Versammlungssaal 50.1
Der Europäische Rat tagt hinter verschlossenen Türen, aber nicht alles bleibt geheim von Christophe Deloire und Christophe Dubois
Seit Mai 1995 tagen die Staats- und Regierungschefs der EU im imposanten Justus-Lipsius-Gebäude, das nach dem Brüsseler Philologen und Humanisten des 15. Jahrhunderts benannt ist. Hier, gegenüber dem historischen Sitz der Europäischen Kommission, tagt neben dem Europäischen Rat auch der Rat der Europäischen Union (siehe Kasten). Vor jeder Sitzung des Europäischen Rats betreten die Staats- und Regierungschefs das Gebäude über einen Haltebereich auf der Rückseite. Er soll die An- und Abfahrt der Staatskarossen beschleunigen, wirkt aber eher wie eine Geheimpforte.
Im Versammlungssaal 50.1 werden die 27 Staatsoberhäupter vom Präsidenten des Rats1 empfangen, dem früheren belgischen Ministerpräsidenten Herman Van Rompuy. Auch Kommissionspräsident José Manuel Barroso nimmt an den Sitzungen teil. In den hinteren Reihen dürfen die ständigen Vertreter der Länder – die „Botschafter“ in Brüssel – Platz nehmen. Die Deckenkameras, die Sitzungen des Rats der Europäischen Union (besser bekannt als Ministerrat) übertragen, bleiben bei den Gipfeltreffen der mächtigsten Männer und Frauen der EU ausgeschaltet: Beschlüsse über die Zukunft der Europäer werden also hinter verschlossenen Türen gefasst. Das sei ganz normal, finden die Verfechter der bestehenden institutionellen Architektur Europas. Schließlich werden auch sonst Kabinettssitzungen nicht live übertragen. Warum sollte es in Brüssel anders sein?
Es gibt allerdings einen wichtigen Unterschied: Alle Teilnehmer einer Kabinettssitzung – ob im Bundeskanzleramt in Berlin, im Pariser Élysée-Palast oder sonst wo in Europa – sind vor den Bürgern, die unter ihren Entscheidungen leiden oder von ihnen profitieren werden, verantwortlich. Zumindest ein bisschen. In jedem Fall sind sie durch die Zustimmung des nationalen Parlaments legitimiert. Im Europäischen Rat aber gibt es nichts dergleichen. Niemand erfährt, ob ein Staatschef die Positionen vertreten hat, die er zu vertreten behauptet, ob er sich durchgesetzt hat oder im Gegenwind eingeknickt ist. Unmöglich, Rechenschaft zu verlangen.
Möchte man erfahren, was bei diesen Sitzungen gesagt wird, bleiben nur die Statements auf den abschließenden Pressekonferenzen. Jedes Staatsoberhaupt hat seine eigene. Das Problem dabei ist: Die nationalen Medien haben weder die Mittel noch den Willen, den Ablauf zu rekonstruieren, indem sie die verschiedenen Verlautbarungen der Staats – und Regierungschefs vergleichen. Täten sie es, würde die Relativität der Aussagekraft menschlicher Zeugnisse aufs Eindrucksvollste bestätigt, da sich jeder im besten Licht zeigen will. Eigenwerbung will keine Transparenz. Man könnte auch die gemeinsamen Presseerklärungen sichten, aber die enthalten nur die offiziellen Wahrheiten, die keine Wahrheiten sind.
Spionagemikrofone wären eine andere Möglichkeit. Solche wurden 2003 in den Dolmetscherkabinen der Sitzungssäle des Rats entdeckt. Bei der Untersuchung der belgischen Geheimdienste fiel Verdacht auf eine israelische Firma, was auf den Mossad hindeutete. Der Fall wurde ohne Ergebnis und ohne politisches Aufsehen ad acta gelegt.
Bleibt also nur eine Quelle: die Antici-Notizen. Diese nach dem italienischen Diplomaten Paolo Antici (1924 bis 2003) benannten Stichwortprotokolle enthalten eine fast vollständige Wiedergabe der Gespräche bei den Gipfeltreffen. Ein Beamter des Generalsekretariats des Rats, der sogenannte Debriefer, pendelt ständig zwischen Saal 50.1 und einem Nebenraum, wo er den nationalen Diplomaten weitergibt, was gesagt wird. Die Antici-Notizen werden nicht veröffentlicht.
Uns liegen Auszüge aus den Jahren 2010 und 2011 vor, in denen Angst der Staatschefs vor dem Finanzdebakel und deren politischen Absichten erkennbar werden. Bei der Eröffnung der Sitzung des Europäischen Rats vom 16. September 2010 freute sich Ratspräsident Van Rompuy noch über die „überzeugenden Resultats“ der ergriffenen Maßnahmen und die Wiederherstellung des Wachstums. Zwei Jahre später nun erscheinen diese Worte etwas voreilig.
Die Protokolle zeigen ebenfalls, dass einige Staatschefs in der Ungestörtheit der Ratssitzungen auch über wenig demokratische Maßnahmen nachdachten. Am 14. Juni 2010 unterstützte der französische Präsident Nicolas Sarkozy die Idee von Angela Merkel, eine neue Sanktion für Staaten festzulegen, die den vom Europäischen Rat 1997 beschlossenen Stabilitäts- und Wachstumspakt (Eurostabilitätspakt) nicht einhalten: Ihr Stimmrecht im Rat der Europäischen Union solle ausgesetzt werden. Eine solche Bestrafung würde den „säumigen“ Staat unter eine Art Protektorat der anderen EU-Mitglieder stellen.
Bloß kein Theater vor der Presse
Bei der Sitzung vom 28. Oktober 2010 eröffnete die Kanzlerin die Feindseligkeiten mit Artikel 7 des EU-Vertrags: Er beinhalte die Möglichkeit, „das Stimmrecht für Staaten bei schwerwiegenden Verstößen auszusetzen.“ Tatsächlich ermöglicht Artikel 7 eine solche Sanktion, allerdings nur bei einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der Werte der Union, wie Respekt der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Gleichheit. Das hat also nichts mit finanziellen Entgleisungen zu tun, aber dieser Unterschied berührte Angela Merkel nicht weiter: „Wir haben Artikel 7 für den Fall der Verletzung der Menschenrechte beschlossen, und wir müssen dieselbe Entschlossenheit zeigen, wenn es um den Euro geht.“
Der Position des „Merkozy“-Tandems widersprach der rumänische Präsident Traian Basescu („Diese Situation ist nicht mit einer Verletzung der Menschenrechte zu vergleichen“), gefolgt vom luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker und dessen damaligem spanischen Amtskollegen José Luis Rodríguez Zapatero. Dagegen verteidigte Sarkozy seine Mitstreiterin mit dem ihm eigenen Sinn für Nuancen: „Die Aussetzung des Stimmrechts steht im Vertrag, es ist also nicht völlig abwegig.“ Das kommt in etwa der Feststellung gleich, lebenslange Haft für einen Taschendieb sei nicht völlig abwegig, da diese Strafe im Gesetzbuch steht.
Schließlich entpuppte sich sogar der Bulgare Bojko Borissow, ein früherer Leibwächter des bulgarischen KP-Chefs Todor Schiwkow und heutiger Ministerpräsident seines Landes, als Ausbund politischer Weisheit. Borissow, der zwischenzeitlich auch die bulgarischen Karatemannschaft trainierte, gab zu bedenken: „Wir müssen an einer Lösungen arbeiten, aber nicht an so demütigenden Lösungen wie der Aussetzung des Stimmrechts.“ Im Abschlusskommuniqué ist diese Diskussion mit keinem Wort erwähnt.
Auf einer Sitzung am 24. März 2011 sprachen die Staatschefs über die Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) ablösen soll. Der ESM, der über ein Stammkapital von 700 Milliarden Euro verfügen soll, war bereits fünf Monate zuvor angekündigt worden, aber seine Einführung lässt immer noch auf sich warten.2 „Es ist wirklich wichtig, diese Elemente positiv zu kommunizieren und keine Zweifel an unserer Entschlossenheit aufkommen zu lassen“, forderte Van Rompuy. Die Mitgliedstaaten waren sich uneins über die Einzahlung einer Summe von 80 Milliarden Euro. Der Präsident der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, warnte: „Wir dürfen daraus kein großes Theater machen. Ich habe das gegenüber der Presse als nebensächliches Problem dargestellt.“ Etwa zur gleichen Zeit gab Jean-Claude Trichet, damals Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), zu: „Wir sind weit im Rückstand […] Ich sehe ein, dass wir es positiv kommunizieren müssen, aber unter uns gesagt, seien wir ehrlich, wir haben fünfzehn Monate gebraucht, um unsere Versprechen zu erfüllen.“ Schade, dass die Bürger Europas nicht in den Genuss dieser Offenheit kamen.
Anhand der Antici-Notizen kann man auch bei anderen Themen das Ausmaß der faktischen Ohnmacht der europäischen Entscheider erkennen. Am 29. Oktober 2010 offenbarte der damalige italienische Regierungschef Silvio Berlusconi eine Sorge, die ihn wohl doch etwas stärker beschäftigte als die Organisation seiner Bunga-Bunga-Abende. Er äußerte seine Befürchtungen über die Standortverlagerungen von Unternehmen: „Die Wirtschaftsbosse sagen, dass sie sich nicht in Europa niederlassen wollen, dass sie nach Indien gehen, wo die Menschen Englisch sprechen und wenig verdienen, dass die Bevölkerung Chinas jedes Jahr um 20,3 Millionen Menschen wächst, während die berufstätige Bevölkerung in Frankreich und Großbritannien insgesamt bei 23,3 Millionen liegt.“3
An diesem Tag wuchs Berlusconi etwas über die Karikatur hinaus, die er sonst in der Öffentlichkeit abgab: „Die europäischen Unternehmen haben immer größere Mühe, wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir müssen etwas unternehmen, Lösungen suchen, uns mit unseren Experten zusammensetzen und dieses Problem gründlich erörtern. Ein Unternehmen sagt mir, es habe gegenwärtig 500 000 Beschäftigte in Europa und werde nur 150 000 davon behalten.“
Obwohl es sich um ein schwerwiegendes Problem handelt, wechselte Van Rompuy zunächst das Thema. Werner Faymann, sozialdemokratischer Bundeskanzler von Österreich, kam jedoch wieder darauf zurück und verlangte von der Kommission eine Liste von möglichen Maßnahmen, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Länder wiederherstellen könnten. Barroso warnte daraufhin sogleich, die EU dürfe „keine protektionistischen Signale aussenden“. Darauf Sarkozy: „Wir müssen unsere Naivität ablegen: Wir müssen klarer mit unseren Partnern sprechen, und wenn unsere Partner die Notwendigkeit ausgeglichener Handelsbeziehungen nicht einsehen, können auch Einfuhrzölle eine Lösung sein.“
Gereizt erinnerte Barroso daran, dass die Kommission gerade Antidumpingmaßnahmen gegen China und Vietnam empfohlen habe und dass „es schwierig war, den Rat für diese Maßnahmen zu gewinnen“. Er vergaß auch nicht, erneut auf den „Widerstand der Kommission gegen Protektionismus“ hinzuweisen – als Hüterin der europäischen Verträge wacht die Kommission über die Freihandelsabkommen und schafft den Rahmen, in dem sich die Staats- und Regierungschefs bewegen können. Auch diese Tatsache, die nationale Politiker gerne verschweigen, rufen die Antici-Notizen in Erinnerung.
Die Räte der Union
Die Namen sind fast identisch und beide Gremien tagen am selben Ort. Trotzdem sind der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union zwei völlig unterschiedliche Institutionen. Der Europäische Rat, dessen Sitzungen stets von einem großen Medienecho begleitet werden, besteht als informelle Organisation seit 1974. Durch den Maastrichter Vertrag (1992) erhielt er im Wesentlichen seine heutige Rolle, der Vertrag von Lissabon (2009) erklärte ihn endgültig zum offiziellen EU-Organ. Diese Versammlung der Staats- und Regierungschefs gibt der Europäischen Union gemäß Artikel 15 des EU-Vertrags „die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“. Die Entscheidungen des Europäischen Rats werden in den sogenannten Schlussfolgerungen festgehalten, die den nationalen Delegationen zugestellt werden und auf der Website des Europäischen Rats eingesehen werden können.
Der Rat der Europäischen Union, oft als „EU-Ministerrat“ bezeichnet, vereinigt die Minister bestimmter Ressorts der 27 Mitgliedstaaten: Auswärtige Angelegenheiten, Wirtschaft und Finanzen, Justiz und Inneres. Er ist an der Ausarbeitung von Gesetzestexten beteiligt, die die EU-Kommission einbringt und die in den meisten Fällen gemeinsam mit dem Europaparlament beschlossen werden.
Die Sitzungen des EU-Ministerrats, bei denen legislative Entscheidungen getroffen werden, sind eigentlich öffentlich. Kameras sollen sie direkt übertragen, aber zuweilen behindern technische Probleme die Ausstrahlung. Ohnehin sind diese Debatten nur das Ergebnis von Verhandlungen im Vorfeld, über die die Öffentlichkeit überhaupt nichts erfährt. Sie finden bei den Sitzungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter (AStV) statt, in dem die „EU-Botschafter“ der Mitgliedsländer und ihre Stellvertreter zusammenkommen. Deren Arbeit wiederum wird von Fachreferenten und Ratsarbeitsgruppen vorbereitet, aber auch von „technischen“ Expertengruppen.