Die Herren von New Brunswick
Seit Jahrzehnten kontrolliert der Familienkonzern Irving das ökonomische und politische Leben in der kanadischen Seeprovinz
von Alain Deneault
Von ihrem Firmensitz in der Provinz New Brunswick aus herrschen die Irvings. Im Laufe von Jahrzehnten hat der kanadische Mischkonzern in vielen Bereichen ein Monopol geschaffen und kommt in fast allen Branchen ohne Partner und fremde Zulieferer aus.
Mit seiner Erdölraffinerie in Saint John – der größten des Landes – versorgt Irving Oil zum Beispiel den gesamten Nordosten Nordamerikas von Neufundland bis Neuengland. Das Familienunternehmen besitzt eigene Züge, eine Reederei und einen riesigen Fuhrpark. Die mit firmeneigenem Benzin betankten Lkws liefern die Agrarprodukte und die Zeitungen aus den Irving’schen Bauernhöfen und Druckereien aus.
Irving Kent Homes ist eine der größten Hausbaufirmen Kanadas. Die Bauteile aus Holz, Stahl und Beton stellt die Firma selbst her. Wälder, Sägewerke, Fabriken für Zellstoff, Papier und Verpackungsmaterial, eine Schiffswerft, ein Linienbusnetz, Autohäuser, ein Paketdienst, eine Restaurantkette, eine Hockeymannschaft, eine Eisenwarenhandels- sowie eine Apothekenkette: Dem Familienkonzern gehören etwa 200 Unternehmen mit einem Gesamtkapital von umgerechnet mehr als 6 Milliarden Euro.
Auch in der Politik mischen die Irvings mit, und das beileibe nicht nur als Wohltäter. In New Brunswick prangt das Irving’sche Firmenlogo auf fast jeder Sportanlage, jedem Museum oder Forschungszentrum. Das geht inzwischen so weit, dass der Name der Provinz mit dem der Familie gleichgesetzt wird: Willkommen in „Irvingien“!
Die Irvings kontrollieren alle englischsprachigen Zeitungen, die in New Brunswick produziert werden. Nur die französischsprachige Tageszeitung L’Acadie Nouvelle ist redaktionell unabhängig, doch auch ihre Druckerei gehört den Irvings, ebenso einige lokale Radio- und Fernsehsender sowie Hochschulverlage. Das Ganze grenzt schon an Realsatire. So geben die konzerneigenen Medien in allen Bereichen, in denen sich die Familie Irving engagiert, ausschließlich deren Positionen wieder.1 Als im Herbst 2018 bei einer Explosion auf dem Gelände der Erdölraffinerie in Saint John offiziell nur vier Personen verletzt wurden, äußerte ein Arzt Zweifel an der Darstellung des Unternehmens.2
Allerdings kommt es nur selten zu solchen Anschuldigungen. Nicht ohne Grund fürchten sich Professoren, Beamte und Abgeordnete vor dem langen Arm der Irvings. In der Provinzhauptstadt Fredericton verlor zum Beispiel die Beauftragte für öffentliche Gesundheit Eilish Cleary ihren Job, nachdem sie Nachforschungen zum Gebrauch von Glyphosat in den Irving’schen Forstbetrieben in Auftrag gegeben hatte.
Der Biologe Rod Cumberland, der früher im Ministerium für Energie und natürliche Ressourcen arbeitete, und der Forstwirtschaftsprofessor Tom Beckley von der University of New Brunswick gerieten ebenfalls erheblich unter Druck, als sie sich mit den Auswirkungen des Pestizids auf die regionale Fauna und die undurchsichtige Gesetzgebung in Sachen Waldwirtschaft beschäftigten.3
Der Aufstieg des Familienimperiums begann mit Kenneth Colin Irving (1899–1992), einem strenggläubigen Protestanten. Wie Rockefeller, nur in kleinerem Maßstab, stieg Irving zuerst in die Ölbranche ein, bevor er in Holz, Stahl und große Verbrauchermarktketten investierte. Der alte Irving galt als knallharter Geschäftsmann mit guten Verbindungen in die Politik. Erst nach Kenneth’ Tod übernahm James, der älteste von drei Söhnen, die Leitung des Zeitungsverlags der Brunswick News und der J. D. Irving Limited (Holzverarbeitung, Papier und Verpackung).
Der erste Konzern mit Filialen im Steuerparadies
Der größte Arbeitgeber in Ostkanada hat eine ganze Region von sich abhängig gemacht. Keine Anti-Trust-Maßnahme kann dem Konzern Einhalt gebieten. Er ist einer der fünf größten Landbesitzer Nordamerikas. Und weil die einzelnen Firmenzweige nicht an der Börse notiert sind, sickern kaum Informationen an die Öffentlichkeit.
Als Arbeitsplatzbeschaffer profitiert Irving von zahlreichen Steuerbefreiungen und erhält sogar staatliche Subventionen, etwa im Rahmen eines Programms zur Förderung erneuerbarer Energien. Das hat unter anderem dazu geführt, dass der öffentliche Stromversorger für die alternative Energiegewinnung den Irving’schen Sägewerken zu exorbitanten Preisen Sägespäne abkauft.
Die Provinz New Brunswick hat auch die Bewirtschaftung und Pflege ihrer großartigen Waldbestände mehr oder weniger an die Irvings abgetreten. Die damit verbundenen Auflagen wurden nach und nach reduziert. So hat etwa die Provinzregierung in ihrem letzten, 2014 herausgegebenen Handbuch zum Forstmanagement die vorgeschriebene Pufferzone zwischen Wald- und Wohngebieten verkleinert; Kahlschlag ist inzwischen auch erlaubt, das geplante Produktionsvolumen wurde erhöht und der Anteil von Naturschutzgebieten von 31 auf 22 Prozent gesenkt.4 Durch solche Änderungen macht der Gesetzgeber das Land für den Konzern zu einer regelrechten Freizone: Sogar die Vorschriften zum Schutz der natürlichen Ressourcen können nur mit dem Einverständnis des Unternehmens geändert werden.5
Auch im US-Nachbarstaat Maine üben die Irvings massiven Druck aus. Dort profitieren ihre Unternehmen ebenfalls von besonderen Ausnahmeregelungen, sodass manche schon warnten, Maine könne sich zur „neuen Kolonie der Irvings“ entwickeln.6 Die Familie hat ihre Beziehungen spielen lassen, um ein Referendum zum Verbot von Kahlschlag und ein Gesetzesvorhaben zur Rechenschaftspflicht zu kippen. Dabei wurde sie auch von den kanadischen Behörden unterstützt.
Das Unternehmen hat es zudem auf die Gold- und Kupfervorkommen im Aroostook County abgesehen. Als Umweltschützer die Befürchtung äußerten, dass beim Rohstoffabbau am Bald Mountain Schwefelsäure und Arsen ins Grundwasser gelangen könnten, wischte einer der Irving-Söhne die Bedenken mit Floskeln über die hohen Sicherheitsstandards des Konzerns beiseite.7
In den 1960er Jahren war der Konzern einer der ersten, der Briefkastenfirmen in Steuerparadiesen anmeldete, über die konzerninterne Transaktionen verrechnet wurden. Die Bermudafiliale erwarb zum Beispiel Rohöl, das sie anschließend an eine kanadische Niederlassung teuer weiterverkaufte, um den Gewinn ins Steuerparadies zu verlagern. Seit fast sechs Jahrzehnten leisten die kanadischen Gesetzgeber und Gerichte solchem Handeln Vorschub und lassen es zu, dass die Irvings dem Staatshaushalt ihren Beitrag vorenthalten.8
Übrigens schätzte der Patriarch sein Steuerparadies so sehr, dass er selbst auf die Bermudainseln zog. Als einziger Aktionär seines Mischkonzerns führte er seine Geschäfte aus der Ferne, mit Unterstützung seiner Söhne in Kanada, die offiziell als einfache Manager für die Firma arbeiteten.
Don Bowser, ein Experte für politische Korruption, war verblüfft, als er feststellte, dass trotz der immensen Mittel, die New Brunswick in die Nutzung natürlicher Ressourcen steckt, die Provinz in Sachen Informationsfreiheit, Transparenz und Teilhabe schlechter dasteht als etwa Guatemala oder Sierra Leone.9
Während NGOs im globalen Süden aufdecken, welche Gelder von den rohstofffördernden Unternehmen an die Regierungen fließen, erfahren die Bürger der kanadischen Provinz weder, wie viel Steuern, Abgaben und Gebühren das größte Unternehmen ihres Landes zahlt beziehungsweise nicht zahlt, noch, in welchem Umfang es staatliche Hilfen erhält. „Ich glaube nicht, dass Politik und Wirtschaft sich vermischen. New Brunswick ist zu klein für die Politik“, erklärte Kenneth Colin Irving bereits in den 1970er Jahren, um den Vorwurf direkter politischer Einflussnahme abzuschmettern.10
Unter allen Premierministern von New Brunswick zeigte sich nur der von 1960 bis 1970 regierende Louis Robichaud besorgt über den Einfluss der Irvings – die ihm gleichwohl, ebenso wie seinen Vorgängern und Nachfolgern, geholfen hatten, an die Macht zu kommen.
Robichaud konnte zwar eine Wahl gewinnen ohne die stillschweigende Unterstützung von Irving, schreibt sein Biograf Michel Cormier. Aber er hätte keine Chance gehabt, hätte sich der Firmenpatriarch offen gegen ihn gestellt.11 Es kam auch vor, dass sich der Patriarch vor den Parlamentariern als Generalgouverneur aufspielte und damit drohte, die Provinzregierung „dichtzumachen“.12
Der aktuelle Premierminister von New Brunswick, Blaine Higgs, der eine Minderheitsregierung anführt, hatte früher eine leitende Funktion im Irving-Konzern inne und arbeitete mehr als 30 Jahre im Ölgeschäft. Seit seinem Amtsantritt 2010 wirbt er unverhohlen für einen Zusammenschluss der Holz- und Erzmärkte im Osten Kanadas und im Nordosten der USA. Und er unterstützt den Plan einer Ölpipeline quer durch Kanada vom Ölstaat Alberta bis zur Raffinerie der Irvings. Das macht auch ein dringliches Problem in den kanadischen Seeprovinzen deutlich: Die dortigen Abgeordneten verhalten sich oft eher wie Lobbyisten als wie Vertreter des Volkes.
7 Bruce Livesey, „The Irvings’ Invasion of Maine“, National Observer, 21. Juli 2016.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Alain Deneault ist Mitglied des Collège International de Philosophie und Autor von „De quoi Total est-elle la somme“, Paris/Montréal (Rue de l‘échiquier/Écosociété) 2017.