung sorgen.

Der politische und wirtschaftliche Niedergang des Landes sowie die bewaffneten Konflikte reichen jedoch nicht aus, um zu erklären, wie es im Dezember 2018 zu einer derartigen Massenbewegung kam. Sie verdankt sich eben nicht nur spontaner Unzufriedenheit, sondern auch dem historischen Gedächtnis des sudanesischen Volkes, das seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1956 immer wieder beharrlich um seine Freiheit gekämpft hat.

1964 führte die „Oktoberrevolu­tion“ zum Fall der 1958 errichteten Militärdiktatur unter dem von der britischen Regierung unterstützten Ibrahim Abbud. Die anschließende demokratische Regierung hielt kaum fünf Jahre durch. 1985 stürzte die „Aprilrevolu­tion“ die islamistische Militärdiktatur an-Numairis, der auf die Unterstützung der USA, aber auch Ägyptens und Libyens zählen konnte. Es folgte wiederum eine demokratische Regierung, die 1989 durch den Militärputsch al-Bashirs abgesetzt wurde. Schon 1964 und 1985 war der Sieg der friedlichen Revolutionen nur möglich gewesen, weil sich die Armee geweigert hatte, auf das Volk zu schießen. Mitte April dieses Jahres war dies erneut der Fall.

Diese sich aufeinander beziehenden Massenproteste – auch der aktuelle – beruhen auf der politischen Kampfbereitschaft und den Erfahrungen aus den Klassenkämpfen zahlreicher Akteure. Dazu zählen die Eisenbahner, die Bauern aus al-Dschasira (einem landwirtschaftlich geprägten Bundesstaat südöstlich von Khartum), der Sudanesische Frauenverband, der von der sozialistischen Aktivistin und Feministin Fatima Ahmed Ibrahim (1928–2017) mitbegründet wurde, und nicht zuletzt die Kommunistischen Partei. Seit ihrer Gründung 1946 bis zum Ende der 1960er Jahre war sie eine der mächtigsten in der arabisch-muslimischen Welt, und ihr Einfluss besteht weiter fort, auch wenn sie zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle spielt. Hinzu kommt die Existenz einer aufgeklärten Akademikerschicht, aus der sich auch die führende Rolle der SPA in den letzten Monaten erklärt.

Sollte es der friedlichen Revolution gelingen, die Oberhand zu behalten, wird die neue Regierung einen historischen Kompromiss zwischen traditionellen Parteien, religiösen Bruderschaften und den fortschrittlichen, modernen Gesellschaftsschichten schließen müssen. Die innenpolitische Situation erscheint günstig, auch wenn es noch Unsicherheiten gibt, welche Position die Armee letztlich beziehen wird.

Im Ausland jedoch, in vielen arabischen Ländern und vor allem in den Monarchien am Golf wird die Entstehung einer echten Demokratie im Sudan misstrauisch beäugt: Man befürchtet destabilisierende Auswirkungen auf die eigenen Gesellschaften. Die Reak­tio­nen der westlichen Diplomaten und der UNO fielen sehr zurückhaltend aus. Bislang hat nach unserer Kenntnis niemand die „Allianz für Freiheit und Wandel“ als legitime Vertretung des sudanesischen Volks anerkannt. Das gilt auch für Russland und China, die gute Beziehungen zum Regime von al-Bashir gepflegt haben. Die revo­lu­tio­nä­re Bewegung im Sudan kann daher nur auf ihre eigene Kraft zählen.

1 Vgl. den Text und die Liste der Unterzeichnenden auf www.sudaneseprofessionals.org.

2 Nationale Arbeitsstatistik 2011, zitiert in „Country Profiles 2017“, UN-Wirtschaftskommission für Afrika, www.uneca.org.

3 Siehe Jean-Baptiste Gallopin, „Keine Ruhe im Sudan“, LMd, Juni 2012.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Giovanna Lelli hat in Iranstudien promoviert und arbeitet derzeit als Gastprofessorin für Arabisch und Islamstudien an der Katholischen Universität von Leuven.

Le Monde diplomatique vom 09.05.2019, von Giovanna Lelli