Gezerre um Galileo
Das Navigationssystem der EU hat viele Gegner
von Charles Perragin und Guillaume Renouard
Vom 3. bis 6. Dezember 2018 diente der Palais du Pharo in Marseille, ein Baudenkmal aus der Zeit des zweiten französischen Kaiserreichs, als Schaufenster für die europäische Raumfahrtpolitik. Im Rampenlicht der European Space Week stand das Satellitennavigationssystem Galileo. Wieder einmal wurde der baldige Start des „europäischen GPS“ gefeiert, das die Europäische Kommission vor fast 20 Jahren ins Leben gerufen hatte.
Für die Geolokalisierung gilt dasselbe wie für die Uhrenindustrie und die Optik: Durch Fortschritte bei der Genauigkeit lässt sich die Dienstleistungsqualität in immer mehr Bereichen deutlich steigern. Dies betrifft die Navigation von Luft-, Straßen-, Wasser- und Schienenfahrzeugen, die Steuerung und Verlaufskontrolle verschiedener Systeme (selbstfahrende Autos, landwirtschaftliche Maschinen, Raketen), die Kartografie sowie die Synchronisierung von Telekommunikationsnetzen oder von Bank- und Finanzsystemen, insbesondere für den Hochfrequenzhandel.
Seit zwei Jahren sind die ersten Dienste von Galileo in Betrieb. Und wenn 2020 oder 2021 alle 30 Satelliten des Programms in ihrer Umlaufbahn sind, könnten die Europäer über das beste Navigationssystem der Welt verfügen: Die für die Öffentlichkeit zugängliche horizontale Genauigkeit soll dann 1,8 Meter betragen1 (2,9 Meter Höhengenauigkeit), während der Wert des aktuellen GPS bei 4,9 Meter liegt.2 Darüber hinaus bietet Galileo Unternehmen einen als „kommerziell“ bezeichneten, jedoch ebenfalls kostenlosen und noch genaueren Service. Zudem kann der Zivilschutz weltweit auf die Anwendung „Suche und Rettung“ zugreifen, und bis 2023 soll auch ein militärischer Dienst verfügbar sein.
In Marseille betonte die Europäische Kommission den gemeinschaftlichen und zivilen Charakter des Programms und hob es damit von anderen Geolokalisierungs- und Navigationssystemen (Global Navigation Satellite Systems, GNSS) ab, bei denen Militärs das Sagen haben – wie dem US-amerikanischen GPS, dem russischen Glonass und dem chinesischen Beidou. Die Kommission schwärmte von einer wissenschaftlichen, von Humanismus geprägten, politische Identität vermittelnden Zusammenarbeit und von der Entstehung riesiger Märkte mit einem Volumen von vielen Milliarden Euro.
Obwohl bereits 22 Satelliten in ihren Umlaufbahn kreisen, sorgt Galileo hinter den Kulissen noch immer für Unruhe. Führungsprobleme, schlechte Businesspläne, riskante Entscheidungen der Kommission, nationale Egoismen, Industriekrieg – das europäische Satellitennavigationssystem hat schon mehrfach kurz vor dem Aus gestanden. Mittlerweile ist das Projekt bereits zehn Jahre im Verzug, während sich die Kosten verdreifacht haben und mindestens 13 Milliarden Euro betragen werden.3
Am Rednerpult im Palais du Pharo verbreitete Pierre Delsaux, stellvertretender Generaldirektor der EU-Kommission, vorsichtigen Optimismus. Im
Juni 2018 hat die Kommission beschlossen, von 2021 bis 2027 16 Milliarden Euro in die Raumfahrtindustrie zu investieren. Mehr als die Hälfte davon fließt in das Galileo-Projekt. Jetzt müssen aber noch der Europäische Rat und das Europaparlament überzeugt werden. „Die Branche ist einverstanden. An ihr ist es aber nicht, den Scheck zu unterzeichnen. Ohne dieses Geld geht gar nichts, ist es unmöglich, den besten GNSS-Dienst der Welt bereitzustellen“, so Delsaux.
Galileo, hieß es immer, sei zu teuer, um von einem einzigen Staat gestemmt zu werden. An ihm zeigen sich die Schwierigkeiten einer Union, der es an politischer Führung und einer klaren Strategie mangelt, eine groß angelegte Industriepolitik umzusetzen. Das Satellitennavigationssystem ist anfällig für Interessenkonflikte und nationale Egoismen, obwohl zwischenstaatliche Projekte (ohne Verbindung zur EU-Struktur) wie Airbus oder Arianespace große Erfolge gefeiert haben.
Galileo ist von Anfang an nicht klar definiert worden. Während das System aus Sicht einiger Akteure der geostrategischen Unabhängigkeit Europas dienen soll, möchten andere, dass es als einfaches Wirtschaftsprogramm behandelt wird. Alles begann 1996, als der frisch wiedergewählte US-Präsident Bill Clinton dem Pentagon einen Auftrag erteilte: Das US-Verteilungsministerium sollte innerhalb von vier Jahren das besonders präzise militärische GPS für zivile Anwendungen öffnen, ohne die nationale Sicherheit zu gefährden. Bis dahin konnte die Öffentlichkeit nur ein Signal nutzen, dessen Genauigkeit von der US-Regierung bewusst herabgesetzt worden war. Ab Mai 2000 verbesserte sich dann die Genauigkeit der unbeschränkt zugänglichen Positionsbestimmung von 100 Meter auf ungefähr 10 Meter. Dies revolutionierte die Geolokalisierung, die nun direkt genutzt werden konnte, um sich zu Fuß, im Auto oder auf einem Wasserfahrzeug zu orientieren und fortzubewegen.
Hinter dieser Initiative stand eine Vision, für die der damalige Vizepräsident Al Gore die Metapher „Informationsautobahn“ erfand. In einer vom Aufbruch ins Internetzeitalter geprägten Welt musste die schnelle Übertragung digitaler Daten über weite Entfernungen sichergestellt werden, um einen hohen kommerziellen Nutzen zu erzielen. Die Unternehmen und insbesondere die Flugzeugindustrie wollten vom Potenzial des GPS profitieren. Daher setzten sie die Clinton-Administration unter Druck, das im Kalten Krieg entwickelte mächtige (und kostspielige) militärische System zu einem Instrument weiterzuentwickeln, das es ermöglichte, die Stellung der USA als weltweit einzigartige Wirtschafts- und Industriemacht zu festigen.
Heute umfasst der Markt, der durch die satellitengestützte Geolokalisierung entstanden ist, nicht nur die mittlerweile überall – im Auto, Schiff, Telefon, Fotoapparat und so weiter – verbauten Empfänger. Es gibt vielmehr auch zahlreiche Anwendungen, die die Möglichkeit zur Echtzeitortung von Gegenständen und Lebewesen nutzen. Das Marktvolumen soll 2016 bereits die Marke von 23 Milliarden Euro übersprungen haben und könnte bis 2022 auf 84 Milliarden Euro steigen. 4
Europa beneidete die USA sehr schnell um ihre Technik. 1999 äußerten sich Abgeordnete der französischen Nationalversammlung in einem Informationsbericht zum Kosovokrieg besorgt über die zunehmende Zahl der vom GPS abhängigen militärischen Güter (Raketen, Flugzeuge), die somit „vollständig unter amerikanischer Kontrolle“5 stünden. 2001 entschied die Europäische Union, ein eigenes einheitliches Programm zu starten – und somit nicht auf zwischenstaatliche Kooperation zu setzen.
Das Vereinigte Königreich widersetzte sich dieser Idee. Aufgrund ihrer „Special Relationship“ mit den Amerikanern hatten die Briten kein Interesse, ein Konkurrenzsystem zum GPS aufzubauen. Sie fürchteten zudem eine Verschwendung öffentlicher Gelder. Washington war von der Idee ebenfalls nicht begeistert. Dass sich ein feindliches Land Zugang zu diesem sehr genauen Signal verschaffen und es zur Steuerung seiner Raketenwaffen nutzen könnte, beunruhigte das Pentagon. Zu dieser Zeit konnte es die Genauigkeit des zivilen GPS-Signals noch immer unilateral herabsetzen, was sowohl im Golfkrieg als auch im Kosovokrieg geschah. 6
Galileo sah sich denn auch bald einer sehr aggressiven Kampagne ausgesetzt. So schrieb der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz im Dezember 2001 einen Drohbrief, um die europäischen Regierungen einige Tage vor der entscheidenden Sitzung des EU-Rats von der Freigabe der ersten Gelder für das Programm abzuhalten. Er befand, dass eine zivile Leitung der sicherheitspolitischen Dimension eines Geolokalisierungsprogramms nicht gerecht werde und kritisierte, dass Galileo dasselbe Wellenspektrum nutzen sollte wie das GPS-Militärsignal. Wolfowitz sagte klar, es sei „im Interesse der Nato zu verhindern, dass die Entwicklung des künftigen Galileo-Signals innerhalb des GPS-Spektrums erfolgt“.7
Atomuhren im Weltall
Zunächst zeigte der Druck der USA Wirkung. Neben dem Vereinigten Königreich stellten sich auch Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich quer. „Galileo ist fast tot“, bemerkte Gilles Gantelet, der Sprecher von Loyola de Palacio, die damals als Vizepräsidentin der EU-Kommission für die Bereiche Verkehr und Energie und damit auch für das Galileo-Projekt verantwortlich war.8
Der EU verlegte sich nun auf eine Doppelstrategie: „Wir mussten ständig erklären, was Galileo nicht war. Den Briten und Amerikanern musste man sagen, dass es sich nicht um ein Militärprogramm handele. Gleichzeitig galt es, Frankreich zu versichern, dass Galileo nicht nur ein Handelsprojekt sei. Der Industrie mussten wir die Sache mit dem Argument schmackhaft machen, dass es nicht nur um die Souveränität der EU gehe und es einen echten Businessplan gebe, während wir den USA immer wieder das genaue Gegenteil sagen mussten“, so Xavier Pasco, der Direktor der Stiftung für Strategische Forschung (FRS). 2003 beschloss die EU schließlich, die Sendefrequenz zu ändern. Das Pentagon erhielt somit die Möglichkeit, das Galileo-Signal im Bedarfsfall zu stören, ohne das eigene GPS zu beeinträchtigen.
Die EU optierte nun für eine öffentlich-private Partnerschaft (PPP). Ein Drittel der Finanzierung wurde durch öffentliche Gelder gesichert, den Rest sollten private Kapitalgeber beisteuern. Diese mussten aber erst überzeugt werden. Hierzu schlug die Kommission vor, den Unternehmen Zugang zu einem genaueren, kostenpflichtigen Signal zu geben. „Die Kommission gab mehrere Studien in Auftrag, die zeigen sollten, dass Galileo einen enormen Geldsegen bescheren werde“, erinnert sich Pasco. „Die Industrie ließ sich aber nicht blenden. Das Programm war zu komplex. Es umfasste rund um den Globus postierte Bodenstationen sowie Atomuhren im Weltraum – Dinge, die nie zuvor realisiert worden waren.“ Letztendlich traten zwar Luft- und Raumfahrtriesen wie Thales oder EADS in die PPP ein, investierten aber keinen Cent.
2007 zerbrach die PPP: „Die Kommission musste den privaten Partnern als Ausgleich für die finanziellen Unwägbarkeiten so viele Garantien geben, dass die PPP keinen Sinn mehr machte“, sagt Weltraumrecht-Experte Frans von der Dunk, der damals als Berater tätig war. 2009 prangerte der Europäische Rechnungshof die „unrealistische PPP“ an und sprach von einem Programm „ohne Führung“9 . Kurz nachdem ein Testsatellit ins All geschickt wurde, stand die Beendigung von Galileo somit erneut im Raum.
In seinem Bericht warf der Rechnungshof den EU-Mitgliedstaaten vor, nur das „Interesse ihrer nationalen Industrien“ unterstützt und „Beschlüsse blockiert“ zu haben, was zu „Umsetzungsproblemen, Verzögerungen und letzten Endes zu Kostenüberschreitungen“ geführt habe.
Ein Beispiel hierfür sind die Programme der Europäischen Weltraumorganisation (ESA), die jedem beteiligten Land für seinen Einsatz Aufträge in vergleichbarer Höhe gewährleisten. Dagegen verlangen die EU-Vorschriften einen „freien und unverfälschten Wettbewerb“. Länder wie Deutschland und Frankreich, die 2004 als Hauptgeldgeber der Gemeinschaft 22,8 beziehungsweise 17,6 Prozent des Haushalts finanzierten, waren aber natürlich nicht dazu bereit, sich die lukrativen Galileo-Industrieverträge durch die Lappen gehen zu lassen.
Damit Galileo nicht seine großen Beitragszahler verlor, musste die EU mehrfach ihre eigenen Regeln verletzen. Vor dem Scheitern der PPP im Dezember 2005 handelte der damalige EU-Kommissar für Wettbewerbspolitik, Karel Van Miert, ein Abkommen aus, das nur wenig mediale Beachtung fand. Es wurde hinter den Kulissen der europäischen Institutionen als „Jalta-Abkommen für die Raumfahrt“ bezeichnet und enthielt neben Ausschreibungen Regelungen zur Verteilung wichtiger Infrastruktureinrichtungen. Mit einem orthodoxen Marktliberalismus waren diese kaum zu vereinbaren.
Deutschland und Italien wurde jeweils ein Kontrollzentrum zur Steuerung der wichtigsten Operationen zugeschlagen. Das Vereinigte Königreich erhielt ein Sicherheitszentrum, während Spanien ein Bodenzentrum für die Bereitstellung eines spezifischen, insbesondere für die Flugsicherheit nützlichen Signals zugeteilt wurde. In Frankreich sollte der Konzessionär der PPP sitzen. Doch nach deren Scheitern schaute das Land in die Röhre.
Ab 2007 versuchte die EU, das Programm ausschließlich mit öffentlichen Geldern wieder in Gang zu bringen. Der fortdauernde Kampf der Mitgliedstaaten um einen möglichst hohen Anteil für ihre jeweiligen Industrien brachte umfangreiche Verzögerungen mit sich. Um die Regierung in Berlin zu besänftigen, musste sich die Kommission ein ausgefeiltes Ausschreibungssystem einfallen lassen. Es sollte verhindern, dass sich die großen Beitragszahler benachteiligt fühlten.
„Diese Aufteilung war für die weitere Entwicklung des Programms entscheidend“, erinnert sich ein früherer leitender Angestellter von Thales, der heute an der Programmdurchführung beteiligt ist. „Von Anfang an verzichteten wir bei bestimmten Verträgen darauf, die industrielle Stärke Europas auszuschöpfen, um Deutschland einen Gefallen zu tun. Der Thales-Konzern, der an drei Ausschreibungen teilnehmen konnte, musste sich einschränken und beispielsweise den Satellitenbau fallen lassen.“ Mit dem Ergebnis, dass das deutsche Technologieunternehmen OHB 2010 das beste Angebot für den Bau der Satelliten abgab.
„Das Angebot von OHB sah sehr gut aus. Gleichzeitig wusste jeder, dass sein Zeitplan unrealistisch, ja unmöglich einzuhalten war“, sagt Michel Iagolnitzer, der ehemalige Vorsitzende des Ausschusses für die Sicherheitsakkreditierung. Diese Instanz wurde eigens zu dem Zweck gegründet, um die Mitgliedstaaten in Sicherheitsfragen zu vertreten. Ironie des Schicksals: 2013 mussten die Europäische Kommission und die ESA OHB unter die Arme greifen, indem sie andere Industriekonzerne wie Thales hinzuzogen.
Mehrere Begebenheiten zeigen, dass es der EU-Kommission mit Blick auf Galileo an langfristigem Denken fehlt. So wurden beispielsweise 2016 Satelliten vom Raumfahrtzentrum Guayana nicht mit der europäischen Trägerrakete Ariane 5 in den Weltraum geschossen, sondern mit der damals günstigeren russischen Sojusrakete. „Wir mussten zusätzliche Prozesse einführen, um den Start abzusichern. Schwerer wiegt aber, dass die Russen in der Folge ihr Monopol ausnutzten, um die Preise in die Höhe zu treiben“, so Iagolnitzer.
Angesichts derartiger strategischer Defizite schalteten sich Vertreter der nationalen Exekutiven immer wieder ein, um der Kommission den Weg zu versperren. So wollte 2010 die für den Satellitenbau zuständige deutsche Firma OHB die Herstellung der Sonnensegel an einen günstigen, aber wenig erfahrenen chinesischen Subunternehmer delegieren. Prompt trat ein belgischer Lieferant, der sich den Vertrag sichern wollte, mit der Unterstützung der belgischen Regierung auf den Plan. Die Kommission ergriff in dem Industriestreit zunächst für die deutsche Seite Partei, bevor sie zurückruderte – aufgrund der Erkenntnis, dass der chinesische Vertragspartner offensichtlich nicht über alle Zweifel erhaben war.
Der Aufbau des weltweiten Netzes von Bodenstationen, die in ständiger Verbindung zur Satellitenkonstellation stehen, ist ein weiteres Beispiel. Der Europäische Rat ging sogar so weit, der Kommission erstmals in ihrer Geschichte das Misstrauen auszusprechen, um die Installation von Bodenstationen in Staaten außerhalb der EU-Grenzen zu verhindern. „Einige dieser Länder verlangten einen offenen Echtzeitzugang zu den als geheim eingestuften, verschlüsselten Daten, die über ihr Territorium übermittelt werden sollten. „Da wurde dann Stopp gesagt“, erinnert sich Iagolnitzer.
Noch problematischer ist der starke politische Druck, der hinter den Kulissen auf der Europäischen Kommission lastet. 2015 beschloss sie, zwei Ausschreibungen durchzuführen: eine für die Herstellung der dritten Satelliten-Serie und eine weitere für die Betriebsleitung der beiden Kontrollstellen, welche die Kommission Deutschland und Italien 2005 im Rahmen des erwähnten Van-Miert-Abkommens angeboten hatte. Am 30. Juli 2015 schickte Michael Odenwald, damals Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium und CDU-Mitglied, eine kaum verhohlene Warnung an die Adresse Brüssels. Er forderte die Kommission zur Korrektur ihrer Vorlage auf. Im Falle eines Verlusts der Führungsverantwortung Deutschlands für die auf seinem Territorium eingerichteten Kontrollstellen würden diese den ausländischen Konkurrenten nicht gratis zur Verfügung gestellt werden.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass nicht nur OHB Ende 2016 den Zuschlag für den mehr als 300 Millionen Euro schweren dritten Vertrag zum Bau der Satelliten erhielt, sondern Deutschland und Italien zudem die Ausschreibung der Betriebsleitung der auf ihren jeweiligen Staatsgebieten installierten Infrastruktureinrichtungen gewannen. Den Auftrag mit einem geschätzten Volumen von 1,5 Milliarden Euro sicherte sich das deutsch-italienische Unternehmen Spaceopal (Firmenmotto: „We make Galileo fly“). Eutelsat, ein konkurrierendes europäisches Firmenkonsortium, erhob wegen zahlreicher Ungereimtheiten im Ausschreibungsverfahren Beschwerde beim Gerichtshof der EU. Das Verfahren läuft noch.
Die mangelnden Kompetenzen der Kommission und die ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen haben unweigerlich zur Herausbildung eines äußerst komplexen Führungssystems geführt. Theoretisch ist die Kommission für die politische Leitung des Galileo-Programms zuständig, während die ESA für die technischen Aspekte verantwortlich zeichnet. Die eigens für Galileo gegründete Agentur für das Europäische GNSS (GSA) soll den betrieblichen Part übernehmen. In der Praxis führt aber jede neue Programmphase zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten. Um diese Blockaden zu lösen, setzt die EU auf verschwommene Bestimmungen, die Raum für Absprachen hinter den Kulissen lassen – und für endlose Diskussionen. So gibt es beispielsweise keine präzisen Regeln, um die erforderliche Kooperation zwischen der Kommission und der ESA in geordnete Bahnen zu lenken.
Der Mangel an klarer Führung könnte die Signalverwendung konkret behindern. „Stellt ein Unternehmen, das das Galileo-Signal nutzt, einen Fehler fest, muss dessen Meldung eine ganze Reihe von Instanzen durchlaufen – darunter die ESA, die Kommission sowie eine spezielle Sicherheitsbehörde. Das ist sehr kompliziert und behindert die Reaktionsfähigkeit“, unterstreicht Serge Plattard, der Gründer des Europäischen Instituts für Weltraumpolitik.
Schon während die Industrie ihre Instrumente größtenteils mit kompatiblen Empfängern ausrüstet und das offene Signal in Betrieb ist, stellt die Programmführung die Nutzer vor Probleme, wie ein leitender Mitarbeiter der französischen Aufsichtsbehörde für zivile Luftfahrt (Direction générale de l’aviation civile) anonym zu Protokoll gibt: „Kürzlich haben wir auf eine Schwachstelle, ein Ausfallrisiko der zur Verfügung gestellten Signale hingewiesen. Das Problem wurde nie angegangen! Die ESA ist informiert worden und hat nichts getan. Sie hat sich hinter dem Argument versteckt, man habe sie nicht speziell darum ersucht, sich um diese Schwachstellen zu kümmern. Für eine Organisation, die sich immer über ihren mangelnden Handlungsspielraum beschwert, ist das unerhört!“
Obwohl 2014 zwei Satelliten in eine falsche Erdumlaufbahn gebracht wurden und Ende 2016 die Atomuhren von einer ganzen Pannenserie eingeholt wurden, steht Galileo kurz vor seiner Vollendung. Und das Projekt ist unbestritten ein technologischer Erfolg. Nach Schätzungen des CNES nehmen bereits heute mehr als 700 Millionen Nutzer den offenen Dienst in Anspruch. Viele Privatpersonen wissen gar nicht, dass ihr Telefon oder Auto auf dieses Netzwerk zugreift und sie an den richtigen Ort lenkt. Selbst wenn das Signal noch nicht optimal funktioniert, ist es laut Le Gall doch „schon besser als GPS“. „Mit Galileo wissen Sie nicht nur, in welcher Straße Sie sich bewegen, sondern auch, auf welchem Gehsteig“, betont er gern.
Die Genauigkeit von Galileo mag einem normalen Autofahrer wenig bringen, könnte in industriellen Anwendungen rund um Spitzentechnologien wie das autonome Fahren aber entscheidend sein. Der seit zwanzig Jahren existierende, mit zweistelligen Wachstumsraten boomende Markt für Applikationen braucht diese ultragenaue Geolokalisierungstechnologie unter anderem zur Entwicklung von Spielen, für die Augmented Reality, für Sportler-Apps, die sozialen Netzwerke und das Geomarketing. Die Amerikaner wollen sich übrigens nicht so einfach abhängen lassen. Sie profitieren von den Problemen des Projekts, das Europa eigentlich einen Vorsprung verschaffen soll. Ihr GPS III, das eine vergleichbare Genauigkeit bietet, soll im März 2023 betriebsbereit sein.
In diesem Wettstreit um das beste Signal stellt der Brexit eine neue große Herausforderung dar. Nachdem die Briten ihre anfänglichen Vorbehalte gegen Galileo aufgegeben hatten, brachten sie sich intensiv in das Projekt ein. Sie finanzierten 12 Prozent des Budgets und erhielten 15 Prozent der Aufträge – insbesondere für den Bau der Nutzlast, also den intelligenten Teil der Satelliten. Darüber hinaus sind sie sehr stark in die Bereitstellung des verschlüsselten, ultrapräzisen Signals für militärische Anwendungen involviert. Im Falle eines Brexit verlören sie gemäß der von ihnen selbst mitbeschlossenen Galileo-Ausschreibungsregeln die Verträge für diesen Dienst. David Davis, der bis Juli 2018 britischer Brexit-Minister war, bemerkt bitter: „Die Kommission schießt sich selbst ins Knie.“ Ohne die britischen Unternehmen würde Galileo seiner Ansicht nach nochmals um „bis zu drei Jahre in Rückstand geraten“ und „mehrere Milliarden an Zusatzkosten“ verursachen.10
Andere treffen schon Vorkehrungen, wie Bowen erklärt: „Das mit der Herstellung der Nutzlast befasste britische Unternehmen SSTL gehört zu Airbus. Der Konzern hat bereits damit begonnen, einen Teil seiner mit Galileo verbundenen Geschäftstätigkeit aus Großbritannien weg zu verlagern. Thales und OHB stehen bereit, um in die Bresche zu springen, und umwerben die SSTL-Mitarbeiter. Verzögerungen und Mehrkosten sind absehbar.“ London beklagt einen verkappten Handelskrieg. „Der Marktanteil des Vereinigten Königreichs wird attackiert. Alle möchten sich daran gesundstoßen“, sagte vor einem Jahr Richard Peckham, der Vorsitzende von UKspace, dem Wirtschaftsverband der britischen Raumfahrtindustrie. 11
Eine der beiden größten europäischen Armeen (neben Frankreich) läuft nun Gefahr, nicht auf das Galileo-Präzisionssignal zugreifen zu können. Angesichts eines möglichen Ausschlusses spielen die Briten sogar mit dem Gedanken, ihr eigenes System zu bauen. Nach der Europawahl steht im Herbst die Verabschiedung des Galileo-Haushalts für den Zeitraum von 2021 bis 2027 an. Ein großer Beitragszahler wird dann wahrscheinlich fehlen. Und das neue Parlament wird der Raumfahrtstrategie so keine Priorität mehr einräumen können.
6 „ICTs, E-commerce and the Information Economy“, OECD Publishing, Paris, 7. März 2000.
8 Steve Kettmann, „Europe GPS plan shelved“, Wired, San Francisco, 17. Januar 2002.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Charles Perragin und Guillaume Renouard sind Journalisten und gehören dem Collectif Singulier an.
Satellite of War
Bei einer Konferenz über die militärische Nutzung des Weltraums stellte die EU-Industriekommissarin Elżbieta Bieńkowska im Januar 2019 die Schaffung einer „gesicherten öffentlichen Infrastruktur“ in Aussicht, um die strategischen und militärischen Fragen Europas anzugehen. Bis 2023 sollen die europäischen Armeen dank Galileo bei zahllosen Anwendungen, die heute vom amerikanischen GPS abhängen, auf eigenen Füßen stehen. Die Geolokalisierung, die Datenübertragung, der Nachrichtendienst, die Rettung aus entlegenen Gebieten und die Durchführung von Präzisionsschlägen sind nur einige Beispiele hierfür. „Galileo erhöht die Selbstständigkeit der europäischen Armeen durch die Bereitstellung von militärischen Ressourcen, die nicht von Washington kontrolliert werden“, so Bleddyn Bowen, Experte für Raumfahrt an der Universität Leicester. Die US-Amerikaner nutzen Galileo ebenfalls mit Multikonstellationsempfängern, die das US-System ergänzen bzw. notfalls unterstützen. Letzteres soll aber nach dem Willen Washingtons das Referenzsystem bleiben.
„Das Geolokalisierungssystem ist nicht alles. Wir müssen die Konnektivität im weiteren Sinne betrachten“, meint Olivier Zajec, Dozent für Politikwissenschaften an der Universität Jean-Moulin Lyon III. „Zum Beispiel kaufen einige europäische Länder wie Italien, das Vereinigte Königreich oder die Niederlande nach wie vor US-Kampfjets vom Typ F-35. Diese Flugzeuge funktionieren mit GPS, setzen ein von den USA kontrolliertes Informationsübermittlungssystem ein und beruhen auf US-Normen. Kann man da wirklich von Selbständigkeit sprechen, wenn man sensible Informationen über amerikanische Server austauscht?“
Für den Wissenschaftler ist das „Future Combat Air System“ (FCAS) die Nagelprobe für die europäische Souveränität. Dieses große europäische Programm stützt sich auf ein neues Jagdflugzeug, das als fliegendes Informationszentrum konzipiert und mit ganz unterschiedlichen Systembestandteilen verbunden ist, darunter auch Drohnen. „Haben europäische Akteure bei der Konnektivität die Fäden in der Hand? Wenn ja, stellt sich die Frage: Welche Regeln befolgen wir künftig innerhalb der Nato? Diese dem Anschein nach technische Fragen haben große politische Bedeutung.“