Aufstand der Frauen
In Chile lebt die feministische Bewegung wieder auf. Ihr Protest richtet sich auch gegen die neoliberale Politik der Regierung
von Franck Gaudichaud
Es ist keine Welle, sondern ein farbiger Tsunami, der am 8. März 2019 durch die Straßen von Santiago de Chile rollt – unter strahlender Sonne und den scheelen Blicken zahlreicher Carabineros. Zur Feier des ersten feministischen Streiks in der Geschichte Chiles strömen 350 000 zumeist junge Frauen singend und tanzend durch das Zentrum der Hauptstadt. Manche haben ihre Körper bemalt, andere demonstrieren mit der ganzen Familie. Straßenhunde begleiten den fröhlichen Protestmarsch an diesem internationalen Frauentag.
Die Großmütter, Zeitzeuginnen der Pinochet-Diktatur (1973–1989), sind dabei – und die Menschenrechtlerinnen, die oft Fotos von Verschwunden tragen. Auch Alicia Lira, Vorsitzende des Vereins der Angehörigen politischer Hinrichtungsopfer (Afep), trägt ein Bild. „Die Diktatur hat sie aus denselben Gründen ermordet, weswegen wir heute hier marschieren: Sie wollten eine Gesellschaft freier und gleicher Menschen aufbauen.“
Die Slogans – gegen Gewalt gegen Frauen, die Diskriminierung von Homosexuellen und Transgender, gegen die miserable Lage von Migrantinnen oder den Gender Pay Gap – sind so bunt durcheinandergewürfelt wie die Teilnehmer der Demo.
Neben NGO-, Vereins- und Gewerkschaftsmitgliedern marschieren Mapuche-Frauen in traditionellen Trachten, um gegen die Unterdrückung ihres Volkes zu protestieren, während eine Studentin ein Plakat schwenkt: „Freiheit für meine Eierstöcke! Sichere und kostenlose Abtreibung!“
Frauen aus ärmeren Stadtvierteln, die sich im Netzwerk Ukamau zusammengeschlossen haben, demonstrieren für das Recht auf Wohnung. Ein Stück weiter stimmt die Organisation „Brot und Rosen“, die der kleinen Partei der Revolutionären Arbeiter nahesteht, unter einem Meer von Fahnen Kampflieder an. Ein paar linke Abgeordnete sind auch gekommen. Ein reiner Frauenblock führt den Zug an, mit einem riesigen Transparent: „Arbeiterfrauen auf der Straße, gegen die Prekarisierung der Lebensverhältnisse“.
„Das ist typisch für linke und marxistische Gruppen“, mokiert sich die Journalistikstudentin Javiera Rodríguez, eine konservative Aktivistin. „Sie wollen die Menschen zusammenbringen, und dann werfen sie alles in einen Topf. Erst hieß es, sie gehen zum Frauentag auf die Straße, und dann wird es eine Demonstration für die ‚unterdrückte Frau‘, die ‚Arbeiterfrau‘ und so weiter. Am Ende marschieren diejenigen, die hier teilnehmen, plötzlich für die Rentenreform und gegen Pensionsfonds, für freie Abtreibung und die Ehe für alle.“
Rodríguez machte 2018 Schlagzeilen, weil sie bei der feministischen Besetzung der Katholischen Universität von Santiago das Transparent mit dem Slogan „Keine Belästigung an der katholischen Universität“ abgerissen hatte. „Das kam ganz aus dem Bauch heraus, ich bin den Besetzerinnen entgegengetreten und habe vor laufenden Kameras gesagt, was ich denke. Ich habe es aus Respekt vor der Ordnung und vor der Institution getan. Manche halten mich jetzt bestimmt für eine Faschistin, aber das ist mir egal.“ Die Universität war einst die Hochburg der „Chicago Boys“, wie Pinochets neoliberale Wirtschaftsberater genannt wurden, die bei Milton Friedman in den USA studiert hatten.
Im Gegensatz zu Rodríguez freuen sich die Organisatorinnen über den „historischen“ Erfolg des 8. März, den sie so nicht erwartet hätten: Es war eine der größten Demos seit dem Übergang zur Demokratie 1990. Landesweit gingen 800 000 Menschen in über 60 Städten auf die Straße, selbst in kleinen Provinzstädten, wo man so etwas seit 30 Jahren nicht erlebt hat.
Dabei ist Chile immer noch ein extrem konservatives Land; das Bürgerliche Gesetzbuch stammt aus dem Jahr 1855, Scheidungen sind erst seit 2004 möglich (Chile war damit eines der letzten Länder der Welt) und nach Jahrzehnten des Widerstands der großen Parteien und der katholischen Kirche sind Abtreibungen – mit großen Einschränkungen1 – erst seit 2015 erlaubt.
Ein paar Tage vor dem Streik zeigte sich die Staatsspitze besorgt. Der 2018 erneut zum Präsidenten gewählte Unternehmer Sebastián Piñera, der bereits von 2010 bis 2014 das Land regiert hatte2 , versuchte in einem der vielen ihm treu ergebenen Privatsender die Gemüter zu besänftigen: „Es ist ein Fehler, die edle Sache der Gleichheit von Männern und Frauen mit all den dazugehörigen Rechten und Pflichten zu instrumentalisieren. Ich glaube, ein Streik ist nicht nötig, denn unsere Regierung hat die Sache der Frauen zu der ihren gemacht.“
Die Nervosität der Regierung geht zweifellos auf die beeindruckenden studentischen Proteste von 2018 gegen sexuelle Belästigung und für eine nichtsexistische Erziehung zurück. Dieser „feministische Mai“ mündete in die Besetzung zahlreicher Universitäten, die sich gezwungen sahen zu reagieren und den jahrzehntelang angestauten Unmut der Studierenden widerwillig anerkannten. Renommierte Professoren wurden angeklagt, andere suspendiert, wie der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts.
Dabei war dieses erste feministische Erdbeben eigentlich nur eine Neuauflage der großen studentischen Proteste von 2011, in der ersten Amtszeit Piñeras.3 Die jungen Leute forderten damals unter anderem, ebenso wie die Streikenden am 8. März, Chile müsse endlich mit dem Erbe der Diktatur aufräumen. Den aufeinanderfolgenden Regierungen der Concertación, einer Koalition aus Mitte-links-Parteien und Christdemokraten, war es in 20 Jahren nicht gelungen, einen solchen Bruch zu vollziehen.
Die Forderungen der heutigen Feministinnen reichen weit in die Vergangenheit zurück. „Die feministische Bewegung ist niemals verschwunden, obwohl sie mal mehr, mal weniger sichtbar war“, erläutert die Historikerin Luna Follegati. „Man kann da drei große Epochen unterscheiden: Von Anfang des letzten Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre ging es um politische und bürgerliche Rechte, vor allem das Wahlrecht, das 1949 durchgesetzt wurde. Dann kamen die 1980er Jahre, mit dem intensiven Widerstand der Frauen aus den unteren Schichten gegen die Diktatur. Und schließlich die Kämpfe der letzten Jahre, die vor allem um sexuelle Vielfalt und Queertheorien kreisen.“
Bereits die mächtige Bewegung für die Emanzipation der chilenischen Frauen (Memch), die von 1935 bis 1953 aktiv war, hatte die Legalisierung von Empfängnisverhütung und Abtreibung, das Recht auf Scheidung sowie Lohngleichheit gefordert. Schon damals wurde mit Streik gedroht. Die Initiatorinnen, Elena Caffarena und Olga Poblete, waren auch 1983 an der Neugründung der Bewegung im Kampf gegen die Militärjunta beteiligt. An ihrer Seite standen die Vordenkerin der Genderforschung in Chile, Julieta Kirkwood (1936–1985), und die feministische Theoretikerin Margarita Pisano (1932–2015). Von ihnen stammt der damalige Spruch „Demokratie im Land, im Haus und im Bett“.
Beim Übergang zur Demokratie 1989/90 blieb die unter General Pinochet verabschiedete Verfassung erhalten, ebenso das neoliberale Wirtschaftsmodell der Diktatur. Die – zumal im Unternehmertum – viel gelobte „Konsensdemokratie“ des „Jaguarstaats Chile“ bildete sich auf Kosten kritischer sozialer Akteure heraus. Die feministische Bewegung ist dafür ein schlagendes Beispiel. Sie verlor immer mehr an Profil und unterstützte die offizielle Gleichstellungspolitik: Reformen, die mit der Ideologie des freien Markts kompatibel waren, zu der sich jetzt auch viele ehemalige Linke bekannten.
Die Sozialistin Michelle Bachelet, selbst Opfer der Diktatur, Atheistin und geschieden, wurde in den 2000er Jahren Ministerin und schließlich die erste Präsidentin in der Geschichte der Republik Chile. Sie amtierte von 2006 bis 2014 und pflegte das Image der „Mutter aller Chilenen“.
„In ihrer ersten Amtszeit ist fast nichts passiert“, schimpft Gael Yeomans im Wahlkreisbüro der Frente Amplio (Breite Front) von San Miguel, einem der ärmeren Viertel Santiagos. Frente Amplio ist eine Anfang 2017 entstandene linke Koalition verschiedener politischer Gruppierungen von der Mitte bis zur radikalen Linken. „In ihrer zweiten Amtszeit wurde endlich ein Ministerium für Frauen und Gleichstellung geschaffen. Aber es verfügte weder über die nötigen Gelder noch über entsprechende politische Aufmerksamkeit, um wirklich handlungsfähig zu sein und in allen gesellschaftlichen Bereichen zu wirken. Selbst der Entwurf eines Gesetzes gegen Gewalt gegen Frauen blieb liegen, sodass sich später die Rechte damit profilieren konnte.“
In der „Agenda der Frau“, einem Paket von Gesetzesvorhaben, das Piñera im Mai 2018 vorstellte, mischen sich konservative Weltbilder – Frauen werden auf ihre Mutterrolle reduziert – mit wirtschaftsliberalen Maßnahmen und unrealistischen Versprechen: In den Aufsichtsräten der Unternehmen soll künftig Parität herrschen, und Festangestellte sollen sich zukünftig auf das „Grundrecht“ auf einen Krippenplatz berufen können; dabei sind in Chile die meisten Frauen prekär beschäftigt – 31 Prozent arbeiten ohne Vertrag, ohne Sozial- oder Krankenversicherung, von der Möglichkeit gewerkschaftlicher Organisation ganz zu schweigen4 –, und weniger als die Hälfte gehen überhaupt einer bezahlten Arbeit nach.
Der Präsident hat zwar wiederholt erklärt, er wolle sich für die „Rechte der Frau“ (schon der Singular ist ein wenig verdächtig) einsetzen, aber er wirkt nicht sehr überzeugend: Piñera steht unter dem Druck seiner Koalition, in der radikale Katholiken, darunter Anhänger von Opus Dei, neben Abtreibungsgegnern und ehemaligen Unterstützern von General Pinochet sitzen, auch wenn sie inzwischen im Parlament in der Minderheit sind.
In dieser Regierungszeit gelang den rechten Abgeordneten zum Beispiel der Taschenspielertrick, die Verweigerung einer Abtreibung aus Gewissensgründen durch das Verfassungsgericht absegnen zu lassen: In einem Land, in dem die Gesundheitsversorgung weitgehend privatisiert ist und oft in den Händen religiöser Träger liegt, kann sich eine Klinik damit dem geltenden Gesetz entziehen.
Die chilenischen Feministinnen sehen sich als Teil einer internationalen Bewegung von unten, vom Frauenstreik in Polen im Oktober 2016 bis zu den Massendemonstrationen in Madrid im Frühjahr 2018 gegen den Freispruch einer Gruppe von Vergewaltigern. Sie beziehen sich auf die Texte von Silvia Federici, Cinzia Arruzza, Nancy Fraser oder Tithi Bhattacharya. Symbole sind das grüne Halstuch als Zeichen des Kampfs für das Recht auf Abtreibung, das wie der Slogan der Graswurzelbewegung „Nicht eine weniger!“ („¡Ni una menos!“) gegen Frauenmorde aus Argentinien stammt.
Schließlich sind der Widerstand gegen den Femizid in Mexiko, vor allem in Ciudad Juárez, sowie in El Salvador oder Guatemala allen gegenwärtig. Anfang 2018 bildete sich in Santiago de Chile die Koordinationsgruppe für den 8. März, die auch mit anderen Organisationen der Region in Verbindung trat. Die lokalen Frauenversammlungen stellten ihre jeweiligen Programme auf. Ein Jahr später hat die Gruppe immer noch keine Räume, ihre Finanzierung aus eigenen Mitteln reicht nur von einem Tag zum andern, aber sie kann auf die Unterstützung von über 60 Initiativen zählen.
Die Gewerkschaften halten sich zurück
Im Verlauf der Zeit entstanden Arbeitsgruppen (zu sozialen Netzwerken, Kommunikation, Logistik und so weiter), im Rotationsprinzip wurden Sprecherinnen bestimmt, um den verschiedenen Generationen, Schichten, sexuellen Orientierungen und Standpunkten Rechnung zu tragen. „Wir wollten mit der patriarchalen, männlichen Organisationsform der Politik auch in der Linken brechen“, erklärt uns eine junge Aktivistin. Mit den Streikkomitees in den Stadtvierteln, Aufrufen und Diskussionen in den sozialen Medien und Straßenaktionen der „feministischen Brigaden“ bildete sich allmählich die Bewegung, die den 8. März tragen sollte.
Die Idee eines feministischen Streiks entstand, „weil das Recht auf Streik für niemanden gesichert ist“, sagt Alondra Carillo, eine treibende Kraft der Gruppe. Mit dem Arbeitsrecht, das die Militärjunta 1979 etabliert hatte, wurden das Streikrecht ebenso wie die Vereinigungsfreiheit auf ein Minimum reduziert. Auf Grundlage dieser völlig veralteten, restriktiven Gesetzgebung wird immer noch ein Großteil aller Streiks für illegal erklärt; die Beschäftigten im öffentlichen Dienst kennen dieses Grundrecht nicht einmal.
„Doch zur Idee des Streiks“, fügt die Sprecherin hinzu, „gehörte auch, dass wir Männer und Frauen dazu aufrufen wollten, auch wenn die Frauen hier die Hauptrolle spielen. Die Männer sollten uns unterstützen, indem sie sich beispielsweise um die Organisation von Verpflegung und Kinderbetreuung kümmern.“
Erst waren es dutzende, dann hunderte Frauen, die sich trotz aller Unterschiede mit Leib und Seele für die Sache einsetzten. Manche wollten nur mit Frauen zusammenarbeiten, andere waren dagegen. Einige wollten Kontakte zu Parteien, staatlichen Stellen und Medien pflegen, andere fanden das zu riskant.
Ein Höhepunkt dieser vielfältigen Arbeit im Kleinen war das Plurinationale Treffen kämpfender Frauen im Dezember 2018. Hier trafen sich 1200 Frauen aus dem ganzen Land und verabschiedeten einen Streikaufruf für den 8. März sowie einen Katalog mit zehn Forderungen. Alondra Carrillo zufolge zielt er darauf ab, alle sozialen Bewegungen und die von ihnen verhandelten Themen feministisch zu durchdringen. Es umfasst Forderungen von Migrantinnen; den Anspruch auf eine „nicht dem Markt unterworfene Bildung“, die „nicht sexistisch, antikolonial und laizistisch“ sein soll; die Anerkennung der Selbstbestimmung indigener Völker; die Möglichkeit einer „freien, legalen, sicheren und kostenlosen“ Abtreibung; und das „Ende der politischen, sexuellen und wirtschaftlichen Gewalt gegen Frauen“.
Nach offiziellen Zahlen ist fast ein Drittel der Chileninnen mindestens einmal im Leben sexueller Gewalt ausgesetzt. Das Chilenische Netzwerk gegen Gewalt gegen Frauen prangert bereits seit Jahren an, dass im Schnitt jede Woche eine Frau an den Schlägen eines Mannes stirbt, ohne dass dies im Gesetz systematisch als Femizid anerkannt würde.5 Carrillo und ihre Mitstreiterinnen vergleichen diese Gewalt mit den Auswüchsen des neoliberalen Kapitalismus. Sie wollen keinen elitären, liberalen Feminismus, sondern nehmen alle Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Rasse und Klasse in den Blick; damit stellen sie sich der Regierung und der herrschenden Politik entgegen.
Tatsächlich gehören die Frauen zu den Hauptverlierern des südamerikanischen Ultraliberalismus. In Chile liegt die gesetzliche Arbeitszeit bei 45 Stunden pro Woche, 70 Prozent der Arbeitnehmer verdienen weniger als 730 Euro im Monat – und das Gehalt der Frauen ist noch um 30 Prozent geringer als das der Männer.6 In die (private) Krankenversicherung müssen Frauen im gebärfähigen Alter aufgrund des „erhöhten Risikos“ mehr einzahlen. Auch bei der Rentenversicherung werden Freuen diskriminiert.7
Doch die Koordinationsgruppe sieht sich auch mit vielfältiger Kritik von innen wie von außen konfrontiert. „Die heute dominierende feministische Bewegung ist stark mit der Studierendenbewegung und dem Kampf gegen sexuelle Belästigung in den Universitäten verbunden“, meint die junge Mapuche-Dichterin Daniela Catrileo, die sich im antikolonialen Kollektiv Rangiñtulewfü engagiert. „Die rassistisch diskriminierten Frauen, die Forderungen der Mapuche, der innere Kolonialismus wurden nicht richtig sichtbar und ausreichend berücksichtigt. Wir haben auch den Aufruf zu einem feministischen ‚Streik‘ kritisiert, in dem Sinne, dass diese aus dem Norden und aus den europäischen Bewegungen stammende Losung viele Frauen in prekären Verhältnissen oder Migrantinnen ausschließen kann.“
Darauf antwortet Carrillo: „Wir haben vier Formen des Streiks zur Auswahl gestellt: bei der Arbeit, wenn es der Angestelltenstatus erlaubt, bei der Sorgearbeit und der nicht bezahlten Hausarbeit, beim Konsum und schließlich mit Demonstrationen im öffentlichen Raum.“ Vor allem Letztere standen im Zentrum dieses 8. März.
Da der wichtigste Gewerkschaftsverband, die Central Unitaria de Trabajadores de Chile (CUT), den feministischen Aufruf nicht unterstützte, war es nicht leicht, Gewerkschaftsmitglieder zu mobilisieren. Dabei steht mit der Kommunistin Bárbara Figueroa sogar eine Frau an der Spitze der CUT. Doch die Leitung hat immer noch Probleme, ein Projekt zu unterstützen, das sie selbst nicht in der Hand hat. Trotzdem waren in vielen Städten, wie etwa in der Hafenstadt Valparaiso, viele Gewerkschafter dabei; auch im öffentlichen Dienst engagierten sich Gewerkschaften, wie die der Lehrer oder des Gesundheitspersonals in den Gemeinden.
Die Arbeitsrechtlerin und Feministin Karina Nohales freut sich über die riesigen Fortschritte, die in nur wenigen Monaten erzielt worden seien; nur die Frauen, die in den vielen Armenvierteln, den sogenannten poblaciónes von Santiago wohnen, Migrantinnen oder ungelernte Arbeiterinnen habe man nicht erreichen können. Die Bewegung wird das Image eines weißen Mittelschichtsvereins nicht los.
„Trotzdem sind wir bei der Verbreitung des feministischen Kampfs in den poblaciónes schon ein gutes Stück vorangekommen“, glaubt Nohales, „ebenso in einigen Gewerkschaften, vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Verwaltung, in denen viele Frauen arbeiten. Das Ziel der Koordinationsgruppe besteht ja auch darin, eine Herangehensweise zu finden, die alle Frauen anspricht, und die Erwartungen der Frauen aus den unteren Schichten und der Migrantinnen ebenso zu erfüllen wie die von jungen Mittelschichtfrauen, die im neoliberalen Chile zwar einen Universitätsabschluss haben, aber deshalb auch bis über beide Ohren verschuldet sind.“
Trotz Kritik betrachten die meisten diesen ersten Frauenstreik als einen großen Schritt nach vorn, und die Koordinationsgruppe will in der eingeschlagenen Richtung weitermachen: das Gründungsprogramm erneut zur Diskussion stellen und vervollständigen, die landesweite Vernetzung von den Weiten des Nordens bis nach Patagonien festigen, ebenso wie die Beziehungen ins Ausland. Carrillo zufolge „geht es darum zu beweisen, dass der Feminismus eine echte Lösung ist, vor allem in einer Zeit, in der die extreme Rechte und reaktionäre Strömungen in der gesamten Region wieder Zulauf haben“.
In Chile zeigen die Umfragen, dass die katholische Kirche weiterhin an Boden verliert, und die fortlaufenden Enthüllungen des von der Kirchenleitung gedeckten Kindesmissbrauchs bringen sie noch weiter in Verruf. Dafür haben vor allem in den Armenvierteln verschiedene evangelikale Sekten Erfolg, wobei nicht alle fundamentalistisch sind – zwei Pastorinnen haben auch an den feministischen Treffen teilgenommen.
Gleichzeitig greifen faschistoide Gruppierungen regelmäßig Feministinnen, Lesben oder Transgender an, und prominente Rechtsextreme und Kritiker der „Genderideologie“, wie der Abgeordnete José Antonio Kast von der Republikanischen Aktion, verbreiten in den Medien ihr rückwärtsgewandtes Weltbild. Als erklärter Gegner von Abtreibung und „Pappmaché-Feministinnen“ preist Kast die Tugenden der „echten chilenischen Frau“, die selbstverständlich katholisch und nationalistisch ist – und Hausfrau.
2 Siehe Miguel Serna, „Bosse in den Parlamenten“, LMd, Mai 2018.
4 Nationales Statistikinstitut Chile, Santiago, Oktober–Dezember 2017.
5 www.nomasviolenciacontramujeres.cl.
6 „Los verdaderos sueldos de Chile“, Fundación SOL, Santiago, 2018, www.fundacionsol.cl.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Franck Gaudichaud ist Dozent für lateinamerikanische Geschichte an der Universität Grenoble-Alpes.