Durch die Wüste Sinai ins Gelobte Land
Afrikanische Flüchtlinge in Israel von Joseph Dana
Das hübsche kleine Café liegt etwas versteckt in einer der verwinkelten Gassen der Altstadt von Jaffa. Nicht nur die Anwohner kommen gern hierher, auch Besucher aus dem Zentrum von Tel Aviv schätzen die Atmosphäre – bei gedämpfter Musik und gutem Essen kann man die Hitze und die Hektik in Israels heimlicher Hauptstadt für eine Weile vergessen. Ganz hinten, in einer kleinen Kammer, die auch als Waschraum dient, arbeitet Kasedai. Der Eritreer spült das Geschirr, manchmal bereitet er auch Essen zu, zwölf Stunden jeden Tag, unauffällig und zuverlässig. Kasedai ist vor der Diktatur in Eritrea geflohen, in den drei Jahren seines illegalen Aufenthalts in Israel hat er jede erdenkliche Art von Gelegenheitsjob angenommen. Im vergangenen Jahr konnte er genug Geld beiseitelegen, um seine Frau und die Kinder auf die strapaziöse Reise von Eritrea über die Sinai-Halbinsel nach Israel zu schicken.
Solchen Schicksalen begegnet man überall in den großen Städten Israels: Migranten verrichten die niedrigen Arbeiten, ohne die das Land nicht funktionieren würde. Früher verdingten sich Palästinenser in solchen Jobs, doch inzwischen sind die besetzten Gebieten abgeriegelt. Die Einwanderer aus Afrika und Ostasien, die deren Plätze eingenommen haben, sind – mit steigender Tendenz in den letzten Monaten – Ziel von ausländerfeindlichen und rassistischen Angriffen geworden, wie sie Israel in seiner Geschichte noch nicht erlebt hat. Über kaum ein Thema wird hier heute so heftig gestritten wie über die Einwanderungspolitik.
Wichtigste Anlaufstelle für afrikanische und andere Arbeitsmigranten ist der Süden von Tel Aviv, eine verdreckte, industriell geprägte Gegend. In den vergangenen acht Monaten kam es dort immer wieder zu Überfällen auf Schwarzafrikaner. Ende Juli erstach ein Israeli drei Eritreer in einem Internetcafé. In der Gegend um den zentralen Busbahnhof, früher vom Drogenmilieu beherrscht, bestimmen heute die Afrikaner das Straßenbild: Sie schlafen in den Parks, sie stehen irgendwo um Arbeit an oder warten einfach nur. Worauf, wissen sie selbst nicht. Angriffe auf afrikanische Migranten gab es aber auch in Jerusalem, dort wurden in diesem Sommer Brandanschläge auf von Eritreern bewohnte Wohnungen verübt.1
Im Süd-Tel-Aviver Stadtteil Hatikva („Hoffnung“) versammelten sich an einem schwülen Frühsommerabend im Mai etwa tausend Personen zu einer Kundgebung, um gegen die Anwesenheit von Afrikanern in der Stadt zu protestieren. Bei diesem Anlass traten auch Parlamentsabgeordnete auf und hielten Brandreden. Miri Regev von der Likud-Partei Netanjahus verstieg sich zu der Behauptung, die Afrikaner seien für die israelische Gesellschaft „ein Krebsgeschwür“. (Dafür musste sie sich einige Tage später öffentlich entschuldigen – bei den Krebspatienten, nicht etwa bei den Afrikanern.)
Als die Reden beendet waren, zogen mehrere Dutzend Personen randalierend zum zentralen Busbahnhof. Sie brüllten rassistische Parolen, schlugen die Schaufenster afrikanischer Läden ein und griffen afrikanische Frauen und Kinder an. „Die Demonstranten waren überall“, berichtete ein Flüchtling aus Nigeria der britischen Zeitung The Telegraph. „Eine Gruppe von zehn oder fünfzehn Jugendlichen hielt einen schwarzen Jungen an, der mit dem Fahrrad vorbeikam. Sie zerrten ihn vom Rad, verprügelten ihn und traten ihm gegen den Kopf. Die Polizei war in der Nähe, schaute aber erst einmal zu und griff erst ein, als die Sache völlig außer Kontrolle geriet.“2
Einen derart heftigen und gewaltsamen Ausbruch antiafrikanischer Ressentiments hatte Tel Aviv noch nicht erlebt. Dennoch war der Vorfall der letzte in einer langen Reihe ähnlicher Vorkommnisse, die überall in Israel zu verzeichnen sind, unorganisiert, aber immer häufiger. „Diese Proteste gegen Migranten aus Afrika in Süd-Tel-Aviv gibt es schon seit 2010, neu ist nur das Interesse der Medien daran“, meint die Journalistin Mya Guarnieri, die an einem Buch über die Arbeitsmigranten in Israel arbeitet. „Und von Anfang an tauchten bei solchen Protesten auch Politiker der extremen Rechten auf. Sie waren die Vorreiter, dann folgten die Populisten, und schließlich wurde es gesellschaftsfähig, antimigrantische Ressentiments zu pflegen. Das Ganze nahm seinen Ausgang bei der extremen Rechten, und ich glaube, zu diesem Lager darf man auch Eli Jischai rechnen.“
Tatsächlich vertrat Israels Innenminister Eli Jischai von der ultraorthodoxen Schas-Partei in der Migrantenfrage stets eine radikale Haltung – manchen gilt er gar als geistiger Brandstifter. Erst kürzlich erklärte er in einem Interview mit der Tageszeitung Maariv: „Die meisten dieser Menschen, die hierher kommen, sind Muslime; die glauben, das Land gehöre gar nicht uns, den Weißen […] Gemeinsam mit den Palästinensern werden diese Eindringlinge den zionistischen Traum bald zerstört haben.“3
Hass auf die Eindringlinge
Jischai war auch die treibende Kraft hinter einer Vielzahl neuer Gesetze, die die afrikanischen Migranten in Israel im Status der Illegalität halten und sie geradezu kriminalisieren. Jüngst hat das Parlament ein „Gesetz zum Schutz vor Eindringlingen“ verabschiedet, das unter anderem erlaubt, Asylbewerber bis zu drei Jahren ohne Gerichtsverfahren in Haft zu behalten – und diese Frist kann immer wieder unbegrenzt verlängert werden. Das neue Gesetz stellt die Novellierung einer Regelung von 1954 dar, die das Ziel hatte, den während des Kriegs von 1947/48 geflüchteten Palästinensern die Rückkehr an ihre Wohnorte innerhalb des neu gegründeten Staates Israel zu verwehren. Damals galten alle Palästinenser als „feindliche Eindringlinge“.
Dass Israel heute zunehmend zum Ziel afrikanischer Migranten wird, hat viele Gründe. Jean Luc, ein Flüchtling aus der Demokratischen Republik Kongo, der seit fünf Jahren illegal in Tel Aviv lebt, erinnert daran, dass Israel doch selbst ein „Land der Flüchtlinge“ sei. Bei unserem Gespräch in einem Straßencafé im Süden Tel Avivs erzählt er von seinem Fußmarsch durch die Wüste Sinai. Dort habe er das Gefühl gehabt, auf den Spuren der Israeliten auf dem Weg ins Gelobte Land zu wandeln.
Der Landweg über die Sinai-Halbinsel ist die häufigste Route für afrikanische Migranten. In diesem wenig kontrollierten Teil Ägyptens haben die Schlepperbanden der lokalen Beduinenstämme das Sagen. Sie schleusen die Flüchtlinge von Kairo bis zur israelischen Grenze. Dabei soll es immer wieder zu Vergewaltigungen, Misshandlungen und sogar Erschießungen gekommen sein. Wer es durch den Sinai geschafft hat, muss noch einen Weg finden, die Grenze zu überwinden, die durch einen hochmodernen, inzwischen fast vollständig fertiggestellten Sperrwall geschützt ist. Im Juni drangen israelische Soldaten sogar auf ägyptisches Staatsgebiet vor, um Migranten festzunehmen, die zu Fuß über die Grenze wollten.4 Die israelischen Streitkräfte (IDF) verstärken seit einer Weile ihre Präsenz an der Sinai-Grenze – mit dem erklärten Ziel, die illegale Einwanderung aus Afrika endgültig zu beenden.
Vielen ist die Einreise dennoch geglückt. Nach Schätzungen israelischer NGOs leben heute etwa 60 000 Afrikaner illegal in Israel – die überwältigende Mehrheit (über 60 Prozent) kommt aus Eritrea. Insgesamt sind seit dem Jahr 2000 etwa 180 000 Arbeitsmigranten ins Land gekommen, von denen über die Hälfte illegal arbeitet. Das zeigt ein Bericht der israelischen NGO „Hotline for Migrant Workers“, die ihnen Hilfe anbietet.5 Während Menschenrechtsorganisationen stets von „Asylsuchenden“ und „Migranten“ sprechen, ist in vielen israelischen Medien häufig nur noch von „den Eindringlingen“ die Rede.
Oberflächlich betrachtet, ähnelt die israelische Kontroverse um die Einwanderung den Debatten, die auch in der Europäischen Union und in den USA geführt werden. In allen westlichen Ländern stellt sich ja die schwierige Frage, in welchem Verhältnis der Bedarf an billigen Arbeitskräften zu den Bürgerrechten und zum Anspruch ethnisch-nationaler Kontinuität steht. In Israel werden diese Probleme allerdings durch tief verwurzelte Vorstellungen verstärkt, die auf der widersprüchlichen Ideologie von die Sonderstellung des Judentums gründen: Wie definiert sich Israel? Als jüdischer Staat, als westliche Demokratie, als eine Mischung aus beidem? Und was bedeutet es in diesem Zusammenhang, wenn eine große Zahl von Menschen im Land lebt, die weder Juden noch Araber sind? Die Gewalt gegen Migranten in Israel, die die Probleme ja noch verstärkt, hängt auch mit der erfolgreichen Abgrenzung der jüdisch-israelischen Gesellschaft von der palästinensischen zusammen. Nach der immer noch bestimmenden zionistischen Ideologie ist Israel eben ein rein jüdischer Staat.
Seit der Staatsgründung 1948 haben in Israel lediglich 200 nichtjüdische Menschen politisches Asyl erhalten. Weltweit gesehen erhalten 84 Prozent der Flüchtlinge aus Eritrea politisches Asyl und 64 Prozent der Flüchtlinge aus dem Sudan.6 Dass Israel offenbar nicht bereit ist, dieses Recht zu gewähren, macht deutlich, wie wichtig der jüdische Staat die ethnisch-religiöse Homogenität seiner Bevölkerung nimmt.
Seit seiner Gründung kommt Israel ohne geschriebene Verfassung aus, ein Mangel, der nicht ohne Folgen blieb: Der Staat konnte es sich stets erlauben, grundsätzliche Fragen, wie den Status und die Rechte der nichtjüdischen Bürger, vor allem der in Israel lebenden Palästinenser, einfach offen zu lassen. Ebenso unklar blieb, nach welchen Kriterien entschieden wird, wer überhaupt als Jude gilt. Dass die Palästinenser nicht als Staatsbürger behandelt werden, hat zu einer anhaltenden und oftmals heftigen Debatte über das Selbst- und Demokratieverständnis Israels geführt. Auch innerhalb der israelischen Führung tat man sich schwer mit einer Identität, die auf Absonderung beruht und in der Praxis schließlich zur Trennung von palästinensischer und jüdisch-israelischer Bevölkerung führen musste. Da der junge israelische Staat jedoch zunächst auf die palästinensischen Arbeitskräfte und ihre Kenntnisse und Fähigkeiten angewiesen war, vollzog sich diese Trennung eigentlich erst mit dem Oslo-Friedensprozess in den 1990er Jahren.
Diese These vertrat der – inzwischen verstorbene – palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said, der 1999 in seinem Essay „What Can Separation Mean?“7 auseinandersetzte, was der Oslo-Prozess für das Verhältnis zwischen israelischer Gesellschaft und palästinensischer Bevölkerung in der Praxis bedeutete. Mit „Separation“ meinte er weniger die territoriale Teilung, da Israel seine massiven Siedlungsprojekte im Westjordanland (und damals auch noch im Gazastreifen) nicht aufgab, sondern die soziale Segregation.
Lange Zeit hatten die Israelis regelmäßigen Kontakt zu Palästinensern; zu Tagelöhnern, die in Israel arbeiteten, oder zu Händlern, die man beim Einkaufen in Ramallah traf. Das änderte sich in den 2000er Jahren: Die Palästinenser verschwanden aus dem israelischen Alltag. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen der Zweiten Intifada ab 2000 und Israels 2003 begonnenes Projekt, das Westjordanland mit einem Sperrwall abzuriegeln, besiegelten die Politik der Abtrennung. Nun hatten die meisten Israelis nur noch während ihres Wehrdienstes im Westjordanland Kontakt zu Palästinensern. Den Platz des Fremden, des Nichtjuden in der israelischen Gesellschaft, übernahmen immer mehr die Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus Afrika und Asien.
Als Israel im Sommer 2011 die größten Demonstrationen und sozialen Proteste seiner Geschichte erlebte, entschieden die Demonstranten bewusst, die Palästinafrage und die israelische Besatzung nicht zu thematisieren. Es ging ihnen um ihre Rechte, ihre Gesellschaft, ihre Zukunft, da war kein Platz für die Palästinenser. Umso deutlicher zeigten die Bilder von einer halben Million Israelis, die „soziale Gerechtigkeit“ forderten, während von der Unterdrückung der Palästinenser keine Rede war, wie sehr sich die israelische Gesellschaft gegen die Palästinenser abgeschottet hat.8 Damit bestätigen die sozialen Proteste auf ihre Weise die Behauptung von Edward Said, dass Israel nach Oslo auch intellektuell und emotional die Trennung von den Palästinensern vollzogen hat.
Die aktuellen Gewaltausbrüche gegen Afrikaner haben in Israel bislang nicht zu einer Infragestellung des eigenen Umgangs mit den Einwanderern geführt. Stattdessen verweist man auf die offizielle Zuwanderung äthiopischer Juden (Falascha) seit Mitte der 1980er Jahre als Beweis für multikulturelle Offenheit. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus: In allen Bereichen der israelischen Gesellschaft werden die dunkelhäutigen äthiopischen Juden diskriminiert – in Tel Aviv tragen manche von ihnen heute T-Shirts mit dem Aufdruck „Wir sind keine afrikanischen Asylanten“.
Die Anwesenheit der Afrikaner stellt die israelische Gesellschaft vor ein grundsätzliches Problem, das durch die massenhafte Abschiebung oder den Bau neuer Gefängnisse nicht zu lösen ist: Wie geht der jüdische Staat mit Nichtjuden auf seinem Territorium um? Der Streit darüber legt zunehmend die Risse im israelischen Gesellschaftsgefüge offen. Erst kürzlich, an einem Abend im August, gingen mitten in Westjerusalem israelische Jugendliche brutal auf eine Gruppe von Palästinensern los. Hunderte Passanten sahen tatenlos zu. Ein palästinensischer Jugendlicher landete auf der Intensivstation, die Polizei sprach später von versuchtem „Lynchmord“.
Viele Israelis waren schockiert von diesem Vorfall, doch er ist nur ein weiterer Beleg für die wachsende Fremdenfeindlichkeit im Land. Israel muss sich entscheiden: Solche Gewaltausbrüche, die letztlich die ethischen Grundlagen einer Gesellschaft gefährden, sind nur zu verhindern, wenn im nationalen Selbstverständnis auch den Nichtjuden Platz eingeräumt wird.