14.09.2012

Konfuzius für alle

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Konfuzius für alle

Der Vordenker eines zweitausendjährigen Gesellschaftsmodells wird im heutigen China zum Bestsellerautor von Anne Cheng

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China lebt noch immer mit Konfuzius. Wie lässt es sich erklären, dass dieser Philosoph aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert in einer globalen Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts eine derartige Bedeutung besitzt?

Konfuzius ist die latinisierte Version des chinesischen Kongfuzi (Meister Kong). Unter diesem Namen wurde er im 17. Jahrhundert in Europa durch Jesuitenmissionare bekannt. In den Quellen der chinesischen Antike heißt es, dass der Meister sein ganzes Leben der Ausbildung seiner Schüler widmete, die er in der Kunst unterrichtete, ein Land zu beherrschen – und sich selbst.

Nach der Gründung des chinesischen Kaiserreichs (221 v. Chr.) wurde der konfuzianische Kanon zum ideologischen Fundament der neuen imperialen Ordnung. Und bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Gestalt des Konfuzius so eng mit dem Schicksal des Kaiserreichs verbunden, dass sie heute als das chinesische Wahrzeichen schlechthin gilt, sowohl im Westen als auch in China selbst, wo sie überhöht und nicht selten instrumentalisiert wird.

Dabei ist nahezu vergessen, welchen historischen Wechselfällen der Konfuzianismus mit der chinesischen Modernisierung zwischen 1860 und 1970 ausgesetzt war. Ein erster Wendepunkt war der Zweite Opiumkrieg (1856 bis 1860), in dessen Folge sich die chinesische Führungsschicht der Überlegenheit der westlichen Mächte auf bestimmten Gebieten bewusst wurde. 1898 führte dies zu einem ersten Reformversuch nach japanischem Vorbild,1 der abgebrochen wurde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu mehreren dramatischen Einschnitten: 1905 wurde das System der konfuzianischen „Mandarin“-Prüfungen2 für angehende Beamte abgeschafft, das jahrhundertelang die Stütze des kaiserlichen Regimes gewesen war. Wenige Jahre später brach die mandschurische Dynastie der Qing und mit ihr das gesamte Kaiserreich zusammen, und 1912 rief Sun Yat-sen die erste Republik auf chinesischem Boden aus.

Den wahrscheinlich stärksten und nachhaltigsten Einfluss hatte die „Bewegung des 4. Mai“ von 1919. An diesem Tag versammelten sich tausende Demonstranten in Peking, um gegen Japan und den Versailler Vertrag zu protestieren. Die Köpfe der Bewegung verband nicht nur ihre Wut und Enttäuschung über die Benachteiligung Chinas,3 sondern auch die Auffassung, dass die Moderne sich nach westlichen Maßstäben definieren müsse.

So hieß es im Namen von Wissenschaft und Demokratie „Nieder mit Konfuzius“, dessen Gedankengut für die materielle und politisch-moralische Rückständigkeit Chinas verantwortlich gemacht wurde. Bei ihrer Suche nach einer Moderne westlicher Prägung verfolgten die Bilderstürmer des 4. Mai dieselbe Stoßrichtung wie die Marxisten und verbannten den Konfuzianismus ins „Museum der Geschichte“.

Ende der 1920er Jahre war es dann ein Gelehrter aus dem Westen, der den Konfuzianismus auf noch radikalere Weise verwarf: In seiner Analyse der ideologischen Grundlagen, die zur Entstehung des europäischen Kapitalismus geführt hätten, kam der deutsche Soziologe Max Weber zu dem Schluss, dass der Konfuzianismus die kapitalistische Entwicklung in China verhindert habe. Die Befreiung von diesem kulturellen Ballast sei die unabdingbare Voraussetzung, um an die westlich geprägte Moderne anzuschließen.

Auf die Generation des 4. Mai folgten die Kommunisten, die unter der Führung von Mao Tse-tung am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausriefen. Nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs waren Tschiang Kai-schek und 2 Millionen seiner Anhänger nach Taiwan geflohen. Mit wachsender Sorge verfolgten sie von dort die Entwicklungen im maoistischen China, wo insbesondere unter der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ zwischen 1966 und 1976 sämtliche Spuren der alten Gesellschaft vernichtet werden sollten.

Nach mehr als einem Jahrhundert der kontinuierlichen Zerstörung des konfuzianischen Erbes hat sich die Entwicklung in den vergangenen dreißig Jahren umgekehrt. Seit den 1980er Jahren setzte eine spektakuläre Wende ein, deren erste Anzeichen sich an den Rändern der Volksrepublik bemerkbar machten.

Eine antiwestliche kapitalistische Utopie

Der Konfuzianismus, der bis dahin als größtes Hemmnis gegolten hatte, wurde auf einmal zum wichtigsten Antrieb der Modernisierung. Der Grund für diesen Umschwung lag weniger im Konfuzianismus selbst als in der einmaligen historischen und ökonomischen Situation: Die chinesische Führung gab das revolutionäre kommunistische Modell de facto in dem Moment auf, als an der Peripherie die „vier kleinen Tiger“ (Taiwan, Hongkong, Singapur und Südkorea) im Kielwasser Japans einen unerhörten wirtschaftlichen Aufschwung erlebten. Die „Ränder des Imperiums“ mit den sogenannten asiatischen Werten, die sie für sich reklamierten, bekamen auf einmal eine Vorbildfunktion und zogen viel Aufmerksamkeit auf sich, insbesondere im Westen.

Als der Kommunismus in China und Osteuropa in die Krise geriet, glaubte man in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens, in der eigenen Entwicklung erste Anzeichen des Niedergangs zu erkennen. Da kamen die „konfuzianischen Werte“ (Wertschätzung der Familie, Anerkennung von Hierarchien, Bildungsstreben, Fleiß, Sparsamkeit und so weiter), mit denen der Erfolg des Kapitalismus asiatischer Prägung erklärt werden sollte, gerade recht, um die Mängel des westlichen Modernisierungsmodells zu überwinden. So trug die weltpolitische Lage auf ihre Weise zum Wandel bei, dessen Epizentrum zunächst allerdings gar nicht in China selbst lag, sondern in den anglofonen Exilkreisen in Singapur und den USA.

Mitte der 1980er Jahre sprang dieser Funke auf die Volksrepublik über. Bemüht, sich des maoistischen Erbes zu entledigen, war die Regierung nur allzu bereit, sich dem asiatischen Aufstieg anzuschließen, an dessen Spitze schließlich China stehen sollte. Bereits 1978 war der seit Generationen geschmähte und im zerstörerischen Furor der kurz zuvor beendeten Kulturrevolution nahezu vernichtete Konfuzianismus auf einer Konferenz rehabilitiert worden. Seitdem verging kein Jahr ohne mehrere internationale Konfuzius-Konferenzen. 1984 wurde in Peking unter der Schirmherrschaft der Parteielite eine Konfuzius-Stiftung gegründet.

Als Deng Xiaoping 1992 durch die südlichen Provinzen reiste, erwähnte er immer wieder, dass die autoritäre und wirtschaftlich erfolgreiche Republik Singapur4 ein Vorbild sein könnte. Erstmals war auch die Rede davon, dass China eine „sozialistische Marktwirtschaft“ brauche. Ironischerweise sollten genau diejenigen ideologischen Faktoren, die Max Weber einst als Hemmnis für die Herausbildung des Kapitalismus ausgemacht hatte, den ostasiatischen Ländern nun die Probleme ersparen, mit denen der Westen gerade zu kämpfen hatte. Endlich bot sich die Gelegenheit zu der spektakulären Revanche, auf die China – und manche anderen Länder der Region –mehr als ein Jahrhundert gewartet hatten.

Tatsächlich bezog sich die konfuzianische Erneuerung gar nicht auf die Wirtschaftsordnung, sondern diente vor allem dem Machterhalt der autoritären Führungen in Singapur, Peking oder Seoul: Angesichts des rasanten ökonomischen Aufschwungs, mit dem die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen nicht Schritt halten konnten, bot sich der Rückgriff auf die „konfuzianischen Werte“ als Garant für Stabilität, Ordnung und Disziplin an. Zugleich konnte man dem Westen vorhalten, dass dessen Niedergang ganz offensichtlich eine Folge von zu viel Individualismus und Hedonismus sei. Die marxistischen und antimarxistischen Ideologen des Neoautoritarismus verfolgten auf einmal dasselbe Ziel: das Streben nach einer industrialisierten „Postmoderne“, die unabhängig vom Westen den von der maoistischen Utopie geprägten nichtwestlichen Sozialismus ersetzen würde.

Die Asienkrise von 1997/98 hat die Begeisterung für den „Confucius oeconomicus“ zwar ein wenig gedämpft, aber die Rückkehr des alten Meisters war nicht mehr aufzuhalten. Im Gegenteil, das Interesse verstärkte sich eher noch, und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten, was sich insbesondere seit Beginn des 21. Jahrhunderts an einer Reihe von Phänomenen festmachen lässt.

Für die derzeitige chinesische Regierung hat der Erhalt der gesellschaftlichen Stabilität oberste Priorität. Nur so, heißt es, könne der Aufschwung langfristig gesichert werden. Dafür steht die von Präsident Hu Jintao 2005 ausgerufene Parole von der „harmonischen Gesellschaft“ als Nachfolgerin von Deng Xiaopings „Gesellschaft mit bescheidenem Wohlstand“ und Jiang Zemins „Regierung durch Tugend“. Auch wenn dies niemals explizit gesagt wurde, berufen sich alle drei Konzepte, die sich als Alternative zum westlichen Demokratiemodell verstehen, auf konfuzianische Werte.

Heute verspricht allein der Name Konfuzius, der mit Harmonie assoziiert wird, nicht nur ökonomischen Gewinn, sondern auch symbolisches Kapital: Neben den bekannten Konfuzius-Kulturinstituten, die über die ganze Welt verteilt sind (siehe Karte S. 12), werden in China gerade lauter Konfuzius-Zentren oder -Stiftungen gegründet.

Folgerichtig dient auch die von Schülern des Konfuzius aufgezeichnete Sammlung seiner Lehren, bekannt als „Gespräche“ (Lun Yü) vielen Zwecken. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2008 in Peking, die der international renommierten Regisseur Zhang Yimou („Rotes Kornfeld“) inszeniert hatte, skandierten zum Beispiel Soldaten der Volksbefreiungsarmee als Schriftzeichen verkleidet konfuzianische Aphorismen wie politische Slogans.

Wie früher in der Kaiserzeit spielen die „Gespräche“ vor allem im Bildungsbereich eine wichtige Rolle. Auch hier beruft man sich auf „spezifisch chinesische“ Erziehungspraktiken und nutzt das konfuzianische Erbe, um schon den Kindern und Jugendlichen bestimmte Werte zu vermitteln. Seit den 1990er Jahren werden Konfuzius-Zusatzkurse innerhalb oder außerhalb der Schule angeboten. Nach „traditionellen“ Lehrmethoden (mechanisches Wiederholen oder Auswendiglernen), die schon im Kindergarten angewandt werden, studieren die Kinder hier die Klassiker ein, beginnend mit den „Gesprächen“. Solche Kurse, Seminare oder Praktika zur „nationalen Bildung“ gibt es auch für Erwachsene. Und die Nachfrage scheint groß zu sein. In den Städten und mancherorts auch auf dem Land gibt es private Initiativen von „Volkskonfuzianisten“, die vor allem übers Internet mit ihren „Schülern“ kommunizieren.

Für die starke Popularisierung der „Gespräche“ stehen auch Bestseller wie „Konfuzius im Herzen: Alte Weisheit für die moderne Welt“ von Yu Dan.5 Die Autorin ist nicht etwa Konfuzius-Expertin oder Kulturhistorikerin, sondern Medienberaterin und Moderatorin, die seit 2006 an sieben Tagen in der Woche im Fernsehen Konfuzius-Vorträge hält – was zu einem reißenden Absatz der „Gespräche“ geführt hat. Mit ihren Sendungen erreicht sie ein Massenpublikum, das dann auch ihre später entstandenen Bücher kaufte. Von „Konfuzius im Herzen“ wurden bereits über 10 Millionen Exemplare verkauft.

Ihre Vorträge sind angenehm kurz und leicht zu verstehen. Doch letztlich liefern sie eine konservative, angepasste Konfuzius-Interpretation. Manche werfen ihr vor, sie nutze das kritische Potenzial nicht, das die „Gespräche“ durchaus auch enthalten, reduziere Konfuzius’ humanistische Botschaft auf eine „Hühnerbrühe für die Seele“ und passe sich damit perfekt den offiziellen Stabilitätsparolen an. Im allgegenwärtigen Konfuzius-Bild verschmelzen auf diese Weise die Interessen der „sozialistischen Marktwirtschaft“ mit dem ideologischen Imperativ der „harmonischen Gesellschaft“.

Fußnoten: 1 Unter dem Tenno Mutsuhito in der Meiji-Ära (1868 bis 1912) entwickelte sich Japan vom rückständigen Feudalstaat zur modernen Großmacht. 2 Diese seit dem 7. Jahrhundert vereinheitlichten Prüfungen musste jeder Anwärter auf ein Amt in der Staatsverwaltung ablegen. 3 Im Versailler Vertrag wurde das deutsche Pachtgebiet Kiautschou in der Provinz Shandong nicht an China zurückgegeben, sondern unter japanisches Protektorat gestellt. 4 Dengs „Vorbild“ Lee Kuan Yew war zwischen 1959 und 2011 hintereinander Premierminister von Singapur, dann „Senoir Minister“ und fungierte schließlich in dem eigens für ihn geschaffenen Posten des „Minister Mentor“ seinem Sohn, dem Premierminister Lee Hsien Loong, als Berater. 5 Yu Dan, „Konfuzius im Herzen: Alte Weisheit für die moderne Welt“, aus dem Chinesischen von Johannes Fiederlin, München (Droemer) 2009. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Anne Cheng lehrt chinesische Geistesgeschichte am Collège de France und ist Mitherausgeberin der Chinesischen Bibliothek beim Verlag Les Belles Lettres. Ihre Vorlesungen (auf Französisch, Englisch und Chinesisch) sind auf der Website www.college-de-france.fr/site/anne-cheng frei zugänglich.

Le Monde diplomatique vom 14.09.2012, von Anne Cheng