14.09.2012

Von der Maschine geschrieben

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Von der Maschine geschrieben

von Evgeny Morozov

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Können sich Technologien verselbstständigen und anfangen, ein Eigenleben zu führen, unabhängig von jeglicher menschlichen Kontrolle? Diese erschreckende Vorstellung, die den französischen Theologen Jacques Ellul ebenso umtrieb wie den Unabomber Theodore Kaczynski, gilt unter den meisten Technikhistorikern und -soziologen als naiv und unpräzise.

Dennoch: Die Finanzwelt hängt in wachsendem Maße von computerisierten Handelssystemen ab, bei denen raffinierte Algorithmen Preisunregelmäßigkeiten aufspüren und ausnutzen, die dem gewöhnlichen Parketthandel verborgen bleiben.

Die Zeitschrift Forbes, eine der ehrwürdigsten Institutionen des Finanzjournalismus, arbeitet inzwischen mit einer Firma namens Narrative Science zusammen, die Artikel über die zu erwartenden Quartalsergebnisse der Konzerne automatisch generiert und online stellt. Man muss ein cleveres Programm nur mit ein paar Statistiken füttern, und schon zaubert es in Sekundenschnelle leicht lesbare Berichte. Oder wie Forbes selbst schreibt: „Mit einer urheberrechtlich geschützten Künstliche-Intelligenz-Plattform ist Narrative Science in der Lage, Daten in Berichte und Erkenntnisse umzuwandeln.“

Die Sache entbehrt nicht der Ironie: Automatisierte Plattformen „verfassen“ jetzt Berichte über Firmen, die ihr Geld durch automatisierten Handel verdienen. Diese Berichte fließen wieder ins Finanzsystem ein und helfen den Algorithmen, noch lukrativere Geschäfte zu aufzuspüren. Es handelt sich also im Wesentlichen um Journalismus von Robotern für Roboter. Die Menschen behalten nur noch das Geld für sich.

Narrative Science ist nur eine von mehreren Firmen, die sich der Entwicklung von automatisierter journalistischer Software verschrieben hat. Solche Start-up-Unternehmen arbeiten vor allem in Nischenbereichen des Journalismus wie Sport, Finanzen oder Immobilien, wo Nachrichten meist demselben Grundmuster folgen und sich gewöhnlich um bestimmte Statistiken drehen. Doch seit Neuestem widmen sie sich auch noch politischer Berichterstattung.

Eine neue Dienstleistung von Narrative Science produziert Artikel über die Rezeption des US-Wahlkampfs in den sozialen Medien: Welche Themen und Kandidaten werden in bestimmten Bundesstaaten oder Regionen heftiger oder weniger häufig diskutiert und ähnliche Dinge. Sogar die beliebtesten und interessantesten Tweets können in den Artikel eingearbeitet werden. Keiner kann Twitter besser durchforsten als ein Roboter, und man sieht sofort, weshalb die – nach Angaben der Firma – dreißig festen Kunden von Narrative Science die Software für nützlich halten. Zunächst einmal ist sie wesentlich billiger als Vollzeitjournalisten, die ständig krank werden und auch noch mit Respekt behandelt werden wollen.

Laut einer Meldung der New York Times vom vergangenen September bezahlt ein Kunde aus der Bauindustrie bei Narrative Science weniger als zehn Dollar für einen Artikel von 500 Wörtern – und es gibt keine Klagen über die schlechten Arbeitsbedingungen. Ein solcher Artikel ist in Sekundenschnelle verfasst, nicht einmal Christopher Hitchens wäre schneller gewesen. Zweitens verspricht Narrative Science eine umfassendere – und objektivere! – Berichterstattung, als ein menschlicher Reporter sie leisten kann. Kaum ein Journalist hätte die Zeit, Millionen von Tweets zu durchkämmen, zu bearbeiten und zu analysieren, aber Narrative Science schafft das locker – und ohne jeden Zeitverzug. Es berichtet nicht nur über irgendwelche abwegigen Statistiken, sondern versucht auch zu verstehen, was die Zahlen bedeuten, und dies den Lesern mitzuteilen.

Hätte Narrative Science den Watergate-Skandal aufdecken können? Wahrscheinlich nicht. Allerdings sind die meisten Nachrichten nicht so komplex und viel leichter zu entwirren und vermitteln. Laut Auskunft seiner Gründer will Narrative Science den menschlichen Journalismus auch nicht abschaffen, sondern unterstützen. Und wahrscheinlich meinen sie das sogar ernst. Die meisten Journalisten dürften sie dafür hassen, aber viele Verleger, die ja am Ende die Rechnungen zahlen müssen, werden sie sicherlich mit offenen Armen empfangen. Doch auf lange Sicht könnten sich die politisch-gesellschaftlichen Folgen des Einsatzes solcher Technologien, die heute noch in den Kinderschuhen stecken, als problematisch erweisen.

Wenn es heute im Internet einen eindeutigen und unverkennbaren Trend gibt, dann den zur Personalisierung unserer Online-Erfahrung. Alles, was wir im Netz anklicken, lesen, suchen und betrachten, ist in zunehmendem Maße das Ergebnis fragwürdiger Optimierungsprozesse, die dafür sorgen, dass unsere früheren Klicks, Suchen, Vorlieben, Einkäufe und Interaktionen darüber bestimmen, was in unserem Browsern und Apps erscheint.

Bis vor Kurzem befürchteten Netzkritiker vor allem, diese Personalisierung im Internet könnte dazu führen, dass wir nur noch Artikel zu sehen bekommen, die unseren bisherigen Interessen entsprechen, und wir würden nie mehr über unseren Tellerrand hinausblicken. Die sozialen Medien mit ihren Myriaden von Links und Minidebatten haben diese Bedenken weitgehend zerstreut. Doch der Aufstieg des „automatisierten Journalismus“ könnte eine neue Variante der Personalisierung mit sich bringen: Was, wenn wir zwar alle denselben Link anklicken, der uns – theoretisch – zum selben Artikel bringt, am Ende aber alle ganz verschiedene Texte lesen?

Wie das gehen soll? Stellen Sie sich vor, meine Online-Geschichte mache deutlich, dass ich einen Universitätsabschluss besitze und bevorzugt Webseiten des Economist und der New York Review of Books lese, und dies habe zur Folge, dass mir eine differenziertere, anspruchsvollere und informativere Version derselben Geschichte präsentiert wird als meinem Nachbarn, der eher schlichte Sachen liest wie USA Today. Wenn man aus meiner Netzgeschichte weiter schließen kann, dass ich mich für Internationales und für globale Gerechtigkeit interessiere, wird der computergenerierte Artikel über Angelina Jolie vielleicht mit einem Bericht zu ihrem Film über den Bosnienkrieg enden. Bei meinem Nachbarn, der sich leidenschaftlich für Klatsch und Tratsch über Promis interessiert, endet derselbe Artikel mit irgendeiner belanglosen, aber pikanten Story über Brad Pitt.

Der automatisierte Journalismus ermöglicht die augenblickliche Herstellung von Artikeln, die auf die Interessen und intellektuellen Gewohnheiten eines bestimmten Lesers zugeschnitten sind – und genau das ist Anlass zur Sorge. Werbeagenturen und Verleger schätzen diese Individualisierung, weil sie dazu führt, dass die Nutzer Zeit auf ihren Seiten verbringen. Die gesellschaftlichen Folgen sind jedoch fragwürdig. Es besteht zumindest die Gefahr, dass Internetnutzer in einen Teufelskreis geraten und nur noch informationelles Junkfood zu sich nehmen, ohne einen Hinweis darauf, dass da draußen eine andere, intelligentere Welt existiert. Und die Geselligkeit der sozialen Medien gaukelt ihnen derweil vor, dass ihnen nichts Wichtiges entgeht. Und natürlich könnte automatisierter Journalismus auch ein weiterer Schritt in der Entwicklung von verhassten Content-Fabriken wie Demand Media1 sein.

Überlegen wir einmal, was passiert, wenn, wie es wahrscheinlich ist, die großen Technologiekonzerne in diesen Geschäftsbereich einsteigen und kleine Unternehmen wie Narrative Science vom Markt verdrängen. Solche wie Amazon. Dessen elektronisches Lesegerät Kindle ermöglicht seinen Nutzern, unbekannte Wörter im elektronischen Wörterbuch nachzuschlagen und ihre Lieblingssätze zu unterstreichen. Der Konzern sammelt und speichert diese Daten auf seinen Servern. Falls er ein personalisiertes und voll automatisiertes Nachrichtenportal gründen sollte, wären dies unschätzbare Informationen: Amazon weiß, welche Zeitungen ich lese, welche Artikel meine Aufmerksamkeit erregen, welche Sätze ich schätze und welche Wörter mich stolpern lassen. Ganz zu schweigen davon, dass ich bereits das Gerät besitze, auf dem ich solche ausgewählten Nachrichtenstücke lesen kann – ganz umsonst!

Oder nehmen wir Google. Nicht nur kennt der Konzern meine Informationsgewohnheiten besser als jeder andere – der kürzlich vereinheitlichte Umgang mit Kundendaten hat weiter dazu beigetragen –, er betreibt auch schon Google News, eine Sammlung hochkarätiger Nachrichten, die hervorragende analytische Erkenntnisse über die Gegenwart liefert. Dank des beliebten Dienstes Google Translate weiß man dort auch, wie man Sätze zusammenbastelt.

Angesichts solcher Entwicklungen erscheint die Vorstellung, eine zunehmende Automatisierung könnte den Journalismus retten, eher kurzsichtig. Aber die Schuld liegt nicht bei innovativen Unternehmen wie Narrative Science; im kleinen Rahmen können ihre Technologien tatsächlich Kosten einsparen und Journalisten für interessantere analytische Projekte freisetzen, statt sie allwöchentlich dieselben Berichte schreiben zu lassen – vorausgesetzt, sie werden nicht gekündigt!

Die wirkliche Gefahr liegt darin, dass wir nicht nachforschen und nicht wissen wollen, welche sozialen und politischen Konsequenzen eine Welt, in der anonymes Lesen zu einem Ding der Unmöglichkeit wird, mit sich bringt. Werbeunternehmen und Konzerne wie Google, Facebook und Amazon können es kaum erwarten, dass sie Wirklichkeit wird. Es wird auch eine Welt sein, in der kritisches, umfassend gebildetes und unkonventionelles Denken immer schwerer zu kultivieren und zu bewahren sein dürfte.

Fußnote: 1 Demand Media schustert vor allem Infotexte und -videos für Suchmaschinen zusammen. Aus dem Englischen von Robin Cackett Evgeny Morozov ist Journalist, Blogger und Medienwissenschaftler sowie Autor von: „The Net Delusion: The Dark Side of Internet Freedom“, New York (Public Affairs) 2012. © AP/dapd

Le Monde diplomatique vom 14.09.2012, von Evgeny Morozov