09.05.2019

Der gnadenlose Feldzug gegen die Muslimbrüder

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Der gnadenlose Feldzug gegen die Muslimbrüder

Während in Algerien und im Sudan in diesem Frühling die über Jahrzehnte herrschenden Präsidenten gestürzt wurden, festigt Abdel Fatah al-Sisi in Ägypten seine Macht. Vor sechs Jahren wurde der demokratisch gewählte Präsident Mohammed Mursi sein erstes Opfer.

von Chérif Ayman

Ägyptisches Konsulat in Istanbul, 3. März 2019: Gebete für hingerichtete Muslimbrüder LEFTERIS PITARAKIS/ap
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Ende April haben 89 Prozent der ägyptischen Wähler in einem Referendum für eine Verfassungsänderung gestimmt, wodurch die Amtszeit des Präsidenten von vier auf sechs Jahre verlängert wird. Die Änderungen würden es dem amtierenden Präsidenten Abdel Fatah al-Sisi ermöglichen, 2024 ein drittes Mal zu Wahl anzutreten – er könnte im Zweifelsfall also bis 2030 durchregieren.

Seit dem Militärputsch vom Juli 2013 gegen Präsident Mohammed Mursi, den ein Jahr zuvor ins Amt gewählten Kandidaten der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei – einem Ableger der Muslimbruderschaft –, regiert General al-Sisi mit harter Hand. Von Anfang an richteten sich die staatlichen Repressionen vor allem gegen die islamistischen Muslimbrüder.

Bereits Ende 2014 verkündeten die ägyptischen Sicherheitskräfte, die gamâa (Bruderschaft) sei tot. Seitdem, erzählt uns Ahmed1 , der dem inneren Kreis der Muslimbruderschaft angehört, sind die Verbindungen zwischen dem Regime und den Brüdern bis auf wenige Ausnahmen gekappt: Die Sicherheitsdienste nehmen zu den zahlreichen inhaftierten Anführern der Bruderschaft nur Kontakt auf, wenn sie bestimmte Informationen benötigen. Bemühungen, mit den Muslimbrüdern zu einem Abkommen zu gelangen, das die Krise entschärfen könnte, gibt es keine.

Obwohl das Regime den Tod der gamâa verkündet hat, ist die Organisation in den medialen Äußerungen der Machthaber und im öffentlichen Diskurs noch immer sehr präsent. Al-Sisi wird nicht müde, in seinen Ansprachen die Episode der islamistischen Regierung unter Mursi und ihre Folgen anzuprangern. Eine derartige Obsession nährt Zweifel, ob die Bewegung wirklich am Ende ist. Und zugleich macht sie deutlich, dass die Sicherheitsdienste seit dem Sturz von Hosni Mubarak wirklich entschlossen sind, die Bewegung zu liquidieren.

2011, beim ersten Treffen des Obersten Rats der Streitkräfte (SCAF) mit den Demonstranten vom Tahrir-Platz, hatte al-Sisi – damals Chef des Militärgeheimdienstes – die Protestierenden beschworen, „sich gut zu organisieren, um zu verhindern, dass die Muslimbrüder die Revolution missbrauchen“. Al-Sisi wusste damals nicht, dass sich unter den jungen Anführern der Revolution auch Mohammed Abbas befand, Repräsentant der Muslimbruderschaft in der Demokratischen Allianz, die nach der Revolution gegründet wurde. Als er sich zu erkennen gab, verfinsterte sich al-Sisis Miene, und er sagte bis zum Ende des Treffens kein Wort mehr. Abbas berichtete im Leitungsbüro der Muslimbruderschaft über den Vorfall. Ironischerweise wurde Abbas später unter Präsident Mohammed Mursi ausgebootet, während al-Sisi zum Verteidigungsminister ernannt wurde.

Einige Tage nach dem Verfassungsreferendum vom 19. März 2011, verbreitete der SCAF eine Verfassungserklärung, die 63 Artikel umfasste, obwohl sich das Referendum nur auf elf Artikel der Verfassung von 1971 bezogen hatte. Die Islamisten – die die ursprünglichen Änderungsvorschläge akzeptiert hatten – betrachteten die Erklärung des Militärrats als Versuch, ihren Einfluss auf der Straße wieder zu schmälern, nachdem 77 Prozent der Wähler beim Referendum mit Ja gestimmt hatten. Tatsächlich spaltete sich in der Folge das revolutionäre Lager, was Militär und Sicherheitsdienste mit Genugtuung registrierten.

Der zweite offensichtliche Versuch, Dämme gegen die Muslimbruderschaft zu errichten, war die im November 2011 vom Kabinett der militärischen Übergangsregierung veröffentlichte „Erklärung über die fundamentalen Prinzipien des neuen ägyptischen Staats“, genannt „Al-Selmi-Dokument“ (nach Ali al-Selmi, von Juli bis Dezember 2011 stellvertretender Ministerpräsident). Die darin enthaltenen Klauseln hätten, einmal angenommen, über der Verfassung gestanden. Der Text verärgerte die Demonstranten und führte zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Mohammed-Mahmud-Straße, bei denen im November 2011 dutzende Menschen getötet wurden. Die Muslimbruderschaft hatte sich offiziell nicht an dieser Straßenschlacht beteiligt und führte als Grund an, die Demonstranten hätten die für Ende des Monats geplanten Wahlen verhindern wollen.

Im Anschluss trafen sich Vertreter der politischen Parteien mit dem damaligen General­stabs­chef Sami Anan. Und Verteidigungsminister Mohammed Tantawi kündigte an, der Militärrat werde spätestens am 1. Juli 2012 die Macht an einen zivilen Präsidenten übergeben. Dieses Versprechen wurde formell eingehalten. Die Muslimbrüder indes büßten erheblich an Unterstützung ein, weil sie sich nicht an den massiven Protesten beteiligt hatten.

Bei der Parlamentswahl Ende 2011 errangen die Islamisten dennoch die Mehrheit in der Volksversammlung, der ersten Kammer des ägyptischen Parlaments. Der Erfolg währte allerdings nicht lange: Als im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 16. und 17. Juni 2012 Mohammed Mursi gegen General Ahmad Schafiq, den letzten Ministerpräsidenten unter Mubarak, antrat, beschloss der Militärrat, die Parlamentswahlen von 2011 für ungültig zu erklären und die Volksversammlung aufzulösen.

Noch am 17. Juni veröffentlichte der Militärrat eine Verfassungserklärung, wonach er die Zuständigkeit für die Gesetzgebung und die Entscheidungsbefugnis in allen Militärfragen für die gesamte Übergangszeit bis zur Wahl einer neuen Volksversammlung übernahm. Damit war der künftige Präsident bereits vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses jeglicher realer Macht beraubt. Zwischen der Armee und der Bruderschaft bahnte sich ein offener Konflikt an, und das Regime begann mit Gewalt gegen die Muslimbrüder vorzugehen.

Kurz nachdem Mohammed Mursi am 1. Juli 2012 sein Amt angetreten hatte, musste er erklären, dass er an der Beerdigung der Anfang August in Rafah getöteten ägyptischen Soldaten nicht teilnehmen könne, weil seine Sicherheit nicht gewährleistet sei. Ministerpräsident Hescham Kandil, der ihn vertrat, wurde während des Trauerzugs attackiert. Die Reaktion des Präsidenten ließ nicht lange auf sich warten: Mohammed Tantawi, Sami Anan und mehrere höhere Offiziere des Militärrats wurden entlassen. Die am letzten Tag der Wahlen veröffentlichte Verfassungserklärung wurde aufgehoben. Ein damals aktiver Offizier erzählt, kurz vor der Entlassung von Tantawi und Anan seien die Streitkräfte ohne ersichtlichen Grund in Alarmbereitschaft versetzt worden. Offenbar hatte die Armeeführung Wind von den Plänen des Präsidenten bekommen. Die Offiziere mussten in ihren Garnisonen auf weitere Befehle warten. 48 Stunden später wurde der Alarmzustand ohne jegliche Erklärung wieder beendet.

Der Krieg zwischen Präsident und Militärrat ging indes weiter. Einer der Höhepunkt war der Zwischenfall im Präsidentenpalast al-Ittihadiya in Heliopolis: Die Armee sandte eine eindeutige Botschaft an die Bruderschaft, indem sie den Schutz des Gebäudes einstellte. Auch von den Büros und von anderen Versammlungsorten der Muslimbruderschaft wurden alle Sicherheitskräfte abgezogen. Die Macht der Islamisten war nur noch eine Schimäre – bis zu jenem schicksalhaften 3. Juli 2013.

„Bei den ersten Treffen zwischen der Armeeführung und den Anführern der Muslimbrüder direkt nach dem Staatsstreich hatte die Armee versucht, ihr Handeln in einen theoretischen Rahmen einzuordnen“, erzählt Ahmed. „Mehmet Ali Pascha2 habe in seinem Entwurf für einen modernen ägyptischen Staat die Armee in den Mittelpunkt gestellt, und die Revolution von 1952 habe diese grundlegende Entscheidung bestätigt. Mit der Revolution von 2011 sei diese Ordnung gestört worden. Das habe man wieder ändern müssen, und das sei im Juli 2013 geschehen.“

Den regionalen Akteuren, allen voran Is­rael, habe die Beteiligung der Muslimbrüder an der Macht gar nicht gefallen, sagt Ahmed. Deswegen seien sie gegen die Bruderschaft vorgegangen, sowohl vor den Wahlen als auch danach. David Kirkpatrick, Korrespondent der New York Times in Kairo, teilt diese Ansicht. In seinem 2018 erschienenen Buch schildert er Details über das Vorgehen Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Israels gegen die Muslimbrüder.3

Kairo sucht die Nähe zu Washington und Tel Aviv

Ahmed zufolge wollte al-Sisi die Beziehungen zu den USA und Israel vor allem verbessern, um seine eigene Macht zu zementieren. Deshalb übernahm er die Positionen der US-amerikanischen und israelischen Nahostpolitik. Das Projekt einer „arabischen Nato“ ist ein Zeichen dieses Wunschs nach Kooperation mit Washington und Tel Aviv. Tatsächlich waren die Beziehungen zwischen Ägypten und Israel selten so gut wie seit dem Staatsstreich von 2013. Al-Sisi selbst bezeichnete sie in einem Interview mit CBS als „ausgezeichnet“. Auch mit den jüngsten Erwägungen Donalds Trumps, die Muslimbruderschaft als ausländische Terrororganisation einzustufen, dürfte der ägyptische Machthaber zufrieden sein. Angeblich soll al-Sisi den US-Präsidenten bei einem vertraulichen Gespräch Anfang April in Washington zu diesem Schritt aufgefordert haben.

General Fuad Allam, ehemaliger Chef des ägyptischen Inlandsgeheimdienstes und Mitglied des im Juli 2017 geschaffenen „Nationalen Rats für den Kampf gegen Terrorismus und Ex­tre­mis­mus“, sieht es so: „Indem der Staat mit Hilfe der Streitkräfte geeignete Maßnahmen gegen die Muslimbrüder ergriffen hat, hat er nur den Wunsch des Volkes erfüllt, der Millionen Ägypter, die spontan auf die Straße gegangen sind.“

Die Behauptungen General Allams, nicht der Staat sei gegen die gamâa vorgegangen, sondern das Volk hätte „die Muslimbrüder gestürzt, angegriffen und sie gehindert hat, ihre Wohnungen zu verlassen“, bezeichnet Adel4 als Lügen. In Wahrheit habe der Staat eine massive Kam­pagne betrieben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und die Muslimbrüder zu verteufeln: „Der Staat hat die Muslimbrüder zu einer terroristischen Organisation erklärt, um sie mit allen Mitteln verfolgen zu können.“

Ein ehemaliger Verantwortlicher der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei vergleicht die Angriffe auf die Bewegung seit 2013 mit jenen des Jahres 1954: „Die jüngste Kampagne folgt dem gleichen Modus Operandi wie unter Nasser, mit der Verhaftung tausender Mitglieder in einer einzigen Nacht. Damals wurde die Organisation zerschlagen.“ Adel berichtet, dass ihm Mohammed Mahdi Akef, der ehemalige Vorsitzende der Muslimbruderschaft, vor seinem Tod erzählt habe, dass der Bruderschaft damals eine halbe Mil­lion Ägypter angehört haben. Der harte Kern sei damals zerschlagen worden, weil die führenden Köpfe im Gefängnis saßen. Heute hänge die Bewegung weniger an den Führungsfiguren, weil sie auch an der Basis besser organisiert sei.

Bei der Repression der letzten Jahre seien jedoch auch „neue Maßnahmen ergriffen worden“, ergänzt Ahmed: „Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Muslimbrüder wurden streng überwacht, Wohnungen wurden verwüstet, Waren und Kapital vom Staat beschlagnahmt.“ Man habe zum Beispiel das ehemalige Wohnhaus von Murad Ali, dem einstigen Sprecher der Muslimbruderschaft, konfisziert und anschließend versteigert.

Am 21. April 2018 ließ al-Sisi ein offizielles Gesetz verabschieden, das die Konfiszierung des beweglichen und unbeweglichen Besitzes jeder Person erlaubt, die von der Justiz als „terroristisch“ eingestuft wird. Aber bereits seit 2013 hat die Regierung tausende Unternehmen und den persönlichen Besitz hunderter „Terroristen“ beschlagnahmt. Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, in welchem Umfang auf diese Weise liquide Vermögenswerte konfisziert wurden. In den re­gime­nahen ägyptischen Medien kursiert die Zahl von 250 Milliarden ägyptischen Pfund (umgerechnet rund 12 Milliarden Euro).

Talaat Fahmi, der in der Türkei lebende Sprecher der ägyptischen Muslimbruderschaft, gibt an, dass es von August 2013 bis Januar 2018 mehr als 40 000 willkürliche Verhaftungen von Oppositionellen gegeben habe. In den vergangenen fünf Jahren seien 3345 Personen durch außergerichtliche Hinrichtungen zu Tode gekommen. Außerdem seien 500 Menschen im Gefängnis gestorben, weil sie keine medizinische Versorgung erhalten haben.

Ob diese Zahlen stimmen, lässt sich nicht überprüfen. Nach Informationen des ägyptischen Innenministeriums wurden im Zeitraum zwischen Juli 2015 und Dezember 2018 insgesamt 465 „Kämpfer“ von Sicherheitskräften getötet. Die Behörden gaben meist an, die Personen seien bei Schießereien mit der Polizei getötet worden. Laut Augenzeugenberichten handelte es sich dabei jedoch oft um Exekutionen.5 Nach Angaben des Nadeem Center for Rehabilitation of Victims of Violence and Torture kamen allein 2015 „durch den Kontakt mit Sicherheitskräften“ 474 Personen zu Tode, bei 175 davon soll es sich um Exekutionen gehandelt haben.6

Seit 2014 wurden in Ägypten zudem über 2500 Personen von Gerichten zum Tode verurteilt. 1320 dieser Urteile seien aus politischen Gründen verhängt worden, sagt Fahmi, und bei 65 von ihnen bestehe keinerlei Einspruchsmöglichkeit mehr. Auch die Zahl der Verschleppten ist rasant gestiegen. Nach Angaben des Nadeem Center lag sie im Jahr 2016 bei 980 Personen. Insgesamt belaufe sich die Zahl der vom Regime Verschleppten mittlerweile auf knapp 6500, meint Fahmi. Etwa 60 Personen seien nach ihrem Verschwinden tot aufgefunden worden.

„Die nach dem Staatsstreich gebildete Regierung hat außerdem 1133 Organisationen der Zivilgesellschaft, 104 Schulen, 69 Krankenhäuser sowie 33 Websites und Satellitensender dichtgemacht“, so Fahmi weiter. Vor allem bestimmte Medien und Journalisten gerieten ins Fadenkreuz der Al-Sisi-Regimes: Vom ersten Tag des Staatsstreichs an hat das Regime Fernsehsender geschlossen, die den Muslimbrüdern gehörten, wie zum Beispiel Misr 25.7 Am 3. Juli 2013 drangen bewaffnete Sicherheitskräfte in die Räume des Senders ein und verhafteten Journalisten an Ort und Stelle.

Am selben Tag wurden noch 6 weitere TV-Sender geschlossen. Insgesamt gingen die Sicherheitskräfte an diesen und den folgenden Tagen gegen 14 Fernsehsender, 3 Zeitungen und mehrere Produktionsgesellschaften vor, 10 Journalisten wurden getötet, Dutzende verletzt. Die Organisation Reporter ohne Grenzen geht davon aus, dass sich im Februar 2019 mindestens 32 ägyptische Journalistinnen und Journalisten in Haft befanden. Insgesamt 509 Web­sites sollen laut Fahmi blockiert sein.

„Die Militärmachthaber haben alle staatlichen Mittel eingesetzt, um die Opposition insgesamt zu schwächen, nicht nur die Muslimbrüder“, betont Fahmi. Die Bruderschaft habe allerdings den höchsten Preis für dieses kriminelle Vorgehen gezahlt. Khalil al-Anani, Professor für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, der zwei Bücher über die Muslimbrüder geschrieben hat,8 bestätigt diese Einschätzung: „Einen so schweren Schlag gegen die Muslimbrüder hat es noch nie gegeben, auch nicht zu Zeiten von Gamal Abdel Nasser.“ Er ist der Ansicht, dass die Bewegung der Muslimbrüder infolge der staatlichen Repression „unter einer institutionellen Paralyse, politischer Ohnmacht, gesellschaftlicher Ausgrenzung und Verschlechterung ihres Images leidet“.

Die gegenwärtige allumfassende Kampagne unterscheide sich von früheren Wellen der Repression, meint al-Anini. „Es geht dabei um Zerstörung und Auslöschung, unabhängig davon, ob man damit Erfolg hat oder nicht. Die Kampagne begann im Übrigen, nachdem die islamistische Bewegung bereits an die Macht gelangt war, mit allen Folgen, die diese misslungene Machtübernahme für ihre Glaubwürdigkeit hatte.“

Die Islamisten bauen im Exil neue Strukturen auf

Außerdem sei die Muslimbruderschaft erstmals in ihrer Geschichte gespalten, so al-Anini – zwischen den Brüdern im Inland und jenen im Ausland, zwischen betagten Anführern und jüngeren Kadern. Und schließlich finde all das vor dem Hintergrund einer beispiellosen regionalen Blockade statt, die mit Billigung der internationalen Gemeinschaft darauf abzielt, den politischen Islam auszuradieren. „Aber es ist schwierig zu sagen, ob die Bewegung zerstört ist oder nicht“, meint al-Anini. „Eher könnte man sagen, dass sie heute eine Phantomexistenz führt – ähnlich wie bei einem Menschen im Koma, der das Bewusstsein verloren hat, während die Vitalfunktionen noch vorhanden sind.“

In Ägypten gebe es derzeit keinen gewichtigen politischen Akteur, der dem Regime Paroli bieten könne, ist sich al-Anini sicher. „Die Situation ist nicht mehr mit der zu Zeiten Mubaraks oder des Militärrats vergleichbar, wir erleben heute eine radikale Militärherrschaft, für die es ausgeschlossen ist, Konflikte auf politischem Weg zu lösen.“ Das Regime benutze die Muslimbruderschaft als Schreckgespenst, als Druckmittel im Inland, aber auch im Ausland. „Und das Bemerkenswerte daran ist, dass die Muslimbrüder, ob bewusst oder unbewusst, bereitwillig in diese Falle tappen.“

Talaat Fahmi betont hingegen, die Bewegung befinde sich offiziell in einer Phase der „Neuordnung“. Die gesellschaftliche Unterstützung für die Bruderschaft sei nicht zurückgegangen, sondern sei sogar stärker als früher, versichert er. Er verweist auf eine Studie des Washington Institute, wonach ein Drittel der ägyptischen Bevölkerung immer noch hinter den Muslimbrüdern stehe.9 „Wir verlangen von al-Sisi und seinen Getreuen, dass sie echte, freie Wahlen zulassen, damit jede Seite weiß, wie viel Rückhalt sie in der Gesellschaft hat.“

Inzwischen arbeite die Bruderschaft an einer Strategie, um das kollektive Bewusstsein des Volks wiederzuerwecken, das seit dem Staatsstreich vor sechs Jahren unterdrückt werde, sagt Fahmi. Fahmi und Ahmed betonen beide, dass die Bewegung – nach einer Phase der inneren Konflikte, welche die Repression durch das Regime erleichtert hätten – nun wieder als geeinter Block agiere. Dabei konzentriere man sich weniger auf Aktivitäten nach außen als vielmehr auf den inneren Wiederaufbau. „Die Bruderschaft ist immer noch in der Lage Komitees zusammenzubringen, um zum Beispiel die interne Schulung fortzusetzen“, obwohl das Regime „die drei ­obersten Führungsebenen komplett verhaftet hat“.

Das sieht General Fuad Allam natürlich anders: Ihm zufolge gibt es gegenwärtig keinerlei Aktivitäten der Muslimbrüder, auch nicht im Innern der Bewegung. Wenn sich die Bewegung kritisch hinterfrage, könne sie vielleicht in dreißig bis vierzig Jahren wieder Gruppen bilden und in Ägypten aktiv werden. Gleichwohl warnt das Regime weiter fleißig vor der Gefahr, die von den Islamisten ausgehe. Auf einer Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Ma­cron Ende Januar sprach al-Sisi in Bezug auf das Mursi-Intermezzo vom gescheiterten Projekt, „in Ägypten eine Theokratie zu errichten“.

Ahmed betont, dass es inzwischen nur noch einen Weg gebe, wie die Muslimbruderschaft erneut Einfluss nehmen könne, und zwar über die ihr nahestehenden Medien mit Sitz im Ausland, vor allem in der Türkei, in Katar und in Großbritannien. Dazu gehören etwa die in Istanbul ansässigen Satellitensender Rabea TV und al-Watan. Diese sind dem Al-Sisi-Regime vor allem deswegen ein Dorn im Auge, weil die regimetreuen Fernsehsender sinkende Einschaltquoten verzeichnen. Dass die ägyptische Regierung den Einfluss dieser Sender fürchtet, zeigt auch eine vor einigen Wochen von ihr gestartete Kampagne gegen die „Fake News der Muslimbrüder“.

Ein weiterer Faktor, der dafür spricht, dass die Muslimbrüder auch in Zukunft Einfluss in Ägypten ausüben werden, ist die Tatsache, dass sie in den meisten muslimischen Ländern mit einem breiten Spektrum an Aktivitäten vertreten sind. Einigen Führungspersonen ist es gelungen, das Land zu verlassen und im Exil neue Strukturen aufzubauen. Das lässt erwarten, dass sie von dort aus Einfluss nehmen werden, sobald das Klima in Ägypten für sie günstiger ist.

Zudem eröffnet das Internet neue Wege, Dokumente, Bücher und Schriften der Muslimbrüder zu erhalten und zu verbreiten. Zwar versucht die ägyptische Regierung heute auch diesen Bereich zu kontrollieren, aber auch sie kann nicht alles beschlagnahmen, verbieten oder verbrennen. Und das Regime trägt selbst dazu bei, dass die Bruderschaft in Zukunft wieder mehr Einfluss nehmen könnte: Einerseits profitieren die Muslimbrüder vom Versagen der Regierung bei der Lösung der sozialen Probleme im Land. Und andererseits verleiht die brutale Verfolgung durch den Staat der Bruderschaft ein Märtyrerimage. Zusammen sorgen all diese Faktoren dafür, dass die Lehre der Muslimbrüder bewahrt wird und sich zahlreiche Gruppen gehalten haben, die bessere Zeiten abwarten, um dann wieder vor Ort aktiv zu werden.

Ein Ende des Konflikts zwischen dem Regime und der islamistischen Opposition ist heute nicht in Sicht. Zwar sind die Muslimbrüder geschwächt, aber auch in Zukunft dürften sie die einzige nichtstaatliche Bewegung in Ägypten sein, die in der Lage ist, einer Herrschaft, die gnadenloser agiert denn je, die Stirn zu bieten. Je schärfer das Al-Sisi-Regime gegen die eigenen Bürger vorgeht, umso mehr büßt es an Legitimität ein – da kann der Präsident noch so oft behaupten, er repräsentiere den Willen des Volkes.

1 Name geändert.

2 Begründer der bis 1953 herrschenden Dynastie in Ägypten.

3 David D. Kirkpatrick, „Into the Hands of Soldiers“, New York (Viking) 2018. Im Februar dieses Jahres wurde Kirkpatrick ausgewiesen.

4 Name geändert.

5 „Special Report: Egypt kills hundreds of suspected militants in disputed gun battles“, Reuters, 5. April 2019.

6 Maged Mandour, „Egypt’s Invisible Executions“, Carnegie Endowment for International Peace, 25. April 2019.

7 Die Gesellschaft Eilam al-Masriyyine hat gleichzeitig einen Großteil der Privatsender aufgekauft wie ON, al-Hayat und CBS. Die Gesellschaft ist eng mit dem ägyptischen Nachrichtendienst verknüpft, weshalb es unmöglich ist, zwischen staatlichen und privaten Medien zu unterscheiden. Ihr gehören auch zahlreiche Medienplattformen, zum Beispiel die Tageszeitung Al-Yawm al-Sabi.

8 „Die Muslimbrüder in Ägypten. Gerontokratie gegen die Zeit?“ (in Arabisch), Kairo (Shorouk Press) 2007, sowie „Inside the Muslim Brotherhood: Religion, Identity, and Politics“, Oxford (Oxford University Press) 2016.

9 „In Egypt, One-Third Still Like the Muslim Brotherhood; Half Call U. S. Ties ‚Important‘ “, Washington Institute, 10. Dezember 2018, www.washingtoninstitute.org.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Chérif Ayman ist Wissenschaftler.

© Orient XXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.05.2019, von Chérif Ayman