Spanien wählt – Podemos ist gespalten
Bei den spanischen Parlamentswahlen am 28. April tritt Podemos wieder gemeinsam mit der Vereinigten Linken unter dem Namen Unidas Podemos an. Diesen Zusammenschluss setzte Parteichef Iglesias vor den Wahlen 2016 gegen seinen Cheftheoretiker Errejón und einen großen Teil der Parteibasis durch.
von José António García Simon und Jaime Vindel
Vor fünf Jahren wollte sie Spanien und den Himmel erobern: Die Partei Podemos („Wir können“) versprach eine neue Art, über Politik zu sprechen und Politik zu machen. Heute glaubt niemand mehr an den schnellen Durchbruch, und die Partei droht sich einem Politikbetrieb anzupassen, den sie einst in Bausch und Bogen verdammt hat.
Als Podemos am 17. Januar 2014 die politische Bühne betrat, wollte die Partei die Forderung nach „echter Demokratie“ weitertragen, der die „Indignados“ (Empörten) seit dem 15. Mai 2011 auf den großen Plätzen des Landes Gehör verschafft hatten. Von diesem Movimiento 15-M stammte ein breites Spektrum an Schlagworten und Ideen, die einen gemeinsamen Nenner hatten: die Infragestellung der politischen und, weniger klar, auch der wirtschaftlichen Ordnung, die sich seit der Ablösung der Franco-Diktatur durch eine liberale Demokratie herausgebildet hatte.
Bei 15-M gab es im Großen und Ganzen zwei Strömungen: Die eine wollte das System erneuern, die andere hatte weiter gehende Ambitionen und wollte einen grundlegenden sozialen Wandel. Reform oder Transformation: „Die Spannung zwischen diesen beiden Optionen zeigte sich auch in den Diskussionen innerhalb der Partei“, erklärt Brais Fernández, Mitarbeiter der Zeitschrift Viento Sur und Mitglied der trotzkistischen Gruppe Anticapitalistas, die maßgeblich an der Gründung von Podemos beteiligt war.
In den Straßendemos und Platzbesetzungen der 15-M artikulierte sich auch die Frustration einer Mittelschicht, die nach der Finanzkrise 2008 keinen Ausweg sah. Die regierende Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE), die in der Zeit der transición, des Übergangs zur Demokratie, 1978 die wichtigste Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen war, schlug angesichts der Krise einen harten Sparkurs ein. Um „die Haushaltsstabilität zu garantieren“, ging sie im August 2011 so weit, die sogenannte Schuldenbremse im Artikel 135 der spanischen Verfassung festzuschreiben.
Bei den Wahlen vom November 2011 erhielt die PSOE prompt die Quittung: Sie verlor im Vergleich zur letzten Wahl im März 2008 ein Drittel ihrer Wähler. Damit konnte die rechtskonservative Partido Popular (PP) unter Mariano Rajoy mit absoluter Mehrheit regieren. Dass auch sie die Staatsausgaben weiterkürzte, war für die Indignados ein zusätzlicher Beweis dafür, dass die Demokratie in Spanien nicht mehr funktionierte.
Aus dieser Unzufriedenheit konnte Podemons politisches Kapital schlagen.1 Unter Führung der Politologen Pablo Iglesias und Íñigo Errejón wurde sie zur beliebtesten Partei der städtischen Wählergruppen. Insbesondere für Menschen zwischen 25 und 35 Jahren verkörperte Podemos mit jungen Gesichtern und einem respektlosen Stil exakt die neue Politik, die sie sich wünschten.
Populisten gegen Klassenkämpfer
Für die zweite, radikalere Strömung von 15-M waren vor allem die neuen Räume der Politisierung wichtig, die Versammlungen, die Zelte auf den besetzten Plätzen, und die neue Reichweite der Mobilisierung als Ausgangspunkt für eine grundsätzlichere Kritik des politischen und wirtschaftlichen Systems Spaniens. Aus der Ablehnung der politischen Klasse entsprang die Forderung nach einer Art direkter Demokratie mit der Möglichkeit, Abgeordnete wieder abzusetzen. Die Einrichtung von Stadtteilversammlungen schien ein gutes Mittel, um diese Ziele umzusetzen – und womöglich sogar die Grundlagen für eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der die Trennung zwischen politischer und ökonomischer Sphäre aufgehoben wäre.
Mit solchen Sympathisantenzirkeln wollte die Partei den Elan der Empörten und der Stadtteilversammlungen wiederbeleben, der sich 2014 schon etwas erschöpft hatte. Allerdings sah die Podemos-Führung mit Verdruss, dass diese Zirkel von den Anticapitalistas unterwandert wurden. Es begann der Prozess einer Konzentration der Macht, an deren Ende sich das von Iglesias geforderte Modell einer zentralistisch geführten Partei durchsetzte, worin die Zirkel nur noch wenig Einfluss besaßen.
Um für die Parlamentswahlen von 2015 zu mobilisieren, wurde ein Prozess der breiten Partizipation angestoßen, der vor allem online stattfand. Über Plattformen wie Appgree oder Reddit konnten die Nutzer debattieren, abstimmen und das Parteiprogramm mitentwickeln. Dieses Modell einer medialen Demokratie wurde ergänzt durch Pablo Iglesias’ eindrucksvolle Fernsehauftritte mit steigenden Einschaltquoten.
Auf der Linie eines linken Populismus2 betonte Podemos vor allem den Gegensatz zwischen den „kleinen Leuten“ und „der Kaste“ der Mächtigen, also der Wirtschaftsoligarchie und der Berufspolitiker. Damit wollte man das traditionelle Rechts-links-Schema aufbrechen. Die Finanzkrise und die Korruption des Establishments waren ihr Hauptargument im Kampf gegen das „Regime von 78“, womit die Podemos-Ideologen die aus der transicíon hervorgegangene Verfassung meinten.
Es gelang jedoch nur für kurze Zeit, die Grenzen zwischen rechts und links aufzulösen. Im Juni 2014 wünschte sich der Chef der Banco Sabadell, Josep Oliu, öffentlich „eine Art Podemos der Rechten“.3 Mit der Gründung und dem raschen Aufstieg der rechtsliberalen Partei Ciudadanos („Bürger“), bildete sich ab 2015 ein neues politisches Spektrum heraus, worin sich zwei Fronten überlagern: links (PSOE/Podemos) gegen rechts (PP/Ciudadanos) und neue Politik (Podemos/Ciudadanos) gegen alte Politik (PSOE/PP).
Die populistische Strategie, die Errejón entworfen und Iglesias eine Zeit lang mitgetragen hatte, kam in der Bevölkerung durchaus an. Dabei kritisierte Podemos auch die traditionelle Linke als verknöchert und unfähig, die Bewegung 15-M zu verstehen. Bei den Wahlen vom November 2011 kam der Kandidat der Vereinigten Linken (Izquierda Unida), zu der die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) gehört, nur noch auf 7 Prozent Stimmenanteil.
Allerdings machte die Podemos-Führung mit ihrer populistischen Masche den großen Fehler, auch gestandene linke Aktivisten als „elitistisch“ abzutun und ihre politischen Erfahrungen als Belastung zu sehen. Das erschwerte den Aufbau einer wirklich demokratischen Organisation im Sinne einer internen Kommunikation und Willensbildung, worin die verschiedenen Strömungen repräsentiert sein müssen.
Der populistische Eifer nährte in der Praxis ein großes Misstrauen gegen die aktive Parteibasis. Die Folge war, dass erfahrene Parteikader zu reinen Vollzugsorganen wurden, die nur noch die Entscheidungen einer charismatischen Führung umzusetzen hatten. Es entwickelte sich ein Typ von Cäsarismus, der jegliche Diskussion durch Onlineabstimmungen abwürgte.
Die Zusammenarbeit zwischen Parteichef Iglesias und der Nummer zwei Errejón klappte bis zu den Wahlen im Juni 2016. Dann tat sich Iglesias trotz der Vorbehalte des Parteisekretärs mit der Izquierda Unida zu dem neuen parlamentarischen Block Unidos Podemos („Gemeinsam können wir“)4 zusammen. Damit sollte die PSOE als stärkste linke Kraft abgelöst werden.
Das neue Bündnis war eine Neuauflage der eurokommunistischen Strategie, die in Italien der PCI in den frühen 1970er Jahre vorgemacht hatte. In Anspielung auf die Strategie des damaligen PCI-Generalsekretär Enrico Berlinguer sprach Iglesias mehrfach von einem „neuen historischen Kompromiss“5 . Podemos sollte auf das politische Programm der PSOE Einfluss nehmen, indem man die Möglichkeit einer Koalitionsregierung anböte, sich aber zugleich darauf vorbereiten, im geeigneten Augenblick selbst die Macht zu übernehmen.
Auf diese Weise wollte Iglesias die Logik der Koalitionspolitik und die Vertiefung der Klassenperspektive auf einen Nenner bringen. Womit er wieder auf die Vorstellung einer Gesellschaft zurückkam, die in Klassen mit unterschiedlichen Interessen aufgespalten wäre. Diese neue Strategie ging davon aus, dass die historische Chance des Jahres 2011 vorbei wäre: Die spanische Bevölkerung hätte sich an die Wirtschaftskrise gewöhnt, und nur eine neue Rezession würde ihre Wut erneut anfachen. Dann aber würde Podemos – als Träger der sozialen Bewegungen – den politischen Raum erobern, der heute von Izquierda Unida besetzt ist. Im Sinne dieser Strategie hat Podemos mehrere Kader der Vereinigten Linken und Mitglieder der Kommunistischen Jugend (in der auch Iglesias seine Karriere begonnen hat) aufgenommen, darunter Irene Montero, die heutige Fraktionsvorsitzende von Unidos Podemos.
Die klassenkämpferische Orientierung von Iglesias bedeutet einen Bruch mit der populistischen Linie, die Errejón vertritt. Der glaubt, dass ein Rückzug auf klassische linke Positionen Podemos nur schwächen könne, schon weil in der heutigen Gesellschaft die Klassenzugehörigkeit das Wahlverhalten viel weniger bestimme als früher. Deshalb hält er nichts von Grabenkämpfen, in denen es nur um die Verteidigung der ideologischen Reinheit geht.
Errejón glaubt zudem, dass Podemos landesweit nicht ausreichend verankert sei, um mit seinen aktiven Parteimitgliedern eine gesellschaftliche Basis aufzubauen. Er sucht die Auseinandersetzung eher auf dem Feld jener politischen Begriffe, um die sich die wichtigen Debatten drehen: um Begriffe wie Vaterland und geeintes Spanien, die von der Rechten monopolisiert wurden und von der Linken wegen ihrer ideologischen Wurzeln im Franquismus weithin abgelehnt werden. Für den Soziologen Jorge Moruno, Gründer von Podemos und Anhänger Errejóns, geht es darum, „eine andere Vision unseres Landes zu schaffen und zu verbreiten, eine andere Basis, auf der sich die Völker Spaniens begegnen können“.
Anders formuliert: Es geht um die multinationale Identität Spaniens. Errejón will ganz unterschiedliche Gruppen der Bevölkerung erreichen: den prekarisierten Teil der Mittelschicht, also Selbstständige und Freiberufler; aber auch die Befürworter einer neuen „liebenswürdigen“ Politik, die Iglesias mit seinen „groben“ Positionen abschreckt und die eher den liberalen Ciudadanos zuneigen. Und er wirbt um die enttäuschten Anhänger der PSOE, die nach wie vor von gering qualifizierten Arbeitnehmern und Arbeitslosen gewählt wird.
Allerdings befinden wir uns nicht mehr im Jahr 2014. Auf nationaler Ebene ist die populistische Welle abgeflaut. Das von der Bewegung 15-M ausgelöste Moment ist inzwischen teils passee, teils von der reaktionären Richtung vereinnahmt, wie der Erfolg der Vox bei den Regionalwahlen in Andalusien zeigt. Diese rechtsextremistische Partei kam im Dezember 2018 auf einen Stimmenanteil von 11 Prozent – mit einem Programm, das den Franquismus rehabilitieren und die „Genderideologie“ bekämpfen will.
Die populistischen Strategie der Podemos hat einen weiteren Schwachpunkt: die mangelnde soziale Verankerung. Errejón setzt vor allem auf Expertenanalysen und unterschätzt vermutlich die Rolle der sozialen Bewegungen. Im November 2014 wurde er von dem Journalisten Pablo Rivas gefragt: „Inwieweit können die sozialen Bewegungen Sie bei der Regierung unterstützen?“ Seine Antwort: „Ehrlich gesagt: sehr wenig. Denn sie sind in einer Kultur des Widerstands befangen, deshalb müssen sie sich nicht die Frage stellen, was zu tun ist.“6 Errejón sucht eher das Bündnis mit Unternehmern, die ebenfalls die „Wirtschaftsoligarchie“ kritisieren. Das wirft die Frage auf, wie weit sich die Partei auf solche Allianzen einlassen würde, wenn sie einmal an der Regierung wäre.
Bei den Regionalwahlen im Mai 2019 kandidiert Errejón in der Region Madrid. Aber nicht für Podemos, sondern für die neu gegründete Plattform Más Madrid. Auf derselben Liste steht auch die Madrider Bürgermeisterin Manuela Carmena, eine seit den 1970er Jahren engagierte ehemalige Richterin, die wieder für das Bürgermeisteramt kandidiert.
Die Katalonienfrage und der Aufstieg der Rechten
Errejón hat mit seiner Kandidatur für Más Madrid die Spaltung von Podemos offenkundig gemacht. Da er sich nicht mehr der Parteidisziplin unterwerfen wollte, hat er die vorerst letzte Runde der seit drei Jahren andauernden Flügelkämpfe eröffnet. Wobei Errejón ironischerweise Opfer jener pyramidenartigen Parteistruktur wurde, an deren Aufbau er maßgeblich mitgewirkt hat.
Die Spaltung ist jedoch nicht nur das Resultat innerparteilicher Richtungskämpfe, sie hat auch sehr viel mit spanischer Innenpolitik zu tun. Der Wahlerfolg der Vox verdankt sich unter anderem der Katalonienfrage. Wenige Tage nach der nicht verfassungskonformen Volksabstimmung über die Unabhängigkeit des Landesteils, die durch brutale Polizeieinsätze verhindert werden sollte, hielt König Felipe VI. eine Fernsehansprache. Indem er allein die katalanische Unabhängigkeitsbewegung für die innenpolitische Katastrophe verantwortlich machte, drängte er die Kräfte ins Abseits, die sich für das Referendum ausgesprochen hatten, darunter Podemos. Plötzlich hingen von den Balkonen in vielen Städten spanische Flaggen, die Ahnung einer konservativen Wende lag in der Luft.
Doch dann scheiterte die Regierung der Rechten an ihren Skandalen. Die PP steckt mitten in einer gigantischen Korruptionsaffäre. Im Juni 2018 musste Ministerpräsident Rajoy nach einem von PSOE-Generalsekretär Pedro Sánchez gestellten Misstrauensantrag zurücktreten. Der Antrag fand eine Mehrheit, weil er von den baskischen Nationalisten (PNV), diversen katalanischen Parteien und von Podemos unterstützt wurde.
Seitdem gab es eine sozialistische Minderheitsregierung, toleriert von Unidos Podemos. Sánchez fand jedoch keinen Konsens in der Katalonienfrage. Auch gegenüber den Umverteilungsforderungen von Podemos zeigte er sich zugeknöpft, erhöhte aber den Mindestlohn um 22 Prozent.
Bei Podemos bemühten sich jetzt die Iglesias- wie die Errejón-Fraktion, die vielfachen sozialen Themen und die nationale Frage der Katalonienkrise zu koppeln, während die Konservativen (PP, Ciudadanos und Vox) beides auseinanderhalten wollten.
Die Alternative ist klar: Die klassenpolitische Strategie betont die gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse in ganz Spanien. Dagegen propagiert die populistische Strategie die Identität von Volk, Staat und Nation. Das aber könnte zu einer Revision des Verfassungskonsenses von 1978 führen, der immerhin – gegen die Opposition der damaligen Konservativen – die sozialen Rechte der Bevölkerung anerkannt hat und die Rückverlagerung wichtiger Machtkompetenzen der autonomen Regionen an den Zentralstaat verhindert.
Seit es Podemos gibt, hat sich nicht nur Spanien verändert, sondern auch die Welt insgesamt. Das ließ die Partei nicht unberührt, wie der Fall Venezuela zeigt. Aber noch folgenreicher war der Ausgang des Konflikts zwischen Brüssel und Athen im Sommer 2015. Die Kapitulation der Tsipras-Regierung vor den Forderungen seiner EU-„Partner“ war eine Warnung auch an Spanien: Damit schwand die Vision eines gemeinsamen südeuropäischen Widerstands gegen den Neoliberalismus dahin.
Auch das Aufkommen reaktionärer Kräfte in Osteuropa und in den USA ermutigte die spanischen Rechtsextremisten, die zuvor kaum sichtbar gewesen waren. Das äußerte sich in der Gründung von Vox und der Radikalisierung rechter Kräfte der PP und der Ciudadanos. Damit schwanden die politischen Spielräume für Podemos und für einen erneuten Anlauf zu einem grundlegenden politischen Wandel.
Seit 2015 sitzen die Partei und ihr nahestehende Gruppierungen in den Stadtregierungen von Madrid, Barcelona, Valencia, Cádiz, La Coruña und Saragossa.7 Das ist eine zweischneidige Angelegenheit: Einerseits können ihre Vertreter auf dieser Ebene wichtige Erfahrungen sammeln; andererseits kann es dazu führen, dass Podemos wie die anderen Parteien wird. Wer im Rathaus regiert, hat zwar Einfluss, aber der reicht nicht aus, die Privilegien der lokalen Eliten zu beschneiden.
Die politischen Kräfte links von der PSOE, also Podemos, Izquierda Unida, En Comú Podem in Katalonien (ein Bündnis aus Podemos und anderen Organisationen) und Más Madrid, haben noch großen Rückhalt in der Bevölkerung. Die Parlamentswahlen am 28. April und die Europa-, Regional- und Kommunalwahlen am 26. Mai werden über die Zukunft von Podemos entscheiden, also darüber, ob die Forderungen der Empörten von 2011 auf mittlere Sicht umgesetzt werden können.
2 Diese politische Konzeption wurde vor allem von Ernest Laclau und Chantal Mouffe entwickelt.
4 Inzwischen Unidas Podemos mit weiblicher Endung.
5 Pablo Iglesias, „Un nuevo compromiso histórico“, El País, Madrid, 9. Dezember 2015.
7 Siehe Pauline Perrenot und Vladimir Slonska-Malvaud, „Aufbruch von unten“, LMd, Februar 2017.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
José António García Simon ist Schriftsteller, Jaime Vindel Professor an der Universidad Complutense de Madrid.
Streik der Frauen
Die aktivste soziale Bewegung im heutigen Spanien ist feministisch: Inspiriert von der argentinischen Protestbewegung Ni una menos („Nicht eine weniger“), ruft die autonome Frauenbewegung seit vier Jahren am 8. März zu Streiks auf. Die Zahl der Teilnehmenden steigt kontinuierlich, auch in diesem Jahr gingen Millionen im ganzen Land auf die Straße.
Bestreikt wurde nicht nur entlohnte Arbeit, sondern auch die unbezahlte Tätigkeit in Pflege, Betreuung und Haushalt – symbolisiert durch die aus den Fenstern gehängten Schürzen. Das Kollektiv Territorio Doméstico („Kampfzone Haushalt“) organisierte eine „Modenschau der Prekären“, um mit viel Glitter mehr Rechte für die – oft illegalen – Hausangestellten zu fordern. Schulen und Universitäten wurden ebenso bestreikt wie der Warenkonsum, Letzterer unter Verweis auf die ungerechte Mehrwertsteuer (etwa auf Hygieneartikel für Frauen).
Auf den Abschlusskundgebungen dominierte die Farbe Lila. Seniorinnen forderten eine gerechte Rente, Familien mit Kindern trugen selbst gemalte Plakate, Studierende und Schülerinnen kämpften für eine „Abtreibung ohne Papas Zustimmung“. „Das ist unser Kampf, es geht um unsere Gesellschaft“, sagte ein 30-Jähriger. Ein anderer erzählte: „Selbst meine Mutter, die noch nie auf einer Demo war, hat mit Frauen aus ihrem Viertel die Straße blockiert.“
Tatsächlich mobilisiert die spanische Frauenbewegung, die auf Distanz zum Staat Wert legt, viele „Politikverdrossene“ für einen neuen Gesellschaftsentwurf, der auf Gleichberechtigung für Menschen jeglicher Herkunft und sexuellen Orientierung beruht. Nach zähem Ringen gelang es den Frauen, auch die Gewerkschaften zu gewinnen: 2019 waren es bereits sechs Verbände, die zur Arbeitsniederlegung aufriefen.
Vor allem junge Frauen engagieren sich seit ein paar Jahren in der Frauenbewegung, sagt die Soziologin Haizea Miguela Álvarez. Der Hauptgrund sei die anhaltend schlechte Zukunftsperspektive für junge Menschen. Seit Beginn der Wirtschaftskrise wohnen viele bei ihren Eltern und leben von schlecht bezahlten Jobs. „Jetzt sagen sie: Das ist mein Leben, und ich werde mir meine Rechte nehmen.“⇥Sabine Jainski