09.05.2019

Die Polizei schoss völlig unvermittelt in die Busse hinein

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Die Polizei schoss völlig unvermittelt in die Busse hinein

Seit dem Angriff auf Studenten eines Lehrerseminars 2014 in Iguala sind 43 von ihnen verschwunden. An der Aufklärung ihres Schicksals entscheidet sich die Glaubwürdigkeit der neuen mexikanischen Regierung.

von Rachel Nolan

Gemeinsame Sache von Staat und Drogenkartellen? Demonstranten wollen Klarheit, 23. Oktober 2014 JORGE DAN LOPEZ/reuters
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In der Nacht des 26. September 2014 eröffnete die örtliche Polizei der Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero das Feuer auf mehrere Busse – die meisten vollbesetzt mit Studenten, zudem einer mit Fußballspielern, die gerade von einem Auswärtsspiel nach Hause zurückkehrten. Sechs Personen wurden getötet. Bis Mitternacht waren 43 weitere Studenten verschwunden oder eher: gewaltsam zum Verschwinden gebracht worden.

Was danach passierte, ist unklar. Die mexikanische Regierung behauptete zunächst, die Polizei habe die Studenten einem lokalen Drogensyndikat übergeben, das die jungen Leute ermordet, die Leichen verbrannt und die Knochen in einem Massengrab verscharrt habe. Aber als sich die offizielle Geschichte laufend änderte, war bald klar, dass da etwas vertuscht werden sollte.

Als der Fall auch die Aufmerksamkeit internationaler Medien erregt hatte, machten sich Eltern und Aktivisten auf die Suche. Sie fanden ein Massengrab nach dem anderen. Aber die Toten darin waren nicht ihre Kinder. Es waren die Knochen anderer Leute. Wie sich herausstellte, ist Mexiko von geheimen Massengräbern (fosas clandestinas) übersät. Das Verschwindenlassen von Personen erinnert an die lateinamerikanischen Diktaturen während des Kalten Kriegs. Mexiko führte damals seinen eigenen schmutzigen Krieg.

Die jungen Leute, die in Iguala verschwanden, machten sich gerade zu einer Gedenkveranstaltung auf, die an eines der dunkelsten Kapitel dieses Krieges erinnern sollte: an das Massaker von Tlatelolco im Jahr 1968. Zehn Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt hatten auf Befehl des damaligen Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz Soldaten in Zivil und Scharfschützen von Dächern aus auf demonstrierende Studenten geschossen und mindestens 300 von ihnen getötet. Die Regierung bestritt das Massaker und sprach von einer „Konfrontation“. Die Soldaten schafften die Leichen beiseite, sodass die Zahl der Opfer nie festgestellt wurde und die Familien ihre Toten nicht bestatten konnten. Seither findet alljährlich am 2. Oktober im Stadtteil Tlatelolco auf dem Platz des Massakers ein Gedenkgottesdienst statt.

Zu diesem Ort wollten die Studenten, die in Iguala attackiert wurden. Und deshalb stiegen sie mit vermummten Gesichtern in Fernbusse und nötigten die Fahrer, ihre Route zu ändern. Die Praxis, Busse zu entführen, ist ziemlich verbreitet und passt zum Geist der Schule, an der die jungen Männer studierten.

Das Lehrerseminar Raúl Isidor Burgos ist allgemein unter dem Namen Ayotzinapa bekannt, nach dem Ort, in dem es liegt. Ayotzinapa gehört zu einem Netzwerk von Lehrerseminaren, die in den 1920er Jahren während der radikalsten Phase der mexikanischen Revolution gegründet wurden. Die Revolution brachte zwei nachhaltige Veränderungen: mehr Land und Rechte für die Bauern (campesinos) und eine politische Partei, die keine Opposition duldete. Ihr Name erschien mir immer wie ein Widerspruch in sich: Partido Revolucionario Institucional (PRI) – Partei der Institutionellen Revolution.

Sie war von 1929 bis 2000 ununterbrochen an der Macht, indem sie Wahlergebnisse fälschte, die Presse bestach und jeden Protest im Keim erstickte. Mario Vargas Llosa hat das mexikanische System einmal als eine perfekte Diktatur bezeichnet, die sich mit hinreichend vielen Wahlen bemänteln würde, um als Demokratie durchzugehen. Die PRI dieser Periode wird von Historikern auch als „dicta­blanda“ (weiche Diktatur) bezeichnet, ein Wortspiel mit „dictadura“ (duro = hart).

Die PRI, dem Namen nach eine linke Partei, bediente sich der Taktiken des schmutzigen Kriegs – das gewaltsame Beseitigen missliebiger Personen, die Infiltration sozialistischer und kommunistischer Gruppen –, um in den Gemeinden, Bundesstaaten und im Zentrum an der Macht zu bleiben. In Bundesstaaten wie Guerrero war die weiche Diktatur nicht sehr weich. Die lokalen Eliten ließen ihre Gegner in Helikoptern über den Pazifik fliegen und dort abwerfen.

Die radikale Strömung der Revolution, die die Lehrerseminare hervorgebracht hatte, ist schon lange verebbt, das Verhältnis zwischen Studenten und Behörden ist seit Jahrzehnten gespannt. In Ayotzinapa schmücken Bildnisse von Lenin, Che Guevara und Subcomandante Marcos, dem Anführer des Zapatisten-Aufstands von 1994, die Wände.

Die Seminare haben ihren ursprünglichen an Montessori ausgerichteten, lebensnahen Unterrichtsstil mit politischer Bewusstseinsbildung beibehalten. Kost, Logis und Unterricht sind frei, aber die Studenten arbeiten hart. Sie versorgen Schweine und Hühner, halten mit Macheten das Unkraut nieder und bauen Mais, Bohnen, Gemüse und Blumen an, die sie auf dem Markt verkaufen oder mit den Ortsansässigen teilen.

Die Studenten stammen aus armen, häufig indigenen Familien. Einer von ihnen wird in der von John Gibler aufgezeichneten Oral History des Massakers1 mit den Worten zitiert: „Wir haben keine anderen Studien- oder Karrieremöglichkeiten. Mein Heimatort ist noch mehr am Arsch als andere. Ich bin hergekommen, weil ich lernen, etwas aus mir machen will.“ Die Absolventen werden Landschullehrer. Es ist eine der wenigen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, wenn man nicht zu einer Gang gehören oder einen Kojoten (Schleuser) bezahlen will, um in die USA zu kommen.

Der PRI betrachtet die Lehrerseminare schon lange als Brutstätten politischen Widerstands, der sich über die Schulen, in denen die Absolventen unterrichten, weiter ausbreitet. Es waren Landschullehrer, die einst die Revolution lostreten halfen, und die Partei der Institutionellen Revolution ist nicht darauf erpicht, dass sich die Sache wiederholt.

Ursprünglich gab es 36 solcher Lehrerseminare in ganz Mexiko, aber nach den Studentenunruhen von 1968 ließ Präsident Díaz Ordaz 18 davon schließen. Die verbliebenen müssen mit einem schmalen Budget auskommen. Die Studenten rechtfertigen ihre Busentführungen damit, dass die Regierung ihnen die Ressourcen kürzt und sie gleichzeitig zu „Beobachtungskursen“ an anderen Schulen verpflichtet, ohne das Fahrgeld zu bezahlen. Wenn sie Busse kaperten, dann nur, um zu anderen Schulen oder zu Demonstrationen zu fahren.

Die Studenten von Ayotzinapa argwöhnten, zu Recht, dass die Regierung sie überwachte, und gaben sich daher Spitznamen wie Cochiloco (verrücktes Schwein), Shaggy (Zottel), Dormilón (Schlafmütze) oder Pato (Ente). Manche von ihnen kannten noch nicht einmal die echten Namen ihrer Kollegen, was in der Nacht des Verschwindens zusätzlich Verwirrung stiftete. Während man die Busentführungen vor Ort allenfalls als Ärgernis betrachtet, werden sie von den regierungstreuen Medien dazu benutzt, die jungen Leute als Diebe oder Narcos (Drogendealer) zu brandmarken.

Früher lieferte der Kalte Krieg in Lateinamerika oft den Rahmen und die Rechtfertigung für lokale Abrechnungen und die Unterdrückung von Gegnern. Beamte konnten jede beliebige Person foltern oder verschwinden lassen, man musste sie nur zum Kommunisten erklären. Heute legitimiert der Drogenkrieg solche Repressionen.

Im Mexiko der 1970er Jahre planten tatsächlich einige linke Guerillagruppen die Revolution. Aber die Regierung übertrieb deren Verbreitung und Stärke gewaltig, um die allgemeine Repression zu rechtfertigen. Zwei von Mexikos bekanntesten Guerillakämpfern, die später vom Militär umgebracht wurden, waren in Ayotzinapa ausgebildete Lehrer. Heute kann jeder, den die Handlanger der ­Regierung inhaftieren, foltern oder exekutieren wollen, verschwinden, wenn man ihn zum Narco erklärt. Manchmal sind sie es auch. Meistens jedoch nicht.

Viele Mexikaner glauben, dass die Kartelle mit der Regierung Hand in Hand arbeiten. 2006, als sich die Front im Drogenkrieg längst von Kolumbien nach Mexiko verschoben hatte, verkündete der damals frisch gewählte Präsident Calderón, er werde die Kartelle auslöschen. Zwei Jahre danach spendierten die USA 1,5 Milliarden Dollar, um ihm dabei zu helfen.

Als ich 2009 nach Mexiko zog, wurde häufig darüber gerätselt, ob Calderón wirklich an der Vernichtung der Kartelle gelegen sei oder ob er mit einem von ihnen unter einer Decke steckte und das Geld aus den USA dazu benutzte, die anderen auszubooten. Als der für sein Engagement im Kampf gegen die Kartelle bekannte ehemalige Staatsanwalt Santiago Vasconcelos und der damalige Innenminister Mexikos, Juan Camilo Mouriño, bei einem Flugzeugabsturz mitten in Mexiko-Stadt umkamen, lief die Gerüchteküche heiß.

Nach Auskunft der Regierung handelte es sich um einen Unfall, aber viele Leute waren – ohne dass es Beweise dafür gegeben hätte – überzeugt, die Kartelle hätten das Flugzeug abgeschossen oder die Regierung selbst habe eine allzu engagierte Untersuchung des Drogenhandels, die bis ganz nach oben geführt hätte, unterbinden wollen.

Dass der mexikanische Staatsapparat von den Kartellen infiltriert ist, ist ebenso Gerücht wie Tatsache. Ich entsinne mich einer Ethnologin, die mir erzählte, dass sie bei einem Forschungsaufenthalt Interviews mit Drogenhändlern geführt habe: „Beim nächsten Aufenthalt traf ich einen meiner ehemaligen Informanten wieder, aber jetzt war er Bürgermeister.“ Auf nationaler Ebene ist der Beweis schwerer zu erbringen, aber beim jüngsten Prozess gegen den Drogenbaron El Chapo behauptete ein Zeuge, der Präsident und PRI-Chef zur Zeit des Massakers von Iguala, Peña Nieto, habe 100 Millionen US-Dollar vom Sinaloa-Kartell erhalten.

Wir wissen nicht genau, wer mit wem unter eine Decke steckt und wann und wozu. Wer hat das Flugzeug zum Absturz gebracht, wenn es kein Unfall war? Wer hat die Studenten verschwinden lassen? Angesichts von Korruption und Arglist auf allen Ebenen des Staats verzichten viele Mexikaner von vornherein darauf, die Polizei zu rufen, wenn sie ausgeraubt oder gar Zeuge eines Gewaltverbrechens werden. Wozu auch? Die Polizei macht die Sache nur noch schlimmer. Und man könnte von ihr bei den Kriminellen denunziert werden.

Es gab andere Massaker und viele andere Verschwundene vor den Studenten von Iguala. Nach Schätzungen wurden im mexikanischen Drogenkrieg 130 000 Menschen getötet und 27 000 Personen verschwanden. Aber nach dem Ayotzinapa-Massaker änderte sich die Stimmung. Am Tag danach gingen die Leute in Mexiko-Stadt, in Guerrero und überall im Land auf die Straße und riefen: „Fue el estado! Fue el estado!“ Es war der Staat.

Es gibt sehr viele verschiedene Versionen darüber, was in jener Nacht in Guerrero geschah, am wenigsten glaubhaft ist die offizielle. Wir wissen, dass die Studentengruppe Ayotzinapa am Nachmittag verließ, um Busse zu kapern. Sie waren in Feierlaune. „Wir alberten rum wie immer, du siehst ja, wie wir sind, wir quatschen, bauen Scheiße, reden über Mädchen“, erzählte einer der Studenten Gibler.

Mit zwei Bussen, die sie schon besetzt hatten, fuhren sie zum Busbahnhof in Iguala, um dort weitere zu entführen. Als sie in der Stadt eintrafen, war es bereits dunkel und es regnete. Die städtische Polizei errichtete Straßensperren, um sie am Verlassen der Stadt in den neuen Bussen zu hindern. Diese wurden, zusammen mit dem Bus der Fußballmannschaft, der ihnen farblich ähnelte, von der Polizei gestoppt. Völlig unvermittelt begannen die Beamten in die Busse hineinzuschießen. Scheiben zerbarsten. „Ihr seid tot, ihr Wichser!“, hörte ein Student sie brüllen.

Polizisten zwangen die Studenten und Fußballspieler auszusteigen, einige rannten in nahe gelegene Maisfelder und sahen, wie ihre Kameraden in Polizeiwagen verfrachtet wurden. Ein Student hatte eine Panikattacke und zuckte krampfhaft. „Sie zerrten ihn an einer Hand und einem Fuß zum Auto. Dann warfen sie ihn wie einen Sack hinten in den Mannschaftswagen“, erzählte ein anderer Student.

Die jungen Leute waren Konfrontationen mit der Polizei gewohnt, aber dergleichen hatten sie noch nie erlebt. Die Auseinandersetzungen endeten in der Regel friedlich, sobald die Polizei merkte, dass die Studenten nicht bewaffnet waren, berichtete einer. Die Polizisten hätten ihnen dann eine Standpauke gehalten: „ ‚Jungs, ihr könnt nicht einfach so Fahrzeuge entführen, ihr müsst vorher mit den Busunternehmen eine Vereinbarung treffen‘, bla, bla, bla und so Zeugs. Aber an dem Abend war die Polizei anders drauf. Wir sagten: ‚Wir sind Studenten, wir sind unbewaffnet‘, aber der Polizei war das scheißegal.“

Einige Tage später verkündete die Regierung, dass die Untersuchung des Vorfalls abgeschlossen sei. Der offiziellen Geschichte zufolge war der Angriff von Igualas Bürgermeister und seiner Frau angeordnet worden, Mitgliedern der Oppositionspartei PRD (Partei der Demokratischen Revolu­tion). Die Amtszeit des Bürgermeisters ging gerade zu Ende, und an besagtem Abend eröffnete seine Frau ihren Wahlkampf um seine Nachfolge mit einer öffentlichen Veranstaltung. Und diese hätten die Studenten stören wollen.

Der Bürgermeister und seine Frau hätten befohlen, das zu verhindern und die Studenten einer lokalen Drogenbande auszuliefern, zu denen die beiden angeblich Verbindungen unterhielten. Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen verbreiteten begeistert diese Geschichte und beschrieben die Frau des Bürgermeisters als eine Art Lady Macbeth. Es gereichte ihr dabei zum Nachteil, dass sie gut aussah und ehrgeizig war.

Es stimmte lediglich, dass die beiden Brüder der Frau früher einmal für das Beltrán-Leyva-Kartell gearbeitet hatten. Auch verschiedene Anführer der städtischen Drogengang Guerreros Unidos hatten als Killer für dieses Kartell gearbeitet. Die Frau des Bürgermeisters wies hartnäckig darauf hin, dass ihre Brüder tot waren, und zwar schon lange vor dem Amtsantritt ihres Mannes, sie und ihr Mann hätten keinerlei Verbindung zu den Narcos.

Selbst wenn ihr eine solche Verbindung hätte nachgewiesen werden können – was nicht der Fall war –, wäre die Geschichte aber nicht schlüssig gewesen. Denn die überlebenden Studenten gaben zu Protokoll, dass ihnen von einer Wahlkampfveranstaltung nichts bekannt gewesen sei. Zum Zeitpunkt des Angriffs war diese auch längst vorbei. Der Bürgermeister und seine Familie aßen Tacos an einem Stand in einem anderen Teil der Stadt.

Wer also hatte den Angriff befohlen? Und warum? Eine der bekanntesten investigativen Journalistinnen Mexikos, Anabel Hernández, ist überzeugt, dass die Fäden bis ganz in die Staatsspitze reichen. Zwei Monate nach dem Massaker veröffentlichte sie auf Proceso, einer der wenigen wirklich unabhängigen Nachrichtenplattformen des Landes, einen Bericht, der auf Interviews mit Überlebenden basierte und behauptete, in jener Nacht sei auch Bundespolizei und Armee in den Straßen von Iguala gewesen. (Gibler erzählten die Studenten dasselbe: Es sei die örtliche Polizei gewesen, die auf sie geschossen habe, aber sie hätten auch Polizeikräfte des Bundesstaats und Bundespolizei vor Ort gesehen.)

Hernández erklärte weiter, dass sich in Iguala ein C-4 genanntes Kommando- und Kontrollzen­trum befindet, das den militärischen und polizeilichen Geheimdienst koordiniert: Es sei unmöglich, dass die Zentralregierung von den Ereignissen vor Ort nichts gewusst habe.

Hernández hat inzwischen ein Buch veröffentlicht,2 in dem sie noch einen Schritt weitergeht: Der Angriff sei vom Gouverneur des Staates Guerrero, Aguirre Rivero, und dem Präsidenten Peña Nieto persönlich angeordnet worden. „Für die Regierung von Guerrero ... und für die Bundesregierung“ seien die Studenten „von einem ständigen Ärgernis zu Staatsfeinden geworden – zu einem Gegner, dessen sie sich ungestraft entledigen zu können glaubten“. Während der fünf Tage vor dem Angriff, so behauptet sie, hätten Aguirre Rivero und Peña Nieto „sich eng miteinander abgestimmt und alles vorbereitet, um auf Busentführungen durch die Studenten sofort zu reagieren und ihnen ein Ende zu machen“.

Im Januar 2015 wartete der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam mit einer neuen Behauptung auf: Die 43 Studenten seien vorübergehend von der städtischen Polizei von Iguala festgenommen und danach an die Guerreros Unidos übergeben worden, die deren Leichen auf einer Müllhalde in der Nähe der Stadt Cocula verbrannt hätten. Murillo Karam bezeichnete diese Version als „historische Wahrheit“ – ein Ausdruck, der seither in Mexiko ähnlich berüchtigt ist wie die „alternativen Fakten“ von Trump-Beraterin Kellyanne Conway in den USA.

Der Regierung zufolge beruhte diese Wahrheit auf Geständnissen von Polizisten und Bandenmitgliedern. Die Mörder hätten die verbrannten Überreste der Toten an mehreren Stellen entsorgt, unter anderem in einem nahe gelegenen Fluss. Zum Beleg wurden 19 verkohlte Knochenstücke beigebracht, die zur Analyse an ein österreichisches Labor gesandt wurden. Das allerdings stellte nur eine einzige DNA-Übereinstimmung fest: Es waren die Überreste des 19-jährigen Alexander Mora Venancio.

Die Familienangehörigen ermittelten auf eigene Faust

Und es gab ein Problem. Die Familien der Verschwundenen hatten inzwischen das argentinische Team für forensische Anthropologie zu Hilfe geholt, das international für seine Untersuchungen von Kriegsverbrechen großes Ansehen genießt. Das Team fand heraus, dass Mora Venancios Knochenfragment sich von den anderen verkohlten Überresten unterschied. Es war größer und nicht so stark verbrannt. Zudem wies der Nachweis über Herkunft und Verwahrung der Beweismittel erhebliche Lücken auf – was den Verdacht nahelegte, dass die Regierung die Beweisstücke absichtlich am Fluss platziert hatte.

Die Wut über diese Enthüllungen entlud sich in massiven Protesten, und eine Weile sah es so aus, als müsste die Regierung zurücktreten. Schließlich willigte Peña Nieto ein, dass eine interdisziplinäre Gruppe von fünf unabhängigen Experten aus unterschiedlichen Ländern im Auftrag der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte den Fall untersuchte. Deren erster Bericht schlug am 6. September 2015 ein wie eine Bombe.

Er bestätigte, was die Überlebenden schon immer behauptet hatten: dass in der fraglichen Nacht – im Gegensatz zur von der Regierung verbreiteten Version der Ereignisse – sehr wohl Bundespolizei und Soldaten vor Ort gewesen waren. Das Massaker hatte die örtliche Polizei verübt, aber auch die Bundespolizei war aggressiv aufgetreten und den Verwundeten nicht zu Hilfe gekommen; und von dem Augenblick an, als der erste Bus am Nachmittag Ayotzinapa verließ, hatte die Armee die Bewegungen der Studenten vom Kommando- und Kontrollzentrum in Iguala aus überwacht.

Die Expertengruppe stellte außerdem fest, dass es für Verbindungen der Studenten zu Drogenbanden keinerlei Beleg gab. Die Geständnisse, die der „historischen Wahrheit“ zugrunde lagen, waren durch ausführlich dokumentierte Folterungen von 80 Prozent der festgehaltenen Verdächtigen erpresst worden. Der Experte für Brandforensik stellte fest, dass es „wissenschaftlich unmöglich“ sei, 43 menschliche Leichen auf der Müllhalde von Cocula so einzuäschern wie von der Generalstaatsanwaltschaft behauptet. Der verkohlte Knochen im Fluss beweise nichts anderes als den Versuch einer Vertuschung. Die „historische Wahrheit“ war eine Lüge.

Der Bericht gab keine Antwort auf die Frage, wer genau für das Verschwinden der Studenten verantwortlich war oder wohin sie gebracht wurden. Aber er empfahl, die Ermittlungen auf die Bundespolizei und die Armee auszudehnen. Auf die Foltervorwürfe hin ermittelte die Regierung nun selbst gegen ihre Ermittler und schuf so eines der üblichen mexikanischen Spiegelkabinette. Den Abschluss einer zweiten Untersuchung der unabhängigen Expertengruppe verhinderte sie, indem sie der Gruppe Befragungen bei Militär und Bundespolizei untersagte und sie nach Kräften einschüchterte und behinderte.

Die Gruppe verließ Mexiko Anfang 2016. Aber am 16. April desselben Jahres veröffentlichte sie einen weiteren Bericht mit Beweisen für die „Theorie des fünften Busses“. Die Studenten hatten ausgesagt, sie seien in zwei Bussen nach Iguala gefahren und hätten dort drei weitere Busse kapern können. Sie wurden angegriffen, als sie fünf Busse unter ihrer Kontrolle hatten, hinzu kam der Bus voller Fußballspieler, macht sechs Busse. Aber einer der neu entführten Busse taucht in der ursprünglichen Untersuchung nicht auf. Er wurde von der Bundespolizei angehalten, als er Iguala verlassen wollte, und beschlagnahmt.

Die Bundespolizei ließ die Studenten, die ihn entführt hatten, entkommen – im Gegensatz zur örtlichen Polizei schossen die Bundesbeamten nicht. Der Bericht vermerkt, dass bei der US-Staatsanwaltschaft in Illinois 2014 eine Strafanzeige einging, in der behauptet wird, Mitglieder der Guerreros Unidos schmuggelten Heroin und Kokain in kommerziellen Linienbussen – wie dem von den Studenten entführten. War der Angriff also der verzweifelte Versuch einer Drogenbande, mit Hilfe bestochener Behörden einen Bus voll kostbarer Fracht zurückzubekommen?

Anabel Hernández erfuhr von einem „hochrangigen Narco mit vielen Geschäften in Guerrero“, die Studenten hätten unwissentlich zwei Busse entführt, in denen Heroin im Wert von 2 Millionen US-Dollar versteckt gewesen sei. Diese Quelle sagte weiter, er habe die Armee um Hilfe gebeten, um das Heroin zurückzubekommen. Wenn die örtliche Polizei mit den Narcos unter einer Decke steckte, würde dies erklären, dass sofort geschossen wurde, um an den Bus zu kommen. Aber womöglich reichten die Verbindungen zwischen Drogenhändlern und Staat noch weiter nach oben, bis ins Büro des Gouverneurs und weiter. Die Tatsache, dass Hernández nicht genügend Beweise beibringen kann, um ihre These zu den Urhebern des Angriffs zu untermauern, muss nicht heißen, dass sie falsch ist.

Das Londoner Forschungsinstitut Forensic Architecture befasste sich ebenfalls in Zusammenarbeit mit mexikanischen Menschenrechtsgruppen und den argentinischen Forensikern mit dem Fall. Das Institut überführte Überwachungsvideos, Zeugenaussagen, Telefonverbindungen, Fotos und Medienberichte in eine Datenbank, die das Massaker in seinem zeitlichen Ablauf in den Straßen von Igua­la abbildet. Die Daten wurden in eine interaktive Karte übertragen, die eine dreidimensionale Rekonstruktion des Angriffs ermöglicht und zeigt, inwiefern die mexikanische Regierung zur Vertuschung bewusst Beweise vernichtet und platziert hat. Die verschwundenen Studenten erscheinen in der Animation als gesichtslose kleine rote Puppen, die bäuchlings auf Polizeilastwagen liegen.

Die Gräuel von Ayotzinapa und die verschwundenen 43 Studenten stehen für all jene, die im Laufe des Drogenkriegs verschwunden sind, und waren ein Grund für den Sieg von Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo, bei der Präsidentschaftswahl 2018. Seit der demokratischen Öffnung im Jahr 2000 ist Amlo das dritte Staatsoberhaupt, das nicht der PRI angehört. (Seine Partei Movimento Regeneracion National ist unter dem Akronym Moreno bekannt, was zugleich der Beiname einer bedeutenden religiösen Ikone Mexikos, der Jungfrau von Guadelupe, ist.)

Seine erste Amtshandlung als Präsident war die Einrichtung einer Wahrheitskommission zur Untersuchung des Falls Ayotzinapa. Zwei Tage nach seiner Vereidigung lud er die Eltern der Studenten in den Nationalpalast ein und versprach ihnen, dass es „auf dem Weg zur Wahrheit keine Schranken und keine Behinderungen“ geben werde. Er kündigte zudem an, die Geheimarchive der Staatssicherheit zu öffnen und Forschern zu ermöglichen, die Überwachung und Beseitigung von Oppositionellen durch die PRI aufzuarbeiten – einschließlich der Führer der Studentenbewegung von 1968.

Der Verlauf der neuen Ayotzinapa-Untersuchung sehen viele Mexikaner als Nagelprobe: Wenn Amlo den Fall aufklärt, ist er einer von uns. Wenn nicht, ist er einfach nur ein weiterer Politiker. Aber was immer er tut, manche Mexikaner werden ihrer Regierung nie wieder vertrauen.

1 John Gibler, „I Couldn’t Even Imagine That They Would Kill Us: An Oral History of the Attacks Against the Students of Ayotzinapa“, 
San Francisco, CACity Lights, 2017.

2 Anabel Hernández, „La verdadera noche de Iguala“, Grijalbo (Mexiko-Stadt) 2016. Englisch: „A Massacre in Mexico: The True Story behind the Missing 43 Students“, Verso (London/New York) 2018.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Rachel Nolan ist Publizistin und Dozentin für lateinamerikanische Geschichte an der Columbia University, New York.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.05.2019, von Rachel Nolan