Gelähmt und gespalten
Mali zahlt einen hohen Preis für alte Versäumnisse von Jacques Delcroze
Seit dem 27. Juni wird der Norden Malis von radikalislamischen Gruppierungen kontrolliert. Nach der Einnahme der Region Kidal und der Städte Gao und Timbuktu beherrschen sie insgesamt knapp zwei Drittel des Staatsgebiets. Die Salafisten regieren hier mit Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits drangsalieren sie die Bevölkerung im Namen Allahs, andererseits unterstützen sie mittellose Familien (sofern diese noch nicht geflüchtet sind). Und weil sie Geld und Hilfe verteilen, fällt es ihnen nicht schwer, unter den jungen perspektivlosen Arbeitslosen Nachwuchs zu rekrutieren. In Gao geben sie Treibstoff und Nahrungsmittel zum Einkaufspreis aus, beliefern die Krankenhäuser mit Medikamenten und bezahlen ihre Informanten. Ein Abgeordneter aus dem Norden erzählt, dass er Iyad Ag Ghali, den Chef der radikalislamischen Bewegung Ansar Dine, kontaktiert hat und postwendend folgende Antwort bekam: „Ich treffe dich, wenn du von deinem Posten zurückgetreten bist. Nach Gottes Gesetz haben Abgeordnete keine Legitimität.“
In einem Land, dass mehr als dreimal so groß ist wie Deutschland, ist der Norden weit weg. Weit weg vom „nützlichen“ Teil des Landes, in dem 90 Prozent der Bevölkerung leben. In der Hauptstadt Bamako gilt im Fastenmonat nach wie vor die traditionelle Toleranz: Restaurants sind geöffnet, Alkohol wird ausgeschenkt, und manche rauchen auf offener Straße. Zwar folgen die meisten dem Gebot des Fastens, doch wird der Ramadan (der diesmal Mitte August zu Ende ging) nach Mali-Art begangen: mit einer Frömmigkeit ohne öffentlichen Zwang (siehe Kasten).
Die Sorge Nummer eins ist die Arbeit. Wegen der Krise liegt die Wirtschaft darnieder. Zahlreiche Unternehmen, vor allem Dienstleister, haben entweder ganz aufgegeben oder ihre Mitarbeiter auf Kurzarbeit gesetzt. Das Hotel- und Gaststättengewerbe bekam die Krise als Erstes zu spüren, mittlerweile geht es in fast allen Branchen bergab. Große Arbeitgeber wie die Fluggesellschaft Air Mali entlassen Mitarbeiter. Nur der Bergbau scheint unbeschadet davonzukommen, und der Staat zahlt weiter die Löhne.
Neben der schwierigen Wirtschaftslage sorgen sich die Malier vor allem wegen des politischen Zusammenbruchs des Landes, das bis dato als demokratisches Vorbild gepriesen wurde. Überraschend war, wie gut der Militärputsch vom 21. März 2012 bei der Bevölkerung ankam, obwohl das Ausland ihn einhellig verurteilte. Wenige Wochen vor der geplanten Präsidentschaftswahl schien der Zeitpunkt des Putsches denkbar ungünstig. Doch die in Kati stationierten Landstreitkräfte unter Oberst Amadou Sanogo hatten genau das beabsichtigt: Zum einen nutzten sie die Verbitterung über die militärische Niederlage vor der erneuten Tuareg-Rebellion im Norden, zum anderen trafen die Argumente der Putschisten, die gegen die Korruption der Eliten und die „ausgehöhlte Demokratie“ wetterten, in der Bevölkerung durchaus auf offene Ohren. Von den politischen Verantwortlichen schloss sich einer nach dem anderen den Putschisten an – auch jene, die über die Einheitsfront für die Verteidigung der Republik und der Demokratie (FDR, „Verweigerungsfront“) den Putsch zunächst verurteilt hatten.1
„Der Staatsstreich hat uns von einem Trugbild befreit und rückt die eigentliche Herausforderung wieder in den Mittelpunkt, nämlich das Streben nach echter Demokratie für die verschiedenen Ethnien Malis“,2 sagt Oumar Mariko, der 1991 schon dabei war, als die damalige Einparteienherrschaft von General Moussa Traoré gestürzt wurde. Er ist außerdem Mitbegründer der Partei Afrikanische Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit (Sadi). Ähnlich sieht es die politische Essayistin und Restaurantbesitzerin Aminata Dramane Traoré, die von 1997 bis 2000 das Ministerium für Tourismus und Kultur geleitet hat: „Sanogo ist nicht das Problem, Sanogo ist ein Symptom.“3 Diese Sichtweise findet viel Anklang im Ausland, vor allem in Frankreich, wo man der ehemaligen Kolonie auf einmal zwanzig Jahre „Misswirtschaft“ bescheinigt,4 nachdem man zuvor jahrelang das malische „Modell“ beweihräuchert hat.
Die Demokratie erstickte im verordneten Konsens
Dabei hat die Republik, die 1991 aus den ersten freien Wahlen in der Geschichte Malis hervorgegangen ist, viele Errungenschaften vorzuweisen: die Meinungsfreiheit, die eine kritische Berichterstattung möglich macht (auch wenn Journalisten mitunter körperlich angegriffen werden); die gesellschaftliche Öffnung; die Gründung von diversen Vereinen, die sich jetzt auch für den Norden engagieren; oder die dynamische Kulturszene. Vom Fotofestival in Bamako bis zum Literaturfestival „Étonnants Voyageurs“ ist Mali richtungsweisend; manche Sänger sind auf dem besten Weg, die internationale Musikszene zu erobern. Auch in der Wirtschaft hat der „demokratische Vorschuss“ einiges auf den Weg gebracht. Er hat die Bildung einer neuen Generation von Unternehmern sowie die Öffnung für Auslandsinvestitionen und den Tourismus gefördert.
„Man muss verrückt sein, um dieses Land zu regieren“, sagte der Revolutionsgeneral Amadou Toumani Touré 1992 zu dem frisch gewählten Präsidenten Alpha Oumar Konaré. Gleich nach seinem Amtsantritt hatte der studierte Archäologe Konaré alle Hände voll zu tun: Schon damals rebellierte der Norden, dann übten verschiedene Interessengruppen Druck auf die Regierung aus, und es gab regelmäßig Proteste von Studenten, die über die Revolution hinaus für einen politischen Wandel kämpften. Und dann lieferten sich auch noch vor jeder Wahl die gegnerischen Parteien heftigen Auseinandersetzungen. Die nach wie vor attraktive Dezentralisierung, Großbaustelle seiner beiden Amtszeiten, scheiterte auch nur aufgrund des Mangels an Finanzen.5
Unter Touré, der sich 2002 dann doch zum Präsidenten wählen ließ, entspannte sich die politische Lage im Land. Durch seine Rolle beim Sturz des Traoré-Regimes 1991 genoss er immer noch großes Ansehen. Damals hatte er als General die Koordination des Staatsstreichs übernommen und die Macht anschließend an eine vorwiegend aus Zivilisten bestehende Übergangsregierung abgegeben. Als er zehn Jahre später an der Spitze des Staates stand, gerierte sich Touré als der große Einiger. Sein Regierungsstil schläferte die politischen Akteure jedoch faktisch ein: Selbst parteilos, zielte er auf Einigung und Konsens mit den Vertretern aller politischen Richtungen. Nach und nach wurden die Opposition, Parteiinitiativen für eigene Gesetzesvorschläge, ja die gesamte öffentliche Debatte lahmgelegt.
Während das Land mit Baustellen überzogen und die Infrastruktur (Straßen, Kanalisation, Energieversorgung et cetera) verbessert wurde, brachten die bald allgegenwärtige Korruption und die Unsitte, mittelmäßige Beamte auf die höchsten Stellen im Staat zu hieven, das Regime in Misskredit: Viele Malier empfanden Tourés Konsensstil als „zubetonierte“ Demokratie, in der es nur noch darum ging, „den Kuchen aufzuteilen“, so Mohamed Lamine Traoré, einst Vorkämpfer der demokratischen Bewegung, der später zum Minister ernannt wurde und 2007 verstarb.
In dem gleichen Stil wurden auch die Probleme im Norden des Landes behandelt. Dort waren unterdessen die Spannungen neu aufgeflammt, zum einen durch die „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“, die sich 2006 in „Al-Qaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI) umbenannte, und zum anderen durch die Waffen, die infolge des Krieges in Libyen in der Sahelzone in Umlauf waren.6 Für Touré, der 1992 mit dem sogenannten Nationalen Pakt vom 11. April7 den Norden befriedet hatte, war das ein herber Rückschlag. Doch er setzte seine Konsensstrategie unverdrossen fort, suchte mit allen das Gespräch und glaubte so das Staatsgebiet gegen das Vorrücken militanter Gruppierungen aus Algerien absichern zu können, die seit 2003 vom Sahel aus operierten.
Im selben Jahr wurden auf seine Initiative hin 32 Entführungsopfer aus dem Westen in Algerien befreit. Die europäischen Regierungen waren froh, in Touré einen Vermittler gefunden zu haben: Zum Beispiel drängte ihn Paris im Februar 2010, sich für die Befreiung der Al-Qaida-Geisel Pierre Camatte einzusetzen. Doch zu diesem Zeitpunkt funktionierte der „Pakt“ mit der AQMI schon nicht mehr, und es häuften sich Entführungen auf malischem Territorium, woraufhin Algerien und Frankreich Touré prompt Untätigkeit vorwarfen.
Dem erfahrenen Soldaten Touré, der die Verantwortung für die Zerrüttung der malischen Armee zu tragen hat, schlägt heute auf ganzer Linie Missbilligung entgegen: „Es wurden schlechte Entscheidungen getroffen: Offiziere wurden ins Abseits gedrängt oder übergangen, Generäle wurden ernannt, deren Beförderung nicht nachvollziehbar war, Material- und allgemeine Logistikprobleme wurden nicht gelöst“, sagt ein ehemaliger Verteidigungsminister, „ganz zu schweigen davon, dass alle im entscheidenden Moment versagt haben, vor allem die Anführer der Tuareg-Einheiten.“
Der Norden musste zu lange warten
Die letzte Bemerkung lässt aufhorchen. Nach Meinung der malischen Verantwortlichen war nämlich die im Nationalen Pakt vereinbarte Integration der Tuareg-Kämpfer in die Armee durchaus erfolgreich gewesen. Folglich hat in Bamako auch niemand wirklich verstanden, wie es 2006 im Norden zu einem neuerlichen Aufstand kommen konnte. Der Grund: Obwohl von allen Seiten befürwortet, hatte sich die Umsetzung der im Nationalen Pakt getroffenen Vereinbarungen immer wieder verzögert, vor allem in Bezug auf die dem Norden versprochene Verwaltungsautonomie und die wirtschaftliche Entwicklung.
„Es wurden Fehler gemacht“, räumt Souleymane Drabo, Herausgeber der staatlichen Tageszeitung L’Essor, ein. „Als so viele neue Straßen gebaut wurden, hätte die Erschließung des Nordens Priorität haben müssen. Aber dass Touré – und vor ihm Konaré – gar nichts für den Norden getan hätten, stimmt auch nicht. Wer Kidal kennt, wird zugeben müssen, dass die Stadt heute anders aussieht. In den Augen eines Ausländers herrscht dort immer noch Armut, aber wir wissen, wie es früher war. Im Übrigen hat in Mali niemand akzeptiert, dass so viele Mittel in die drei Regionen des Nordens fließen, während doch alle Landesteile unterversorgt sind. Viele sagen sich: Natürlich hat sich die Region um Kayes [im Südosten des Landes] gewandelt, aber das ist doch nicht das Verdienst des Staates, das ist allein der Unterstützung durch die Emigranten zu verdanken!“
Angesichts einer schwachen Verwaltung und der auch auf lokaler Ebene verbreiteten Korruption war der malische Staat nicht in der Lage, die Vision des Präsidenten Konaré umzusetzen: das Problem des Nordens durch eine Einbeziehung in das umfassende Projekt der Dezentralisierung zu lösen. Fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit „müssen wir uns immer noch mit der nationalen Frage auseinandersetzen“, sagt Soumeylou Boubèye Maïga, Tourés letzter Außenminister. Dahinter steckt die alte Furcht, dass sich der Süden von den Nordregionen entfernt und ihrem Schicksal überlässt.
Die malische Demokratie wird aber noch von einem weiteren Schreckgespenst bedroht: Während die Väter der Unabhängigkeit die großen Reiche in der Geschichte Malis8 noch als Schmelztiegel und Vorbild für das Zusammenleben der Völker schätzten, hat sich das Blatt inzwischen gewendet. Heute beruft man sich gern auf seine ethnische Identität: „Viele Malier definieren sich zunehmend als bambara [die Ethnie, die als Mehrheit gilt und deren Sprache Verkehrssprache geworden ist] und behandeln die Beziehungen zwischen den Ethnien wie die Abhängigkeitsverhältnisse, die zur Zeit der Könige von Ségou im 17. und 18. Jahrhundert herrschten“, erklärt der Historiker und Soziologe M. T. (der wegen des inzwischen äußerst heiklen Themas nicht namentlich genannt werden will). Auf die gleiche Weise werden auch das Erbe der Malinké und die Geschichte des Mandingo-Reichs aus dem 13. Jahrhundert historisch überhöht, wenngleich es sich dabei eher um einen Mythos handelt.
Die junge Republik Mali ist in ihren Grundfesten erschüttert: In einer Situation, in der sie von radikalen Islamisten bedroht wird und die demokratischen Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte zunehmend infrage gestellt werden, findet ausgerechnet nicht nur der Kommunitarismus, sondern auch ein schroffer Nationalismus immer mehr Anhänger, wie man etwa seit dem 22. März an den Reaktionen auf die diplomatischen Interventionen aus dem Ausland beobachten konnte.
Islam und Islamisten
Der Islam in Mali ist alles andere als einheitlich. Zwar protestierten die muslimischen Führer des Landes im Juli 2012 einhellig gegen die Zerstörung der Heiligengräber, die am 30. Juni in Timbuktu begann. Doch hinter der äußeren Fassade der Geschlossenheit klaffen tiefe Gräben. Den traditionellen Stammesführern, Vertreter des Marabut-Islam, der seit Jahrhunderten praktiziert wird, treten „modernistische“ Strömungen entgegen, hinter der die Ölmonarchien am Golf stehen. Diese wiederum halten Marabuts und Heiligenkult für einen Aberglauben, der ausgerottet werden muss – eine Ansicht, die auch in Mali immer mehr Anhänger findet.
Eine Vielzahl neuer Strömungen liebäugelt heute mit dem saudischen Wahhabismus, den junge Intellektuelle, die im Nahen Osten studiert hatten, in den letzten Jahrzehnten der Kolonialzeit nach Mali brachten. Doch erst in vergangenen zwanzig Jahren hat der Fundamentalismus saudischer Prägung an Terrain gewonnen. Mahmoud Dicko, Vorsitzender des 2002 geschaffenen Hohen Islamischen Rats von Mali (HCIM), steht ihm nahe.
Mit dem demokratischen Frühling in Mali im März 1991 entstanden Dutzende muslimischer Organisationen. Chérif Ousmane Madani Haïdara, Chef einer der populärsten Gruppierungen, protestiert heute gegen die „widerrechtliche Aneignung“ des Namens seiner Organisation „Ansar Dine“ („Verteidiger des Glaubens“) durch die Islamisten im Norden. Er hält sie für terroristisch und „satanisch“. Haïdara, der dem Sufismus nahesteht und dessen Predigten im Radio übertragen und auf Kassetten verbreitet werden, setzt sich für Toleranz ein.
Im Kampf gegen „unsittliches“ Verhalten sind sich jedoch alle einig. Zwar bezeichnete der HCIM die Zerstörung der Gräber von Timbuktu als mittelalterlich, doch hatte er zehn Jahre lang eine maßgebliche Stimme bei den Debatten über ein neues Familiengesetz, das 2011 verabschiedet wurde und in dem zum Beispiel die Frauenrechte erheblich beschnitten werden.