Das falsche Modell
Als reine Währungsunion ohne solidarische Regulierung kann Europa nicht überleben von Elmar Altvater
Nach der Lehman-Pleite im September 2008 meinte Peer Steinbrück, damals Finanzminister der großen Koalition, in einen Abgrund geschaut zu haben. Doch im Vergleich zu dem europäischen Desaster von heute war der Lehman-Abgrund eine Lehmkuhle. Heute droht nicht ein „zurück auf Start“, um das Integrationsspiel in Richtung monetäres Union Europas neu anzupfeifen. Vielmehr wird das ganze Spielfeld neu vermessen. Ob danach noch alle mitspielen dürfen, ist unklar. Und da auch die Spielregeln zur Disposition stehen, weiß heute niemand, ob das Ganze nicht zu einem regellosen Catch-as-catch-can ausarten könnte.
„Ach Europa!“ Das war vor der Titel eines Essaybandes von Hans Magnus Enzensberger, der vor 25 Jahren erschienen ist. Der Stoßseufzer findet in der politischen Klasse des Kontinents ein erbärmliches Echo. Wer nur Eurorettungsschirm-Milliarden im Kopf hat, kann Europa und die Währungsunion nicht verstehen – und daher auch nicht retten. So wie in Goyas „Caprichos“ der Traum der Vernunft Ungeheuer gebiert, produziert die neoliberale Rationalität das ökonomische, soziale und schließlich auch ökologische Desaster.
„Das europäische Haus steht in Flammen“ und „Feuerwehrfrau Merkel löscht mit Kerosin“, schimpft Joschka Fischer.1 Man kann seinen Frust nachempfinden, auch weil seine Partei eifrig das Kerosin nachliefert. Schließlich hat die Bundestagsfraktion der Grünen dem Fiskalpakt und dem künftigen Rettungsschirm ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) mehrheitlich zugestimmt. Kein Wunder, dass sich viele an die 1930er Jahre erinnert fühlen: Erst die Finanzkrise, dann die Brüning’sche Sparpolitik als Nonplusultra ökonomischer Rationalität. Die machte damals der Demokratie den Garaus und ebnete einer barbarischen Diktatur den Weg. Sind wir heute dazu verdammt, den gleichen Fehler des Kaputtsparens auf europäischer Ebene erneut zu begehen?
Für den absehbaren Knock-out des Euro – das Scheitern der Europäischen Währungsunion – ist die explosive Mischung aus angestrebter Wachstumsbeschleunigung und Schuldenbremse, aus Eurorettungsschirm und Fiskalpakt verantwortlich. Mit unvorstellbar viel Geld werden Banken auf der Rutschbahn in den Bankrott notdürftig stabilisiert. Damit soll zugleich die Krise des Euro überwunden werden, nachdem dieser von den Akteuren auf den globalen Finanzmärkten – von Fonds und Banken, Ratingagenturen, Beratern, Thinktanks und Brokern – sturmreif spekuliert wurde. Dennoch glauben die Cheerleaders des Euroraums, dass es zu den von neoliberalen Fachidioten2 definierten ökonomischen Erfordernissen „keine Alternative“ gibt. Egal ob der gesellschaftliche Zusammenhalt zerstört und der politische Konsens untergraben wird, egal ob Staaten – samt Staatsgebiet, Staatsmacht und Staatsvolk – aus der Eurozone entfernt werden.
Der Fiskalpakt hat auf dem Eurogipfel vom Mai 2012 eine Ewigkeitsgarantie erhalten. „There is no alternative“ (TINA) gebietet die neoliberale Religion durch den Mund ihrer Hohepriester. Kein Parlament, kein Souverän ist souverän genug, um den Pakt zu lockern und ein Minimum wirtschaftspolitischer Transparenz und Flexibilität durchzusetzen. Wenn man Politik als Fähigkeit zur alternativen Gestaltung gesellschaftlicher Zukünfte sieht, ist der Euroraum heute auf einen antipolitischen, autoritären Pfad gedrängt. Als Pfadfinder bieten sich die neoliberalen Fachidioten an. Der Traum der Vernunft wird zum Albtraum der Vernünftigen.
Im Herbst 1990 hatte sich die Bundesbank zur Begründungslogik und den Voraussetzungen einer europäischen Währungsunion geäußert. Sie war damals, nur kurz nach der deutschen Währungsunion, in ihrem Urteil sehr vorsichtig und nahm daher ausnahmsweise die monetaristische Brille ab, um auch die realökonomischen und sozialen Bedingungen der monetären Vereinigung ins Auge zu fassen. Eine Währungsunion, hieß es in ihrem Monatsbericht vom Oktober 1990, sei letztlich „eine nicht mehr kündbare Solidargemeinschaft, die nach aller Erfahrung für ihren dauerhaften Bestand eine weitgehende Bindung in Form einer umfassenden politischen Union benötigt“.
Diese Aussage stieß in den Zeiten neoliberalen Überschwangs auf taube Ohren. Die reine Markt- und Geldintegration war angesagt, nicht die politische Union. Und das, obwohl man aus der Geschichte und theoretischen Erwägungen über einen „optimalen Währungsraum“ von Robert Mundell aus den frühen 1960ern hätte lernen können, dass eine Währungsintegration ohne realökonomische Angleichung und gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik auf Dauer nicht funktionieren kann.3 Denn die ökonomische, soziale und politische Stabilität ist auch in der EU nur möglich, wenn die Produktivität von Ländern wie Finnland und Portugal, Spanien und Holland sich annähert, damit die Unterschiede der Wettbewerbsfähigkeit zwischen Branchen und Regionen nicht zu groß werden und die ökonomischen Spannungen in der Währungsunion beherrschbar bleiben.
Eine Angleichung der Lebensbedingungen der Menschen (bei gleichzeitiger Akzeptanz der Sprach- und Kulturunterschiede) ist die Voraussetzung dafür, dass diese – als Wirtschaftsbürger gleichgestellt – auch die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten im gemeinsamen Europa ausüben können. Das aber stellt sich nicht als Nebeneffekt der Markt- und Geldintegration her, sondern muss aktiv politisch angestrebt werden. Dasselbe gilt für die sozialen Rechte in der Arbeitswelt oder für den Umweltschutz.
Der Integrationsprozess nimmt einen paradoxen Verlauf. Bislang wurden Fortschritte als „negative Integration“, durch Liberalisierung der Märkte und Deregulierung der Politik erzielt. Doch das ist ein Auslaufmodell, die Krise bringt es an den Tag. Fortschritt gibt es nur in Solidarität. Dann aber darf die Umverteilung von Einkommen und Vermögen oder ein Finanzausgleich zwischen Regionen und Nationen nicht zum Tabu erklärt werden. Das wäre eine politische Alternative zu der finanzmarktgesteuerten, antipolitischen, autoritären Integration, von der sich die „Monetaristen“4 die realökonomische, soziale und politische Angleichung in Europa versprachen. Es wäre auch eine aktuelle Alternative zum Fiskalpakt mit seinen Sparzwängen und zum dauerhaften Eurorettungsschirm ESM und anderen bürokratischen Ausgeburten neoliberaler Rationalität.
Eine Währungsunion verlangt nämlich mehr als eine an den Maastricht-Kriterien5 bemessene monetäre Konvergenz. Sie verlangt die politische Union. Dennoch tun viele Akteure alles, um die politische Integration zu blockieren. Die Währungsunion entwickelt sich allerdings nicht von selbst zur politischen Union, wie die „Monetaristen“ glauben machen.6
Doch in der neoliberalen Integrationsarena gibt es keine zu verhandelnden und zu entscheidenden Alternativen. Es gibt nur harte, alternativlose Sachzwänge, die freilich unter besonderen Umständen weniger hart ausfallen können. In Deutschland hat eine große Koalition fast aller Parteien (mit Ausnahme der Linken) eine besonders harte nationalstaatliche Schuldenbremse beschlossen: Grundsätzlich darf die jährliche Neuverschuldung des Staates maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Viele EU-Partner mussten eine Verschuldungsgrenze von 0,5 Prozent akzeptieren und diese nach deutschem Vorbild in der Verfassung verankern – und dazu noch einen bindenden internationalen Vertrag unterzeichnen. Schon 1944 hatte der „Papst“ des modernen Neoliberalismus, F. A. von Hayek, in seinem Buch „Weg in die Knechtschaft“ empfohlen, liberale Reformen vertraglich und verfassungsmäßig festzuschreiben, um jeden Staatseingriff in den Markt zu verhindern.
Nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 verhielt sich die Crew am Steuer des Eurogefährts allerdings weit weniger konsequent. Sie trat mitnichten voll auf die Schuldenbremse, wie es der Maastricht-Vertrag gebot. Wenn damals die Staatsverschuldung bei 60 Prozent des BIP gestoppt worden wäre, hätten die Regierungen die Banken nicht mit milliardendicken Rettungspaketen aus der Klemme befreien können, in die sie sich hineinspekuliert hatten. Sie hätten also nicht mit einer „janusköpfigen Rettungsaktion“ – so die Europäische Zentralbank (EZB) – die privaten Schulden und daraus resultierenden Verpflichtungen der Banken abbauen und in öffentliche Schulden verwandeln dürfen.
Infolge dieser Vertragsverletzung liegt heute in fast allen Eurostaaten das Haushaltsdefizit weit über den vom Maastricht-Vertrag erlaubten 3 Prozent des BIP; und die Schuldenquote betrug 2011 nicht 60, sondern durchschnittlich 87,3 Prozent. Tendenz steigend.
Die Folgen dieses Manövers hatten die Zauberlehrlinge allerdings nicht abgesehen: Die Ratingagenturen werteten die Kreditwürdigkeit der sich verschuldenden Staaten ab, was Investoren mit liquidem Vermögen die Chance gab, die Zinsen wegen des erhöhten Ausfallrisikos in die Höhe und damit einige hoch verschuldete Eurostaaten in die Zahlungsunfähigkeit zu treiben. Jetzt gab es nur noch die Wahl zwischen der Pest der Staatspleite – und des anschließenden Ausscheidens aus der Währungszone – und der Cholera der Finanzspritzen (in atemberaubenden Dimensionen von mehreren hundert Milliarden Euro), begleitet von strengen Sparauflagen für die Staatshaushalte, die nicht nur einen brutalen sozialen Kahlschlag, sondern auch den Todesstoß für die Konjunktur bedeuten.
Wächst bei so viel Liquidität auf dem Markt nicht die Inflationsgefahr? Momentan wohl kaum, denn die reale Ökonomie steuert auf eine Depression zu. Die Spielräume für Preissteigerungen sind daher gering. Allerdings findet vor unseren Augen die rasante Entwertung von Geldvermögen statt. Die Abschreibungen auf „toxische“ Papiere gehen in die Billionen, viele Banken mussten dichtmachen, und die angeblich „robuste“ Realökonomie wird von einer Pleitewelle überrollt.
Viele Vermögen „verwerten“ sich nicht, sie sind somit nichts wert und müssen abgeschrieben werden. Denn den Vermögenden fehlen solvente Schuldner, bei denen sie Zinsen abkassieren können. Um die Verluste, die aus der mangelnden Solvenz der Schuldner entstehen, zeitlich zu strecken, werden sie in eine Bad Bank verschoben. Erst wenn Geldkapital wieder rentabel angelegt werden kann und Schuldner neue Schulden machen und Zinsen zahlen, kann die Bad Bank eine Good Bank werden und der finanzgetriebene Kapitalismus in die Normalität zurückkehren.
Geldvermögensbesitzer und Schuldner sind also aneinander gefesselt und gleichzeitig zutiefst antagonistisch: Die einen haben eine Forderung, die sie zuweilen gewaltsam eintreiben (lassen), die anderen eine Verpflichtung, unter deren Druck sie womöglich zusammenbrechen. Das Geld ist ein Spaltpilz, wie schon Aristoteles wusste.
Die buchhalterisch logische Entsprechung von Vermögen und Schulden verlangt von denen, die die Schulden bremsen wollen, entsprechend auch die Einführung einer Vermögensbremse. Doch die schlauen Europolitiker wollen davon nichts wissen. Sie sorgen mit dem „Wachstumspakt“ für ungebremst wachsende Vermögen auf der Habenseite der Bilanz, gleichzeitig aber verlangt die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse auf der Sollseite weniger Schulden. Das aber ist nach den Regeln der doppelten Buchführung unmöglich. Kein Wunder, dass das Euroschiff ächzt und knirscht, als sei es während der Finanzstürme vom Klabautermann geentert worden. Bremsen und beschleunigen zugleich – das hält das stabilste Schiff nicht aus.
Die Politik der Haushaltskürzungen bewirkt das Gegenteil von dem, was beabsichtigt und versprochen wurde. Vor dem Abrutschen in die Rezession hilft auch kein Stabilitätsmechanismus. Der Unmut in der Bevölkerung steigt. Nicht zuletzt deshalb werden auch „die Märkte nervös“, steigen also die Risikoaufschläge für alle Staatsanleihen, die nicht als hundertprozentig sicher gelten. Es müssen also ausgerechnet die Länder, die ohnehin Probleme haben, noch höhere Zinsen zahlen. In Spanien lagen Anfang Juli 2012 die Zinsen auf Staatsanleihen mehr als 5 Prozentpunkte über dem, was der deutsche Staat für seine Schulden zahlen muss. Und Spanien muss neue Schulden aufnehmen, koste es, was es wolle, weil 2012 mehr als 60 Milliarden Euro an alten Staatsanleihen fällig werden, und 2013 nochmals 51,5 Milliarden. Bei mehr als 7 Prozent Zinsen und schwindendem Wachstum ist ohne Hilfe von außen der Bankrott absehbar. Die Politik hat eine sich selbst erfüllende Prophezeiung erzeugt.
Die Ungleichheit in der EU wächst also nicht nur zwischen Arm und Reich, zwischen Lohnarbeit und Kapital oder zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen Zentraleuropa und der Peripherie im Süden und Osten. Vor allem infolge der Bankenrettung sind auch Nationalstaaten von der Pleite bedroht. Irgendwo müssen sie das Geld für die Zinsen hernehmen, die ja mit jedem Euro Staatsverschuldung und mit jeder Abwertung der Kreditwürdigkeit durch die Ratingagenturen steigen. Die Aufnahme neuer Schulden verbietet die Schuldenbremse. Und die Steuern als einzige andere Einnahmequelle der Staaten sinken ständig wegen des Steuerwettbewerbs, der den mobilen Produktionsfaktor Kapital begünstigt.
Die EZB und – seit dem Eurogipfel von Ende Juni 2012 – auch die Rettungsschirme ESFS und ESM sind als Geldgeber der „letzten Instanz“ dabei, die Finanzinstitute mit billigen Billionen auszustatten, sie also mit viel Geld quasi zum Nulltarif zu füttern, damit sie nicht entkräftet zusammenklappen. Die EU-Kommission hingegen fungiert als Sachwalter der „Schuldner der letzten Instanz“, sprich der klammen Regierungen. Deren Schulden sind tatsächlich systemrelevant, denn was sollen die Banken mit dem billigen Geld von EZB, ESFS und ESM machen, wenn niemand gezwungen ist, sich zu verschulden und dafür hohe Zinsen zu zahlen?
Die Methode, dank derer der Schuldendienst an die Finanzinstitute garantiert werden soll, hat einen Namen: Austerität. Das kann man mit Sparkurs, aber auch mit Strenge und Entbehrung übersetzen. Die Sozialausgaben werden zusammengestrichen und die Masseneinkommen gesenkt, öffentliche Güter kommen unter den Hammer und werden privatisiert. Die der Austerität unterworfenen Staaten geben elementare demokratische Rechte preis und liefern die Bevölkerung einer neuen Form von Finanzdiktatur aus. Denn die nationalen Regierungen sind verpflichtet, die Schulden der zumeist externen Gläubiger, oftmals großer Banken, vorrangig zu bedienen. Was sie dann gegenüber ihrem Wahlvolk, oft zähneknirschend, rechtfertigen müssen.
Dass diese Rechtfertigung nicht immer gelingt, haben Zapatero oder Papandreou, die niederländische Rechtsregierung oder Berlusconi erfahren müssen. Acht Regierungen sind seit Ausbruch der Krise gescheitert. In einigen Fällen mussten sie Technokraten – „Fachleuten“ – Platz machen, wie etwa Monti in Italien und Papadimos in Griechenland. Wobei der Athener Regierung ohnehin von der Troika aus EU-Kommission, EZB und Internationalem Währungsfonds (IWF) vorgeschrieben wird, wie und wo es langzugehen hat.
Der IWF bringt, so der deutsche EZB-Banker Jörg Asmussen, in den Poker um die Eurokrise jene Expertise ein, die er zusammen mit der Weltbank während der Schuldenkrise der Dritten Welt in den 1980er Jahren erworben hat. Das schreckliche Ergebnis war die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten und ein „verlorenes Jahrzehnt“ in den 1980ern in Lateinamerika, Afrika und Teilen Asiens. Dieses Rezept ist dreißig Jahre später zur Blaupause der Politik in der europäische Schuldenkrise geworden. Nichts zeigt deutlicher, dass die Finanzkrise längst in eine schwere politische Legitimations- und Reg(ul)ierungskrise umgeschlagen ist.
Sachzwänge sind auch nicht immer zwingend
Es wundert nicht, dass da keine Europabegeisterung aufkommt und rechte Populisten ihr frustriertes Publikum finden. Das Projekt Europa steht auf der Kippe, weil es den Sachzwängen des Marktes und der Gewalt des Geldes ausgeliefert wurde. Jaques Delors, einer der großen Kommissionspräsidenten, stellte in den 1980er Jahren die Frage: „Wer kann sich in einen Binnenmarkt verlieben?“ Das Brüsseler und Berliner Spardiktat taugen gewiss nicht als Liebestrank. Zwar ist eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung noch immer für die Euro-Währungsunion (52 Prozent waren es im Mai 2012) aber inzwischen sind 40 Prozent dagegen. Und nur 40 Prozent glauben, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln (32 Prozent glauben das Gegenteil).
Die Skepsis ist verständlich. Denn Ende Juni 2012 haben die Euroländer beschlossen, dass ESFS und ESM die Banken direkt stützen können und nicht indirekt über die jeweilige Regierung – auch wenn dies von Bundesfinanzminister Schäuble bestritten wird. Auf einmal hat die Transferunion für Merkel und die ihren als ESM den Schrecken verloren. „Systemrelevante“ Banken zu stützen ist eine gute Tat – die Stützung von Sozialstaaten hingegen nicht. Das Defizit im staatlichen Sekundärbudget, in dem der Schuldendienst verbucht wird, ist tolerabel, weil im Primärbudget der normalen Staatseinnahmen und -ausgaben durch Austerität ein Überschuss erzielt wird. Dabei sei daran erinnert, dass ESM bis vor Kurzem nicht für den „Europäischen Stabilitätsmechanismus“, sondern für das „European Social Model“ stand. Aber das ist offenbar im Orwell’schen Gedächtnisloch verschwunden. Ach Europa!
Der Staat justiert die makroökonomischen Größen so, dass Verluste der privaten, der mikroökonomischen Zocker minimiert werden. Die Buchungen im Staatshaushalt sind aber kein Glasperlenspiel. Sie verändern die Einkommensströme und die Lebensverhältnisse von Individuen und sozialen Gruppen und Klassen. Da diese ungleichmäßig betroffen sind, kommt es zu Konflikten. Das ist nicht neu. Wir erleben es derzeit in Griechenland, in Spanien, Irland oder Italien und anderen Ländern des krisengeschüttelten Euroraums.
Der weise Staatsmann Solon versuchte die Auseinandersetzungen in Athen zu Beginn des 6. Jahrhunderts durch eine „Lastenabschüttelung“ (seisachtheia) zu schlichten. An einem Schuldenerlass ging im antiken Athen kein Weg vorbei, weil sich die übermäßig verschuldeten kleinen Bauern und Handwerker in die Sklaverei selbst verkaufen mussten, um die Schulden zu begleichen und ihren Familien einen Neuanfang zu ermöglichen.
So kann kein gerechtes Gemeinwesen entstehen. Ein Ausgleich zwischen den armen Schuldnern und den reicheren Gläubigern war notwendig, die unerträglichen Lasten mussten abgeschüttelt werden. Das ist im modernen Athen und in Europa insgesamt im Prinzip nicht anders. Die „Lastenabschüttelung“ kann im Rahmen eines Schuldenaudits – eine Art Insolvenzverfahren für Staaten – geregelt werden, das eine gerechte Verteilung der Verluste regeln soll. Was im antiken Athen gelungen ist, müsste auch heute im modernen Athen und in den von der Finanzkrise gebeutelten Staaten EU-Europas gelingen.
Statt mit „Lastenabschüttelung“ versucht es EZB-Chef Mario Draghi mit Rettungsbooten namens „Wachstumspakt“. Ob die seetüchtig sind und die Europassagiere zu neuen Ufern tragen, ist völlig ungewiss. Die Idee dahinter ist einfach und auf den ersten Blick attraktiv: Die Schulden sollen aus einem wachsenden BIP schrittweise abgetragen werden. Zwar hat der Versuch, „aus den Schulden herauszuwachsen“, schon in der Schuldenkrise des Südens in den 1980er Jahren nicht funktioniert. Dennoch hoffen heute manche auf ein solches Erfolgsrezept – womöglich als „Green New Deal“ verkleidet, der die wachstumswirksamen Investitionen vor allem in ökologische Bereiche lenkt.7
In einer kapitalistischen Wirtschaft müssen sich jedoch auch grüne Investitionen rentieren. Ohne Profit kein Investitionsanreiz. Auch grüne Unternehmen werden versuchen, die Lohnstückkosten zu senken, die Arbeitszeiten auszudehnen und die Löhne und Gehälter zu drücken. Auch sie streben nach überlegener Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb. Sie verdrängen die weniger erfolgreichen Unternehmen und leisten ihren Beitrag zur Überproduktion. Der Versuch, die Krise zu überwinden, leitet also nur die nächste Krise ein.
Und nicht nur das. Die Krise greift auch auf Lebensbereiche jenseits der Ökonomie über. Denn selbst nachhaltiges Wachstum kommt nicht ohne Naturverbrauch aus. Nachdem „Peak Oil“ erreicht ist, mag das Angebot an Treibstoffen durch Rückgriff auf erneuerbare Treibstoffe aus Biomasse immer noch wachsen. Doch das verschärft nur die Konkurrenz um die Landnutzung. Auf Peak Oil folgt früher oder später „Peak Soil“. Diese Art der Überwindung der ökonomischen und finanziellen Krise führt unweigerlich zu einer Nahrungskrise, in vielen armen Weltregionen sogar zu einer Hungerkrise.
Wäre es da aus ökologischen und sozialen Gründen nicht viel eher geboten, statt der materiellen Produktion die öffentlichen Dienste auszuweiten? Gibt es nicht im Gesundheits- und Bildungswesen, bei der Betreuung von Kindern und älteren Menschen, in der Solidaritäts- und Bürgerarbeit, bei der Mediation von Konflikten oder der Gestaltung und Entwicklung des Gemeinwesens viele Investitionsgelegenheiten, die zudem Arbeitsplätze schaffen?
So ist es, nur müssten diese hohe Kompetenz verlangenden Aufgaben als öffentliche Nonprofitaktivitäten organisiert und entsprechend ausgedehnt werden. Sie sind kapitalistisch und profitabel nicht zu betreiben, es sei denn mit Subventionen, die aus dem Wachstum mithilfe der Steuereinnahmen abgezweigt werden müssten. „Degrowth“, die von Wachstumskritikern befürwortete Rücknahme des Wachstums, reicht allein nicht aus. Die Alternative zu Austerität und Wachstum verlangt also den Übergang in „postkapitalistisches“ Gelände. Die „Systemfrage“ lässt sich nicht vermeiden, sie liegt auf der Zunge.
Elmar Altvater ist Professor emeritus für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. Zuletzt erschien von ihm „Marx neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie“, Hamburg (VSA Verlag) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin