Ukrainisch für Anfänger
Die Muttersprache des neuen Präsidenten Wolodimir Selenski ist Russisch. Doch die Kluft zwischen Lwiw und Lugansk wird dadurch nicht kleiner – im Gegenteil: Bilingualität ist nicht mehr erwünscht.
von Nikita Taranko Acosta
Am 9. März 2019 feierte die Ukraine den 205. Geburtstag ihres Nationaldichters Taras Schewtschenko. Präsident Petro Poroschenko nutzte diesen offiziellen Termin, um zum wiederholten Male darauf hinzuweisen, dass kein anderer als er selbst es gewesen sei, der nach dreihundert Jahren Unterordnung die Ukrainische Orthodoxe Kirche vom Moskauer Patriarchat gelöst habe: „Wir haben uns von der kulturellen Okkupation befreit, die ebenso gefährlich ist wie die territoriale.“
Poroschenkos Wahlkampf unter dem Motto „Armee, Sprache, Glaube“ konnte nicht über die dürftige Bilanz seiner fünfjährigen Amtszeit hinwegtäuschen: Weder bei der Korruptionsbekämpfung noch bei der Beilegung des bewaffneten Konflikts im Donbass, in dem in den vergangenen sechs Jahren 13 000 Menschen umgekommen sind, hat er Fortschritte vorzuweisen.
Bei der Stichwahl am 21. April schlug Wolodimir Selenski den Milliardär Poroschenko dann auch mit 73 Prozent der Stimmen. Der Komiker und Fernsehproduzent Selenski, den noch vor wenigen Monaten niemand auf der Rechnung hatte, will die Staatsgewalt vom Einfluss der Oligarchen befreien. Allerdings muss er selbst sich von Journalisten immer wieder nach seiner Beziehung zu dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj fragen lassen, dem unter anderem der Fernsehsender 1+1 gehört, in dem Selenski auftritt.
Auch in der Sprachenfrage muss der neue Präsident, dessen Muttersprache Russisch ist, Stellung beziehen. Wird er die Politik seines Vorgängers zur radikalen Durchsetzung des Ukrainischen abmildern? Poroschenko hatte im Rahmen des Programms zur „Entkommunisierung“, also der Beseitigung des kommunistischen Erbes der Sowjetunion, seit 2014 tausende von Ortsnamen, Straßen und Plätzen umbenennen lassen.
So verzichtet Dnipropetrowsk, die viertgrößte Stadt der Ukraine, seit 2016 auf die Ehrung des bolschewistischen Revolutionärs Grigori Petrowski und heißt nur noch Dnipro, nach dem Fluss, der sie durchquert. In Kiew heißt die Lenin-Straße jetzt John-Lennon-Straße, die Moskauer Allee wurde nach Stepan Bandera benannt, dem Anführer der Ukrainischen Aufständischen Armee, die während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis kollaborierte. 2015 wurde der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU), Pjotr Simonenko, von der Zentralen Wahlkommission nicht als Kandidat zugelassen, weil das Emblem der KPU – Hammer und Sichel – gegen das Entkommunisierungsgesetz verstoße.
Seit Beginn des Konflikts im Donbass wird die Zurückdrängung des Russischen als Widerstandsakt zelebriert. Drei Gesetze wurden dazu erlassen: Das erste, vom Mai 2017, verpflichtet Fernseh- und Radiosender, 75 Prozent ihrer Inhalte auf Ukrainisch auszustrahlen. Allein im vergangenen Jahr ist der Anteil der Sendungen auf Ukrainisch in der abendlichen Hauptsendezeit von 39 auf 64 Prozent gestiegen.
Um die gesetzlichen Verpflichtungen zu erfüllen, werden manche Sendungen von vornherein zweisprachig konzipiert, wie etwa in der beliebten Reality-Show „Revisor“, in der Hotels, Restaurants oder Lebensmittelläden bei Verstößen gegen die Hygienevorschriften „ertappt“ werden; hier wechseln sich die Ukrainisch sprechende Moderatorin Anna Jija und ihr russischsprachiger Kollege Nikolai Tischtschenko ab.
Besonders umstritten ist das zweite Gesetz vom September 2017, nach dem alle Oberschulen dazu verpflichtet sind, bis 2020 Ukrainisch als einzige Unterrichtssprache einzuführen. In hunderten Realschulen und Gymnasien wird bislang nur auf Russisch oder in einer anderen Minderheitensprache unterrichtet. Ausnahmen, aber auch nur in ausgewählten Fächern, gelten laut dem Gesetz für die EU-Amtssprachen Polnisch, Ungarisch und Rumänisch sowie für die autochthonen Sprachen der Krimtataren, Gagausen und Roma.
Nach dem neuen Bildungsgesetz soll Russisch nur noch im Literaturunterricht gesprochen werden; für die Abschlussprüfung der Mittleren Reife ist es nicht mehr zugelassen. Die Venedig-Kommission, eine Einrichtung des Europarats, die Staaten in Verfassungs- und Völkerrechtsfragen berät, äußerte wegen der Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung Vorbehalte und empfahl den Einsatz „weniger restriktiver Maßnahmen“, um die, so das offizielle Anliegen des Bildungsgesetzes, „Integration von Minderheiten zu fördern“.1
Das dritte Gesetz, das Ukrainisch zur Staatssprache erklärt, wurde am 25. April 2019 von der Rada mit 278 Ja- bei 38 Nein-Stimmen angenommen. Poroschenko will es noch vor Ablauf seiner Amtszeit unterzeichnen. Darin heißt es, wer dem Russischen den Status einer offiziellen Sprache zubillige, wolle „die Verfassungsordnung umstürzen“. Die „Missachtung der ukrainischen Sprache“ gilt neuerdings als Straftat. 27 Inspektoren sollen die Einhaltung der Vorschriften kontrollieren. Sie können Beamte, die während ihrer Dienstzeit nicht Ukrainisch sprechen, mit Geldstrafen belegen.
Wie ideologisch und realitätsfern dieses Gesetz ist, zeigt sich am Kommunikationsverhalten des neuen Präsidenten, der seine Interviews oft auf Ukrainisch beginnt und spontan in seine Muttersprache Russisch wechselt. Die Sprachgrenze in der Ukraine verläuft zwischen West und Ost. Während in Lwiw, nahe der polnischen Grenze, 95 Prozent der Bevölkerung im Freundes- und Familienkreis Ukrainisch sprechen, bevorzugen im ostukrainischen Charkiw 81 Prozent das Russische.2
Grundsätzlich wechselt jedoch eine Mehrheit je nach Gesprächssituation von einer Sprache in die andere. Während 70 Prozent der Gesamtbevölkerung erklären, Ukrainisch sei ihre Muttersprache (für 14 Prozent ist es Russisch), geben es nur 40 Prozent als Arbeitssprache an.3 17 Prozent der Befragten bezeichnen sich als zweisprachig. Und in einer Studie des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew erklärten vor einigen Jahren noch 12 Prozent der Befragten, Surschyk zu benutzen, eine ukrainisch-russische Mischsprache.4
Diese Mehrsprachigkeit hat sich in zwei Jahrhunderten der Russifizierung vom Zarenreich bis zur UdSSR herausgebildet. In der Sowjetunion gab es nie ein offizielles Verbot des Ukrainischen. In den 1920er Jahren wurde es sogar vorübergehend gefördert. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich das Russische dennoch als Lingua franca und Kultursprache in allen Sowjetrepubliken durchgesetzt. Nach der Auflösung der UdSSR 1991 und der Gründung unabhängiger Staaten standen sich in der Ukraine zwei Positionen gegenüber.
Die patriotischen und der Europäischen Union zugeneigten Kräfte im Westen wollten die lange verachtete Nationalsprache auferstehen lassen, die als ländlicher Dialekt abgetan und von den Eliten kaum gesprochen wurde. Die Verteidiger des Russischen hingegen verlangten, die Zweisprachigkeit des neuen ukrainischen Staats anzuerkennen. Auf der Suche nach einem Ausgleich verlieh Präsident Janukowitsch 2012 dem Russischen den Status einer zweiten Amtssprache in den Regionen, wo mindestens 10 Prozent Russischsprachige lebten, was heftige Proteste bei der Opposition auslöste.
Sowjetische Kinderbücher auf dem Index
Nach dem Sturz von Janukowitsch entzog das Parlament 2014 dem Russischen den Status als offizielle Sprache. Daraufhin kam es im Osten des Landes ebenfalls zu heftigen Protesten, die von Moskau unterstützt und von der ukrainischen Armee unterdrückt wurden. Wenige Wochen später annektierte Russland die Krim.
Trotz der Maßnahmen der Regierung, die Dominanz des Russischen im öffentlichen Raum zu brechen, werden heute immer noch fast 60 Prozent der Tageszeitungen auf Russisch gedruckt. Besonders bei den jungen Leuten im Osten und Südosten des Landes sind die russischen Fernsehserien und Musikprogramme beliebt. Von den zehn am häufigsten gegoogelten Serien werden sieben in Russland produziert.
Immer noch werden dreimal mehr Bücher auf Russisch als auf Ukrainisch verkauft, ungeachtet des 2015 erlassenen Importverbots sogenannter anti-ukrainischer russischer Werke. Gegenwärtig stehen 150 Titel auf dem Index, darunter sowjetische Kinderbücher und ein Handbuch zur Persönlichkeitsentwicklung mit Beispielen aus der Arbeitswelt russischer Sicherheitsdienste. Trotz des Verbots der Suchmaschine Yandex und des russischen sozialen Netzwerks vk.com surfen die Ukrainer mehrheitlich auf Russisch.
„Ukrainisch ist die Staatssprache, aber man darf weder das Russische noch die anderen Sprachen der Ukraine unter Druck setzen“, erklärte Selenski während des Wahlkampfs im März.5 Während sich Moskau angesichts der diplomatischen Krise, die durch das Bildungsgesetz im September 2017 ausgelöst worden war, in Schweigen hüllte, hatten sich damals 37 Europaabgeordnete aus Ungarn, Polen, der Slowakei und Bulgarien in einem offenen Brief an Poroschenko gewandt. Ungarn legte deswegen sogar dreimal sein Veto gegen ein Nato-Gipfeltreffen mit der Ukraine ein. Die heftigen Reaktionen angesichts der überschaubaren Anzahl betroffener Schulen6 hat die ukrainischen Minister überrascht. Am Ende verschob Poroschenko die vollständige Umsetzung des Gesetzes auf 2023 und kündigte an, die Frist könne auch noch weiter verlängert werden.
Im Grunde teilt der neue Präsident jedoch das Ziel seines Vorgängers wie auch der übergroßen Mehrheit der Parteien in der Rada. „Heute funktioniert unser Bildungssystem so, dass die nächsten Generationen Ukrainisch sprechen werden“, meint Selenski und erzählt stolz, dass seine Kinder jetzt schon Mühe haben, wenn sie ihrem Vater auf Russisch antworten wollen.
Der Konflikt scheint die Fronten auf Kosten der Zweisprachigkeit geklärt zu haben. Die Krimbewohner, von denen sich 2001 bei der letzten Volkszählung 76 Prozent für russischsprachig erklärt hatten, haben inzwischen die russische Staatsbürgerschaft. Und die Separatistenrepubliken in Donezk und Lugansk nehmen nicht mehr an den ukrainischen Wahlen teil. Es gibt nur eine Fraktion, die die Zweisprachigkeit noch verteidigt, und das ist der Oppositionsblock (OB), ein Erbe der (inzwischen gespaltenen) Partei der Regionen, die 38 von 450 Sitzen in der Rada innehat; in der letzten Legislaturperiode waren es noch 78 von 478.
Der junge Blogger Alexander Todortschuk sorgte in den sozialen Netzwerken für Aufsehen, als er vor drei Jahren vom Russischen zum Ukrainischen wechselte.7 Andere bekannte Persönlichkeiten folgten. Im April 2017 erklärte der populäre Fernsehmoderator Pavel Kasarin: „Ich bin auf der Krim geboren, und meine Muttersprache ist Russisch, aber die Leute, die es als ihr Recht ansehen, kein Ukrainisch zu lernen, haben mich schon immer geärgert. Deshalb rufe ich hiermit zur Kasarin-Challenge auf: Ukrainisch lernen in drei Monaten.“8 Ein Teil der russischsprachigen Bevölkerung hat sich schon für den proeuropäischen Weg entschieden und spricht inzwischen mehr Ukrainisch.
5 Video vom 21. März 2019 auf der Webseite des Kandidaten: https://ze2019.com/blog/press_conference.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Nikita Taranko Acosta ist Politikwissenschaftler am Center for Russia and Eastern Europe Research (Creer) in Genf.